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Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens.

München: Carl Hanser, 2005

Im Jahre 2003 fragte das Zweite Deutsche Fernsehen «Wer ist der grösste Deutsche?» Drei Millionen Menschen antworteten, und Konrad Adenauer ging als Sieger hervor. An diesen hatte Theodor Heuss im Jahre 1958 über Max Weber geschrieben, er sei «für mein Gefühl die grösste menschliche und wissenschaftliche Erscheinung der Deutschen nach der Jahrhundertwende», eine Einschätzung, die sich mit der des Philosophen Karl Jaspers deckt, Weber sei «der grösste Deutsche unseres Zeitalters». Auch Max Weber stand zur Wahl, allerdings war die Vorstellung seiner Person auf der Internetseite der Fernsehanstalt einer besseren Plazierung wohl eher abträglich. So führt der Sender beispielsweise aus, dass Weber «nach einem Nervenzusammenbruch und schweren seelischen Krisen […] 1903 seinen Lehrstuhl aufgab und […] ausgedehnte Reisen in Europa und nach Amerika» unternahm und ein «komplizierter Charakter» gewesen sei. Die abschliessende knappe Würdigung von Werk und Wirkung fiel dagegen zu blass aus, um die Phantasie derer anzuregen, die zum Beispiel Albert Einstein und Martin Luther in die vorderen Ränge stimmten – und so schaffte es Weber bei «Unsere Besten» nicht einmal unter die «Top 200».

Neben dieser Schlappe steht allerdings die offensichtlich ungebrochene Popularität Webers in der etwas weniger demokratischen Arena des globalen Wissenschaftsbetriebs. Diese Popularität und ihre Begleiterscheinungen sind ein wichtiges Leitmotiv in Joachim Radkaus grosser Biographie «Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens». Denn Radkau grenzt sich vielfach von der «Weber-Forschung» oder den «Weber-Verehrern» ab, deren Sichtweise Weber oft «halbiert» oder gar «gevierteilt» habe. Nicht nur seien dabei – biographisch – der Nachwelt peinliche Aspekte vorenthalten worden (Stichworte: Sex, Geld, Political Correctness); der von der wissenschaftlichen Nachwelt so Malträtierte würde vielmehr – auch wissenschaftlich – missverstanden. Denn «bei der Zerstückelung» des Weberschen Werks gehe «das wahrhaft Faszinierende an Weber verloren, das weder im Idealtypus, noch in der Wertfreiheit besteht, sondern in seinem Denkstil, seinem gekonnten Hin- und Herspringen über die Grenzen der Spezialdisziplinen und über die Kluft zwischen Theorie und farbiger Wirklichkeit, eigener Lebenserfahrung und fremden Welten, Rationalisierung und Entdeckung irrationaler Leidenschaften, Handlungstheorie und Herausarbeitung unbeabsichtigter Fernwirkungen des Handelns, und nicht zuletzt zwischen Spiritualismus und Naturalismus.»

Radkaus Biographie verschränkt drei Perspektiven: erstens die Lebensereignisse seines Helden im engeren Sinne, seinen persönlichen Umgang, seine Leidenschaften und deren Fremdbeobachtung; zweitens das Werk und drittens die historische Epoche Webers, die Radkau in einem seiner früheren Bücher als «Zeitalter der Nervosität» beschrieben hat. Die breite historische Kenntnis des Autors, die akribische Quellenforschung und die Werkexegese ergeben eine immer spannende, streckenweise packende Lektüre. Diese lohnt sich besonders dann, wenn man einzelne klassische Texte Webers kennen- und schätzengelernt hat – man sieht sie nach dieser Biographie in einem anderen Licht, ohne dass sie etwas von ihrem Reiz verlören – etwa die berühmten Reden über Wissenschaft und Politik als Beruf und über die «Protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus».

So diskutiert Radkau die berühmte «Weber-These» vom Zusammenhang der protestantisch-asketischen Lebensmethodik und der Entstehung des modernen Kapitalismus, indem er sie in den Kontext lebensgeschichtlicher Umstände und zeitgenössischer Gegenentwürfe stellt. Ein wichtiger Punkt dabei: dass es die auri sacra fames, den verfluchten Hunger nach Gold, zwar schon immer gegeben habe, dass aber erst die puritanische Lebensmethodik sie in Form der berufsmässigen Erwerbsarbeit verstetigt hätte. Das Ergebnis in der Weberschen Gegenwart der industrialisierten Moderne ist das berühmte geistverlassene «stahlharte Gehäuse», Dabei kommt nach Radkaus Lesart in der Weber-These nicht allein ein überindividueller Systemzwang zum Tragen, vielmehr bilde sich für Weber eine Art «zweite Natur» aus. Mit dieser Veränderung des menschlichen Naturells korrespondierten Züge in Webers Charakter und Erfahrungswelt, die ihn für diesen paradoxen Kausalzusammenhang besonders hellsichtig sein lies­sen.

Unter den vielen mit Weber berühmt gewordenen Begriffsschöpfungen aus der Formationsphase der modernen Sozialwissenschaften stechen insbesondere zwei heraus: die «Wertfreiheit» und der «Idealtypus»; letzterer steht im Spannungsfeld zwischen dem homo œconomicus der Grenznutzenschule und der historischen Schule der Nationalökonomie (der typisierendes Denken keinesfalls fremd war). Wieder lässt sich Weber nicht klar einordnen. Deutlich werden die Abgrenzung Webers von Schmoller und der historischen Schule, und die Hoffnungen, die er in die Exaktheit des Theoriegebäudes setzt, das auf dem Grenznutzengedanken aufbaut. Auf der anderen Seite steht Webers Relativierung: «Auch die Grenznutztheorie untersteht dem Gesetz des Grenznutzens», sowie die Webersche Überlegung, dass es eben erst unter modernen Bedingungen der Rationalisierung von Märkten, insbesondere der Börse, zu einer starken, regelmässigen Annäherung des menschlichen Wirtschaftshandelns an diesen Idealtypus des homo œconomicus komme.

Im Wertfreiheitspostulat sieht Radkau eine im Grunde überzogene Forderung – sollten doch heutige Wissenschafter eher danach streben, sich ihrer Erkenntnisinteressen bewusst zu werden, anstatt die «reine» Wertfreiheit zum Massstab zu nehmen, die letztlich, schon durch die Wahl der Untersuchungsgegenstände, ein Ding der Unmöglichkeit sei. Die Webersche Position lautete dagegen, dass man genau deshalb nach Wertfreiheit streben müsse, und dass prinzipiell die Wissenschaft «Sein» und «Sollen» auseinanderzuhalten habe: «Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will.» Werte können also durchaus auch Gegenstand der Wissenschaft sein. Eine Pointe von Radkaus Interpretation ist dabei, dass Weber die Werte in diesem Streit mindestens ebenso wichtig waren wie die Reinheit der Wissenschaft. Er kämpfe für die Wertfreiheit, wird Weber einmal zitiert, weil er «es nicht ertragen kann, wenn Probleme von weltbewegender Bedeutung, von grösster ideeller Tragweite, in gewissem Sinne höchste Probleme […] hier in eine technisch-ökonomische ‹Produktivitäts›-Frage verwandelt […] werden». Überdies habe Weber in seiner Beschäftigung mit aussereuropäischen Kulturen und Religionen Wertungen, die europäischem Überlegenheitsdünkel entsprangen, als Erkenntnisblockade erlebt. Wieder weist Radkau auf die Lebenssituation, den Werkkontext und die historische Situation hin: «Wenn er voller Verachtung von der ‹Professoren-Prophetie› spricht, die nichts riskiert […], muss man bedenken, dass er sich um die gleiche Zeit in die Propheten des alten Israel vertieft, die für ihre Donnerworte kein Beamtengehalt bezogen, vielmehr riskierten, dafür gesteinigt zu werden.»

Radkau führt durch die deutsche Universitätswelt des Kaiserreichs, in der Weber zwar mit der Aufgabe seiner Professur ein Aussenseiter wird, die jedoch durch persönliche Kontakte, Gesprächskreise und akademische Projekte weiter sein Schaffen bestimmt. Ausführlich diskutiert Radkau das oft spannungsvolle Verhältnis zu anderen wichtigen Gelehrten dieser Zeit, wie etwa Sombart und Troeltsch. Wir erleben den mehrmaligen Beinahe-Duellanten Weber, den Nationalisten der Freiburger Antrittsvorlesung 1895 («Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte»), der dabei durchaus nicht nur dem Zeitgeist kraftvollen Ausdruck verlieh, sondern eher am Anfang eines Trends stand. Wir bekommen Webers Hass auf Wilhelm II. und die wilhelminische «Spassgesellschaft» vorgeführt, und seine Hassliebe zur (alt)deutsch-lutherischen «Gemütlichkeit», der er die «grossen Arbeitsvölker der Erde» vor die Nase hält, wobei er in seiner Zeit vor allem an Amerika denkt. Wir erleben den Neurastheniker (gehässige Kollegen kolportieren: «der nervöseste Mensch der Erde»), der «am Rätsel der Sexualität» verzweifelt und schliesslich in den Liebschaften mit Mina Tobler und Else Jaffé-Richthofen «erlöst» wird. Mit grosser Detailversessenheit zeichnet der Autor die Webersche Leidensgeschichte nach, so dass man sich bei aller anzuerkennenden Differenziertheit teilweise fragt, ob die (meist als solche ausgewiesenen) Spekulationen nicht etwas knapper hätten ausfallen können.

Neben dem Wissenschafter Weber steht schliesslich der glücklose Beinahe-Politiker, der wie viele den Weltkrieg zunächst als Befreiung empfindet, als Publizist mit dem Argument der Elitenbildung für die Parlamentarisierung Deutschlands kämpft, die deutsche Friedensdelegation nach Versailles begleitet und für Friedrich Naumanns Deutsche Demokratische Partei in den Wahlkampf zieht. Nach einer «rasanten Steigerung des Lebenstempos» «und zwar auf allen Ebenen: Politik, Wissenschaft, Liebe» stirbt Weber, gut 56jährig, im Juni 1920.

Die Lektüre ist so lehrreich, dass man selbst nach 800 Seiten die Kürze des Epilogs fast bedauert, der auch auf die Wirkungsgeschichte Webers eingeht. «Wodurch wird ein ‹grosser Mann› gross?» fragt Radkau. Einen Grund sieht Radkau bei Weber in der «höchst wirkungsvollen Erinnerungspolitik» der Witwe, deren «Lebensbild» von 1926 das Interesse an Person und Werk kanalisierte und die zudem die Ausgabe und Anordnung von noch unveröffentlichten Schriften besorgt – das vermeintliche Hauptwerk «Wirtschaft und Gesellschaft» wird später als Arrangement Marianne Webers verabschiedet. Radkau geht auf die wichtige Rolle der deutschen Exilanten ein, die Weber über die USA «reimportierten» – während er auch im Dritten Reich seine Anhänger hatte: so konnte die auf «Kampf» und «Illusionslosigkeit» getrimmte Begrifflichkeit, wie Radkau zeigt, durchaus einen Hans Frank begeistern, einen der schlimmsten Mörder des NS-Regimes, wobei die offizielle NS-Ideologie Weber als Vertreter des liberal-bürgerlichen Lagers natürlich ablehnte. Andererseits verlangsamte die Kritik an Weber von Seiten der 68er-Bewegung und der Frankfurter Schule den Weber-Boom der Bundesrepublik. Nur in einer Fussnote weist Radkau darauf hin, wie nahe andererseits die Adornosche «Dialektik der Aufklärung» der düsteren Rationalisierungsthese Webers steht. Die Rezeptionsgeschichte Webers wäre wohl ein eigenes Buch wert.

Der Weber-Boom jedenfalls reisst nicht ab. Radkau weist selbst darauf hin: es ist die überreiche Gedankenfülle und die Modernität der Schriften Webers, die zusammen mit ihrem teilweisen Fragmentcharakter und ihrer Unabgeschlossenheit zum Weiterdenken einlädt und zu Versuchen verführt, den «wahren», «eigentlichen» Weber aus ihnen herauszulesen. Aber auch wenn man sich von dieser Vorstellung verabschiedet, nimmt das der Beschäftigung mit Webers Werk, so wird hier deutlich, nichts von ihrem Wert. Das kenntnisreiche Buch liest sich mit Gewinn, und Ausflüge in die sehr umfangreichen Fussnoten erweisen sich immer wieder als lohnend. Auch wenn man mit den Konjunkturen und Trends der «Weber-Forschung» nicht in allen Details vertraut ist, lässt sich vermuten, dass sie an diesem Buch in Zukunft nicht vorbeikommen wird.

besprochen von Olaf Bach, geboren 1977, Doktorand der Universität St. Gallen.

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