Kann das weg?
An wissenschaftlich Haltbarem haben die Gender Studies bisher kaum etwas hervorgebracht. Wollen sie als Disziplin ernst genommen werden, müssen sie sich von innen reformieren. Eine Streitschrift.
Kardinal Wim Eijk hat beim «Römischen Lebensforum 2019» scharf gegen die sogenannte «Genderideologie» geschossen, die er als Bedrohung für die Familie und als Erbschaft des radikalen Feminismus bezeichnet hat. Simone de Beauvoirs weltberühmtes Diktum, dass man nicht als Frau geboren, sondern zu einer solchen erst werde, hat Eijk zufolge die «Ehegattin», die er als «Instrument für die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft» sieht, als gesellschaftliche Rolle bestimmt. Derweil haben über hundert Sozialwissenschafterinnen und Aktivisten und Initiativen kurz zuvor, im März 2019, eine Petition gegen die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes gerichtet, welche für ein Gesetz plädiert, das die sittsame Verhüllung moslemischer Mädchen untersagen soll. «Die Forderung nach einem Kopftuchverbot für Minderjährige stellt einen starken Eingriff in die Selbstbestimmung junger Menschen dar», behaupten die angeblich geschlechtersensiblen Unterzeichnerinnen des Gegenaufrufs.1 Eine der bekanntesten von ihnen, die Soziologin Sabine Hark, mahnt an anderer Stelle, ein Verlust der Gender Studies – den beispielsweise Kardinal Eijk herbeisehnt – nähme Gesellschaften eine wichtige Wissensquelle, «die sie für ihre Entwicklung und die Gestaltung eines guten, von Zwang und Gewalt freien Lebens für alle dringend brauchen».2 Dass diese Aussage in einem groben Widerspruch zur Zwangsverschleierung Minderjähriger steht, erkennt sie dabei ebenso wenig, wie der niederländische Kleriker den Stand des gendertheoretisch geschulten Bewusstseins im 21. Jahrhundert zu begreifen vermag, der tatsächlich weder familienfeindlich noch feministisch ist.
Dies zeigt, dass der Konflikt um die Legitimität und den Zweck der Gender Studies eine Dimension erreicht hat, die innerakademische Auseinandersetzungen überschritten und ihn zu einer Glaubensfrage von gesellschaftspolitischer Reichweite anwachsen liess. Kein anderes Hochschulfach wird derzeit aus zwei opponierenden Lagern mit solcher Aufmerksamkeit bedacht: Die einen wähnen geistig Militante am Werk, die qua Wissenschaft an den Grundfesten des Zusammenlebens rütteln und begrifflich eine Umstrukturierung von Staat und Gesellschaft einleiten, um die Mehrheit zu massregeln und ihr Minderheitenpositionen aufzuzwingen. Die Gemeinten hingegen sehen sich indes als akademische Statthalterinnen von Weltoffenheit und Toleranz, die unrechtmässig von einem «Antigenderismus» verfolgt würden, der zu einem naturalistischen Verständnis von Geschlecht zurückwolle, inklusive entsprechender Rollenverteilung.
Die Wahrheit liegt weder bei einer dieser Parteien noch irgendwo dazwischen. Bei beiden handelt es sich um Verfallserscheinungen westlicher Gesellschaften. Ihre jeweiligen Protagonisten haben Mühe, sich in der politischen Fragilität des 21. Jahrhunderts zurechtzufinden und Antworten auf die dringenden Fragen der Zeit zu formulieren. Zugleich sind sie von der Freiheit, die ihnen das heutige Leben trotz aller Konflikte, Umbrüche und Unsicherheiten paradoxerweise bietet, unverkennbar überfordert. In ihren wechselseitigen Projektionen tritt somit etwas zutage, das Auskunft über einen allgemeinen Verlust an Vorstellungen gibt, was an der Gegenwart nicht nur erhaltenswert, sondern aktiv zu verteidigen wäre, wie eine bessere Welt aussehen könnte und welchen Beitrag Wissenschaft dazu zu leisten hat. Die einen verklären für ihr Selbstverständnis Homogenität, die anderen Pluralität. Bei den einen ist es der gefühlte Verlust der eigenen Souveränität, welcher sündenbockartig der Liberalisierung von Geschlecht und Sexualität angelastet wird. Dabei wird jenes Uni-Fach haftbar gemacht, das ohne diese Liberalisierung gar nicht existieren würde – obwohl die Gender Studies oftmals selbst in vielerlei Hinsicht hinter Erkämpftes zurückfallen. Denn auch ihnen ist die Idee eines besseren Zusammenlebens abhandengekommen. Sie hängen mit «Vielfalt» einem redundanten Ideologem an, das Diversität um der Diversität willen feiern will, obwohl diese – trotz bestehender Schwierigkeiten und Probleme sowie politischen Nachholbedarfs in einigen Arealen – längst Realität ist. Dass dabei ausgerechnet das islamische Kopftuch zum Symbol einer «vielfältigen» Gesellschaft aufgestiegen ist, verrät nicht nur die Tendenz zum Autoritären, das in diesem Milieu vorherrscht, sondern auch seine Einfallslosigkeit und seine rassistischen Projektionen, in denen das «Fremde» zur Rettung der dürftigen eigenen akademischen Arbeit herangezogen wird. Dass sich somit das eine wie das andere Lager nicht für das Individuum interessiert, ist kein Zufall. Beide denken in Gemeinschaften und ringen folglich um die Deutungshoheit über solche. Genauer noch: Dass sich manche Gender-Studies-Postulate bezüglich sogenannter «Ethnizität» von stramm rechten Vorstellungen, welche sich die Welt nur als Koexistenz homogener Gemeinschaften vorstellen können, kaum unterscheiden, fällt den opponierenden Fraktionen in ihrer aufeinander verweisenden Dynamik nicht einmal auf. Beide haben keinen Begriff davon, was es heisst, frei zu sein, und beide hängen genau deswegen an Kollektiven, an die sie ihre jeweiligen Heilserwartungen binden.
«Die Geschlechterforschung muss sich vom Gender-Paradigma und von Judith Butler emanzipieren.»
Die Gender Studies sind ein in den 1990er Jahren institutionalisiertes Studienfach, das teils aus der akademischen Frauenforschung hervorgegangen ist und von Anfang an beansprucht hatte, über diese hinauszuweisen. Es ging dabei anfangs vor allem darum zu zeigen, dass dem Geschlecht eine wesentliche gesellschaftsstiftende Funktion zukommt und es eine analytische Grösse ist, mit der sich arbeiten lässt. Der sinnstiftende Gedanke wird seither im Namen geführt: «Gender» meint im Unterschied zu «Sex» eben nicht Geschlecht in dem Sinne, wie ihn die deutsche Sprache als Genitales evoziert, sondern vor allem den Ausdruck von Geschlechtsidentität, d.h. insbesondere Repräsentationsformen. Damit ist unweigerlich eine analytische Gewichtung vorgegeben, die Darstellungen und Bildlichkeiten als gleichwertig, wenn nicht gar als relevanter als Materielles auffasst. Die Verfechterinnen dieser Lehre verwahren sich aus diesem Grund auch gegen die Idee, «Sex Studies» nachzugehen, und bestehen darauf, dass das biologische Geschlecht nur als kulturell vermitteltes fassbar sei. Die Vordenkerin und wichtigste Figur dieser Schule ist Judith Butler – Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Berkeley und aktive Antizionistin –, um die sich seit den 1990er Jahren ein regelrechter geistes- und sozialwissenschaftlicher Kult entwickelt hat.
Mit jenen Gegnern der Gender Studies wiederum, die mittlerweile als «Antigenderismus»-Bewegung rubriziert werden, sind vornehmlich Kreise gemeint, die im sogenannten «Rechtspopulismus» heimisch sind. Sie geben der Kleinfamilie und der Heterosexualität einen unmissverständlichen Vorzug vor anderen Lebensweisen und Formen des Verlangens, sind in der Regel gegen Abtreibung und christlich rückversichert. Dass sie sich mit ihrem Gegner ein Universitätsfach ausgesucht haben, gibt zum einen Auskunft darüber, was ihre Vorstellung von Ideologie ist – eine angeblich «von oben» verordnete oder gar von devianten Minderheiten aufgezwungene Umerziehung –, zum anderen soll hierüber stellvertretend mit den gesellschaftspolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte abgerechnet werden.
Beide Seiten operieren dabei mit Übertreibungen, die zum Grotesken und zum Paranoiden neigen. Die einen, indem sie nichts weniger als einen «Kulturmarxismus» herbeihalluzinieren, der nach Weltherrschaft strebe. Die anderen, indem sie autoritäre Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit – aktuell etwa in Ungarn zu beobachten – nicht als lokales Erbe totalitärer Herrschaft begreifen, sondern im Dienste der eigenen Opferstilisierung verkennen, wie es historisch zu jenen Unterschieden kam, an deren Ende die Verbannung eines Studienfachs steht – was in etwa mit dem flachen theoretischen Anspruch korrespondiert, demzufolge die schlüpfrige Bemerkung am Bartresen genauso viel Aufmerksamkeit verdiene wie physische Übergriffe. Zum Unvermögen, diese Entwicklung objektiv zu begreifen, zählt auch der Umstand, dass die relative Autonomie der eigenen Forschung an westlichen Universitäten, die Gender-Studies-Programme unterhalten, diese häufig von der Realität abgeschnitten hat. Am Beispiel der Reaktionen auf besagten «Antigenderismus» lässt sich deshalb gut beobachten, wie ein akademisches Paralleluniversum, das seine Analysen lange für besonders avanciert wähnte, auf einmal bemerkt, wo es tatsächlich lebt – in Gesellschaften nämlich, in denen die eigene Theoriebildung abseits des Campus bisweilen geradezu bedeutungslos ist. Hinzu kommt, dass weite Teile einer an sich gar nicht feindlich gestimmten Öffentlichkeit in Ländern, in denen Hochschulen mit öffentlichen Geldern finanziert werden, darüber informiert werden möchten, was es mit Begriffen wie «gender», «queer», «diversity» usw. auf sich hat, die schliesslich immer weitere Bereiche besagter Öffentlichkeit und des politischen Lebens prägen. Statt der Kritik durch Spitzenforschung den Motor zu nehmen, verstricken sich Genderforscherinnen jedoch in Rangeleien und widmen sich mit einer Emphase dem Kampf gegen «rechts», als stünde ein Viertes Reich bevor.
«Es waren Gender-Studies-Institutionen, die Publikationen vorgelegt haben, in denen Genitalverstümmelungen gerechtfertigt worden sind.»
Ihre Opponenten – von denen übrigens bezeichnenderweise einzig diejenigen wahrgenommen werden, die politisch rechts stehen (oder sogleich als «rechts» diffamiert werden) – schwelgen derweil ebenfalls in beharrlichen Klischees. Sie skandalisieren nicht etwa die postmoderne Rassenkunde oder den Antizionismus, der in diesen Kreisen zu den einzigen leicht zu identifizierenden, länderübergreifend zu beobachtenden Einstellungen zählt, sondern fantasieren radikales emanzipatorisches Gedankengut genau dort, wo dieses mit Abwesenheit glänzt. Zu den persistenten populistischen Vorurteilen zählt etwa die Annahme, dass das ominöse «Gender» irgendetwas mit Feminismus zu tun habe. Das Gegenteil ist der Fall. Nirgendwo sonst ist es in den letzten Jahren möglich gewesen, mit wissenschaftlichem Rückhalt so ungeniert der eigenen Frauenverachtung freien Lauf lassen zu können wie hier. Und nirgendwo sonst konnten rassistische Anmassungen so schamlos ausgelebt werden wie in den Gender Studies – ein Punkt, der besagte «Antigenderismus»-Fraktion deshalb kalt lässt, weil sich in ihr unter umgekehrten Vorzeichen selbst dumpfe Vorbehalte sammeln. Es waren Gender-Studies-Institutionen, die Publikationen vorgelegt haben, in denen Genitalverstümmelungen gerechtfertigt worden sind.3 Einschlägige Konferenzen haben antisemitisches Gedankengut akademisch veredelt, indem Rednerinnen, die eher für antizionistischen Aktivismus und Verschwörungstheorien denn für solide Forschung bekannt sind, eine Bühne gewährt wurde; zudem ist bis heute nicht eine einzige Gender-Studies-Schrift auf Distanz zur Vordenkerin dieser Entwicklung, Judith Butler, gegangen, die selbst durch rassistische Äusserungen bezüglich afghanischer Frauen aufgefallen ist, denen sie einmal statt körperlicher Unversehrtheit das Aufgehen in patriarchalen Familienstrukturen nahegelegt und obendrein noch die Burka als «Übung in Bescheidenheit und Stolz»4 anempfohlen hat. Auch weniger prominente Akademikerinnen dieses Fachbereichs haben repressivste Formen von Vollverschleierung schöngeredet oder Lobenswertes an «arrangierten Ehen» entdeckt – stets unter der rassistischen Prämisse, dass die eigenen Genitalien unversehrt bleiben, niemand die eigene Tochter wegverheiratet und auch über die Kopfbedeckung selbst entschieden wird, während anderen nahegelegt worden ist, mit jener Kultur identisch zu bleiben, in die sie hineingeboren worden sind oder der ihre Vorfahren angehörten. Die Verschiebung weg von einem biologisch begründeten Rassismus, wie ihn beispielsweise die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts vertreten hatte, hin zu einem, der in der Gegenwart unversöhnliche Unterschiede zwischen «Kulturen» geltend macht – ein historischer Wandel, auf den in diesen Kreisen ansonsten mit besonderer Verve hingewiesen wird –, wird somit in Reinform von genau diesem Milieu vertreten. All dies rechtfertigt es, die Gender Studies als zeitgemässe Variante eines Antifeminismus von links zu bezeichnen.
«Weshalb sollte man angeregt mit politisch dubiosen Professorinnen für Vergleichende Literaturwissenschaft diskutieren, die Terrorbanden wie Hamas und Hisbollah «deskriptiv» zur «globalen Linken» zählen?»
An den Erwiderungen aus den Gender Studies auf politische Beanstandungen lässt sich ablesen, wie sich diese vor Kritik immunisieren. Tatsächlich ermöglicht es die viktimisierende Rede von «Angriffen», vom «Bashing» und vom «Toxischen», valide Einwände gleich mit abzuwenden. Wer so spricht, hat in der Regel kein Argument vorzuweisen und gedenkt auch nicht, der Voraussetzung für Wissenschaft nachzukommen: abzuwägen, zu diskutieren und sich selbst in einer Weise herausfordern zu lassen, die mitunter zu einer Revision bisheriger Annahmen führen könnte. Solch gekränkten Trotzreaktionen fällt auch das Beharren zu, man solle – wenn schon – einzig «solidarische» Kritik üben. Doch weshalb sollte man Verbundenheit signalisieren, wenn es um hemmungslos frauenverachtende, pseudowissenschaftliche und rassistische Ratschläge geht wie jenen, man möge statt von Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation) lieber kultursensibel von Genitalschnitzerei (Female Genital Cutting) sprechen, weil nicht etwa der barbarische Akt bekämpfenswert, sondern das Sprechen darüber anmassend sei? Weshalb sollte man angeregt mit politisch dubiosen Professorinnen für Vergleichende Literaturwissenschaft diskutieren, die Terrorbanden wie Hamas und Hisbollah «deskriptiv» zur «globalen Linken» zählen?5 Und warum sollte man sich offen gegenüber «Bündnissen» zeigen, die auf die Abschaffung des jüdischen Staates hinarbeiten, den Zufluchtsort für weltweit von Antisemitismus Bedrohte, der seit seiner Gründung 1948 mit zahlreichen Kriegen und Anschlägen überzogen wurde? All dies und noch vieles Absonderliches mehr ist in zahlreichen Gender-Studies-Kursen und Queer-Theory-Pflichtlektüren vertreten und auf einschlägigen Tagungen propagiert worden. Es handelt sich keineswegs um den extremen oder politisierten Rand einer gut gemeinten Idee, sondern um Phänomene, die aus dem Kern einer Lehre sprudeln, die Geschlecht primär für eine von Menschen gemachte und sprachlich vermittelte «Struktur» hält, die mal dieses oder jenes sein kann und die sich bestens in das unterkomplexe Weltbild des Antiimperialismus fügt. Entscheidend ist nicht, dass dieses hier solch eine prominente und akademische Renaissance erfährt – entscheidend ist einzig, dass die Mehrheit dem bislang nicht widersprochen hat und Kolleginnen noch dann gewähren liess, als diese bereits gegen das Recht auf Selbstbestimmung anderer Menschen anschrieben. Es gibt angesichts dieser Entwicklung keinen Grund, sich kulant zu zeigen. Personen, die die körperliche Unversehrtheit und die freie, unbeschwerte Entwicklung anderer zur Disposition stellen und dies mit Hinweis auf deren «Kultur» rechtfertigen, sind ordinäre Rassistinnen und wie solche zu behandeln. Dass die entsprechenden Akademikerinnen zudem ihrer eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit, der Erforschung von Rassismus, nicht nachkommen, während sie mit dem schrill und rasch von sich geschleuderten Adjektiv «rassistisch!» alles Mögliche abzuwerten versuchen, hat gerade im Falle Deutschlands einen geradezu hämischen Beigeschmack.
Auch der Katastrophismus, der die Rede von der Bedrohlichkeit der «Antigenderismus»-Fraktion begleitet, zeugt von grandioser Selbstüberschätzung. Niemand hat Angst vor den Gender Studies. Es war ein erhebliches Versäumnis dieses akademischen Areals, dass es sich nie darum bemühte, Studien abzufassen, die für Liberale und Konservative eine wirkliche Herausforderung gewesen wären. Gäbe es in diesem Fach beeindruckende Erkenntnisse, würden seine wissenschaftlichen Leistungen heute unverkennbar für sich sprechen, wie die Psychologin und «Beissreflexe»-Autorin Caroline Sosat 2017 in der NZZ kritisch angemerkt hat.6 Anfechtungen sind zudem lange noch nicht gleichbedeutend mit Destruktion. Die Sexualwissenschaft und die Psychoanalyse haben weitaus existenziellere Anfeindungen und Schlimmeres überstanden als das, womit die Geschlechterforschung heute konfrontiert ist: Verbote, Bücherverbrennungen, Vertreibungen und Verfolgungen ihrer Forscher. Das weitaus jüngere Studienfach steht schon deshalb nicht in dieser Tradition, weil es von Anfang an Teil staatlichen Denkens war, das folglich über Institutionen des Staates vermittelt worden ist und zu diesem zurückgeführt wird. Gegen die bestehenden Anfeindungen von rechts, die am liebsten jedwede Beschäftigung mit Geschlecht und Sexualität aus den Universitäten verbannt sähen, hilft deshalb nur, entsprechende Forschungssujets in Geschichte, Soziologie, Literatur- und Politikwissenschaft hervorzuheben, um zu zeigen, dass die Kenntnis hiervon tatsächlich ein besseres Gesellschaftsverständnis erlaubt. Hierüber würde allerdings eine offene Konkurrenz zu den Gender Studies entstehen. Es bleibt jedoch kaum eine Alternative zu diesem Dilemma.
«Nirgendwo sonst ist es in den letzten Jahren möglich gewesen, mit wissenschaftlichem Rückhalt so ungeniert der eigenen Frauenverachtung freien Lauf lassen zu können wie in den Gender Studies.»
Will die Geschlechterforschung wissenschaftlich bestehen bleiben, muss sie sich vom Gender-Paradigma und von Judith Butler emanzipieren. Die Konzentration auf Repräsentation und Performanz ist ein Relikt aus den 1990er Jahren, und «Intersektionalität» – das Reden über sogenannte «Mehrfachdiskriminierung» also – ist nur schwerlich eine gewichtige Weiterentwicklung zu nennen. Das Fach müsste sich von überholten Lehrinhalten trennen, wie sie im Zuge jeder anderen curricularen Reform auch verabschiedet werden. Studierende müssen zudem absolut Gegenläufiges und Konträres hören, um hierüber eine eigene Urteilskraft auszubilden. In diesem Fall würde dies zum einen bedeuten, sich profund mit Denktraditionen auseinanderzusetzen, die sich in ihrem Vorgehen und in ihrer Analyse fundamental unterscheiden, die sich also wirklich konfliktuös zueinander verhalten, statt sich in dürftigen scheinintellektuellen Konflikten poststrukturalistischer Tradition wie etwa zwischen Butlerianern und Deleuzianern zu verirren. Zum anderen würde dies bedeuten, dass im Bachelorstudium eine Reihe an Pflichtkursen in Biologie, Medizin und Anthropologie absolviert werden müssten – was den Anspruch, «interdisziplinär» zu arbeiten, genuin erfüllen würde und der kulturrelativistischen Tendenz, die in der grotesk überbewerteten Theorieachse Foucault/Butler und ihren sprachmagischen Vorstellungen gründet, von selbst entgegenwirken würde. Es mutet heute bereits wie eine Skurrilität des späten 20. Jahrhunderts an, dass in den 1990er Jahren ein historischer Moment erreicht war, in dem Personen, die weder über Kenntnisse in Anatomie, Hormonfunktion und Reproduktion verfügten noch in der klinischen Praxis der Sexualwissenschaft und der Psychoanalyse geschult waren, die Bezeichnung «Geschlechterforschung» für sich reklamieren konnten.
Auch angesichts der Herausforderungen der Gegenwart gibt es akuten universitären Reformbedarf. Neue, massenbewegte Formen von Terrorismus waren in den letzten Jahrzehnten für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, von denen viele primär geschlechterpolitischer Art waren, die juristisch aufgearbeitet und psychologisch wie politisch erklärt werden müssen. Hochtechnologische Neuerungen, die den Körper wesentlich modifizieren, bisweilen – siehe Reproduktionstechnologie – gar hinter sich lassen, stehen im starken Kontrast zur gendertheoretischen Überbetonung der Geschlechtsidentität und erfordern ein spezialisiertes Wissen, das zu mehr als zu blosser Kommentarkultur befähigt. Die in fast allen Gender-Studies-Studiengängen übliche einführende Ringvorlesung, in der verschiedene Fächer über das jeweilige analytische Verständnis von «Geschlecht» informieren, ist angesichts dieser rasanten Entwicklungen in vielerlei Hinsicht anachronistisch. Angesichts solch immenser Herausforderungen wäre mittlerweile beispielsweise anzudenken, zunächst die Rolle von «Geschlecht» in den verschiedenen Staatssystemen der Welt vorzustellen und diese jeweils historisch, politisch und kulturell aufzurollen – und, untrennbar damit verbunden, in darauf aufbauenden Kursen eine gründliche Auseinandersetzung mit den grössten Religionen und deren etwaiger Verzahnung mit lokaler Rechtsprechung vorzunehmen. Schon dies würde qualitative Unterschiede hervortreten lassen, die zwischen Bern und Bagdad existieren, und die historischen Gründe für diese Differenzen aufzeigen. Antiwestlichem Ressentiment würde dies genauso entgegenwirken wie populäratheistischen Positionen, für die alle Religionen lediglich Variationen einer einzigen, repressiven Herrschaftsweise wären. Zudem würde es der rassistischen Rede von den angeblichen Wesenszügen dieser oder jener «Kultur» deren geschichtliche Gewordenheit entgegenhalten. Solche Revisionen würden junge Menschen weitaus besser auf das 21. Jahrhundert vorbereiten, als es bei einem heutigen Gender-Studies-Abschluss der Fall ist. Das Resultat wäre zudem ein für sich selbst sprechendes wissenschaftliches Plädoyer, das ganz ohne den drögen Diskursjargon auskäme, der heute Hochkomplexes vortäuscht, aber nie mit wegweisenden Studien dort vor Ort ist, wo Grundlagenforschung gefragt ist. Und dies wäre die weitaus elegantere Weise, auf den Stumpfsinn und mentalen Provinzialismus zu reagieren, der von Kleingeistern politisch ins Feld geführt wird, um jedweder Beschäftigung mit Geschlecht und Sexualität den Garaus zu machen.
Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik: Nein zu einem Kopftuchverbot für Minderjährige! – Eine migrationspädagogische Stellungnahme. http://www.rassismuskritik-bw.de/nein-zum-kopftuchverbot/ ↩
Rogate-Kloster Sankt Michael zu Berlin: Fünf Fragen an: Prof. Dr. Sabine Hark, Technische Universität Berlin. https://rogatekloster.wordpress.com/2018/10/23/fuenf-fragen-an-prof-dr-sabine_hark-tuberlin-genderstudies-hungary/ ↩
Marco Ebert und Judith Sevinç Basad haben dies am Beispiel des Berliner
Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG) dargelegt, das diesbezüglich negativ aufgefallen ist. Vgl. Marco Ebert: Die «Identifikation mit dem Leiden». Zur Apologie der Gewalt in Judith Butlers Agitation nach dem 11. September 2001. In: Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik. Hrsg. von Vojin Saša Vukadinović. Berlin: Querverlag, 2018, S. 170 f.; sowie Judith Sevinç Basad: Queere Salafistinnen. «Rassismussensible» Apologetinnen des Radikal-Islams. In: ebd., S. 267. ↩Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main:
Suhrkamp-Verlag, 2005, S. 168. ↩Kritisch dazu Ljiljana Radonić: Judith Butlers antizionistische Radikalisierung und deren post-nationalsozialistische Rezeption. In: Freiheit ist keine Metapher. ↩
Vgl. Caroline A. Sosat: Grüsse von der Gender-Front. In: NZZ, 10.11.2017. ↩