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Kampf um die Meinungsfreiheit

Allerdings am falschen Ort.

Satire und Karikatur waren schon lange vor der Erfindung des Buch- beziehungsweise Zeitungsdrucks die populärsten Waffen im Kampf gegen Feinde aller Art: gegen Unterdrücker, Heuchler und politische Konkurrenten. Sie sind und waren selten gediegen, dafür immer emotional und oft plump, vulgär und obszön. Sie suchen ihre Zielscheiben in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken, diese nach Kräften herabzuwürdigen. Im breiten Spektrum des Kampfs der Meinungen stehen die beiden so ähnlichen Formen daher nicht auf der höchsten, sondern auf eher tiefer Qualitätsstufe. Höher geschätzt wird allgemein die argumentative Begründung eines kohärenten Standpunkts in gediegener Sprache und Form. Die hat auch den Vorteil, seltener zu wüsten Auseinandersetzungen zu führen.

Gerade deshalb aber waren Satire und Karikatur stets die vielleicht wichtigsten Indikatoren für den Grad der Meinungsäusserungsfreiheit in einer Gesellschaft. Sind sie es heute noch, in einer Zeit der garantierten Meinungs- und Medienfreiheit in den meisten modernen Verfassungen? Oder schiessen die scharfen Geschütze heute mangels wirklicher Gegner auf beliebige religiöse und moralische Werte mit dem einzigen Ziel, jene Gruppen zu provozieren, die derlei Werte noch hochhalten? Sind die Waffen noch legitim, wenn sie allein der Provokation, der Sensationsmache, der Absatzförderung dienen? Ist, mit anderen Worten, wirklich jeder Kampf ein legitimer Kampf? Alles Fragen, die mit dem Hochhalten des Schilds mit der Aufschrift «Je suis Charlie» nicht beantwortet werden.

 

«Und fluchend steht das Volk vor seinen Bildern»

Blicken wir zurück: Das Bild, die Karikatur war stets das unmittelbarste Mittel, um die Gemüter der Betrachter in Wallung zu bringen. Der Maler William Hogarth (1697–1764) zeichnete in seinen «Modern Moral Subjects» ganze Bilderbogen voller satirischer Seitenhiebe auf die Gesellschaft seiner Zeit – und beeinflusste damit auch das kontinentaleuropäische kritische Denken. Ein Jahrhundert später karikierte Honoré Daumier die Pariser Gesellschaft noch viel schonungsloser. Mit ihrer gezeichneten Gesellschaftskritik kämpften die beiden für eine freiere, offenere Gesellschaft. Wir sind heute gerne Hogarth oder Daumier. 

Auch in der Schweiz des 19. Jahrhunderts hatte die Karikatur einen bedeutenden Anteil am erfolgreichen Kampf für den entstehenden Bundesstaat – neben den politischen Streitgedichten Gottfried Kellers oder Freiligraths. Eine beispielhafte Figur in diesem Kampf war der Solothurner Martin Disteli (1802–1844). Als Maler und Karikaturist, aber auch als Soldat (er brachte es bis zum Freischaren-Obersten) und Politiker lebte er nach der Devise «Leben heisst Krieg führen». Als glühender Parteigänger der liberalen Sache nahm er Jesuiten, Aristokraten, Luzerner Konservative, Pfaffen und Spiesser aller Art zeichnerisch aufs Korn – besonders gerne in der Form von Tierdarstellungen. «Er war ein Arzt, der die Schäden seiner Zeit mit dem Glüheisen heilte», urteilte ein Zeitgenosse.

Der «Disteli-Kalender» mit Hunderten von Karikaturen und Spottgedichten war in den stürmischen Jahren von 1839–1844 ein wahres «Sturmgeschütz der Demokratie», wie man ein Jahrhundert später zu formulieren pflegte. Eine republikanisch-liberale Propagandawaffe gegen den sich formierenden Sonderbund. Der Kalender erreichte sensationelle Auflagen von zeitweilig über 20 000 Exemplaren. Mit den Behörden der konservativen Hochburg Luzern, wo der Kalender selbstverständlich verboten war, lag Disteli im politischen und juristischen Dauerclinch. Mit seinem kompromisslosen Kampf trug er entscheidend zum Aufbau eines freisinnigen Bundesstaates bei. Dafür muss ihm das Land dankbar sein, und daher sind wir auch heute noch gerne Disteli.

 

Schattenseiten

Doch der fanatische Aktivist blieb sogar seinen eigenen Parteifreunden unheimlich. Nicht nur, weil er ohne Rücksicht auf Parteidisziplin auch Spiesser und laue Liberale in den eigenen Reihen blosszustellen pflegte. Er war ein «peintre maudit», ein antiautoritärer Bohémien, über dessen ungepflegte Erscheinung und alkoholische Ausdünstungen man die Nase rümpfte. Verbittert über die Verwässerung seiner Ideale durch die politische Realität starb er früh – «ein genialer Künstler, der in furchtbarem Wahn, als sei sie eine Sklaverei, die Ordnung hasste und zur Strafe durch die Unordnung verzehrt ward», wie Pfarrer Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf schrieb, der von göttlicher und gottgegebener irdischer Autorität bekanntlich mehr hielt als die radikalen Heiss-sporne seiner Zeit.

 

Gottfried Keller schrieb im Gedicht über den zu früh verstorbenen Mitstreiter:

Sie haben Ruh, die Kutten braun und schwarz,

Die Fledermäuse, Raben-, Eulenköpfe,

Spiessbürger alle, mit und ohne Zöpfe,

Und was da klebt im zähen Pech und Harz!

Und zum Schluss:

Nun warf er hin den Stift,

nahm Stock und Hut,

Und fluchend steht das Volk

vor seinen Bildern.

 

Der Leichenzug von Solothurn nach Olten wurde zur politischen Grossdemonstration von Volk und Prominenz, die an ähnliche politische Grosskundgebungen der jüngsten Gegenwart erinnert. Nur dass noch keiner der Trauernden ein Schild «Je suis Disteli» hochhielt…

 

Wie viel Freiheit für die Feinde der Freiheit?

So weit sind wir uns wohl alle einig: Die geschilderten Beispiele des Kampfes für mehr soziale Gerechtigkeit und Demokratie haben unsere uneingeschränkte Sympathie. Umso mehr, je stärker der Widerstand war, der sich den Kämpfern mit Zeichenstift und Feder entgegenstellte. Wie aber steht es mit der reaktionären Gegenpropaganda, der Propaganda der Nationalsozialisten bis hin zu Julius Streichers «Stürmer» oder der gekonnten zeichnerischen Agitation im Sowjetkommunismus? Wie, um ein Beispiel aus der gemässigteren helvetischen Gegenwart zu nehmen, mit den – manchmal nicht unwitzig umgesetzten – Zeichnungen gewisser SVP-Initiativen? Dürfen die auch, was ihre Gegner dürfen? Nämlich «alles», wie es im schon fast zu Tode zitierten Diktum Tucholskys über die Satire heisst?

Mit anderen Worten: Darf man der Satire und der Karikatur auf der einen Seite treuherzig zugestehen, sie dürften «alles», andrerseits aber sogleich nach Verboten rufen, wenn religiöse Inhalte, wenn ethnische oder Berufsgruppen – darunter auch die seit je zum karikaturistischen Abschuss freigegebenen Banker und Bonzen – aufs Korn genommen werden? Schliesslich, so wenden die modernen Bedenkenträger ein, gilt es ja, das multikulturelle Zusammenleben nicht zu gefährden, die Verführung des Menschen zu ungesunder Lebensweise, übertriebener Mobilität und Energieverschwendung zu stoppen. Vom Rassismus, Sexismus und Diskriminierungen aller Art ganz zu schweigen!

 

Das Dilemma

Wie viel Freiheit also darf man den Feinden der Freiheit zugestehen? Und wer definiert, wer zu den Feinden der Freiheit gehört? Da ist es, das Dilemma: Wer konsequent fordert, Satire und Karikatur dürften alles, der nimmt billigend in Kauf, dass diese Kampfformen der Meinungsfreiheit auch zu Gewalt und Aufruhr führen können. Weil eben, siehe die grossen Volksverführer des 20. Jahrhunderts, Wort und Bild eine gefährliche Waffe darstellen, die in handfeste Gewalt umgemünzt werden kann. Zum Dilemma gehört, dass ausgerechnet jene den Zusammenhang zwischen verbaler oder visueller und physischer Gewalt nicht einsehen, die mit ihren Worten und Bildern grösstmögliche Wirkung erzielen wollen.

Geht es ums Konkrete, wird der generelle Freipass für Satire und Karikatur gerade von seinen Befürwortern ganz schnell eingeschränkt. Genau dann nämlich, wenn ihnen eine Äusserung rassistisch, sexistisch oder sonstwie diskriminierend erscheint. Oder auch nur unmoralisch, unanständig und unsozial. Schnell ertönt der Ruf nach dem Staatsanwalt. Und auf jeden Fall die Ächtung durch die mediale Öffentlichkeit, solche Äusserungen ein für alle Mal auszugrenzen, ja zu unterbinden.

Die Impulse zur Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit kommen nicht mehr, wie einst, vom Zensor. Sondern aus dem Inneren der offenen Gesellschaft selbst – mit ihrer verbrieften Meinungs- und Medienfreiheit. Sie kommen von den «neuen Jakobinern», von der neuen Kaste des «Moralbonzentums», vor dem Thomas Mann schon vor hundert Jahren (in den «Betrachtungen eines Unpolitischen») gewarnt hatte. Es sind die Gralshüter der politischen Korrektheit, die die Schalthebel der sozialen Kontrolle besetzt haben und nun dafür sorgen, dass abweichende Meinungen sozial bestraft werden. Eine abweichende Meinung zu haben ist, wie der unseren Lesern wohlbekannte Norbert Bolz mit Recht bemerkt1, für den einzelnen gefährlicher, als abweichendes Verhalten an den Tag zu legen – es ist existenzgefährdend. Und so werden missliebige Stimmen heute so wirksam zum Schweigen gebracht wie einst durch die Zensur, wobei sich noch weisen wird, zu welchem Zeitpunkt Tugendherrschaft in Tugendterror umschlägt.

Karikatur und Satire – und mit ihnen die Medien, die sie publizieren – haben in dieser Klemme zwei Möglichkeiten: Sie können sich – weiterhin, muss man leider hinzufügen – für die soziale Kontrolle abweichender Meinungen instrumentalisieren lassen und mit den Wölfen im Gewand der «Guten» heulen. Oder sie durchschauen den ideologischen Machtanspruch der Funktionäre der politischen Korrektheit. Und kämpfen gegen die Ausgrenzung des moralisch und politisch Unkorrekten, gegen die ständig zunehmenden Eingriffe der neuen Jakobiner in unser privates Leben im Namen der Gesundheit, der Ökologie, der Moral. Darauf, dass sie den zweiten Weg beschreiten, warten wir bisher vergeblich. Deshalb spielen wir in der Zwischenzeit lieber noch ein bisschen «Je suis Charlie». 

 


1 Vgl. Norbert Bolz: «Endlich Andersdenker» (Schweizer Monat 993, Februar 2012) und «Hauptsache links» (Schweizer Monat 1008, Juli 2013).

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