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Jeremias Gotthelf und die Politik
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Jeremias Gotthelf und die Politik

Zu den seltenen Fällen, in welchen der einzelne zum Mass wird einer ganzen politischen Entwicklung, gehört der Berner Dichter Jeremias Gotthelf. Die Erhebung und Verinnerlichung, die er dem gesamten Begriff der Politik verleiht, gehören zum Wesentlichen, was männliche Besonnenheit jemals dem besinnungslosen Andrang der Tagesereignisse entgegenzustellen hatte. Gotthelf geht durch sein Zeitalter seinen eigenen gemessenen […]

Zu den seltenen Fällen, in welchen der einzelne zum Mass wird einer ganzen politischen Entwicklung, gehört der Berner Dichter Jeremias Gotthelf. Die Erhebung und Verinnerlichung, die er dem gesamten Begriff der Politik verleiht, gehören zum Wesentlichen, was männliche Besonnenheit jemals dem besinnungslosen Andrang der Tagesereignisse entgegenzustellen hatte.

Gotthelf geht durch sein Zeitalter seinen eigenen gemessenen Schritt; weder vor dem Sturm treibt er, noch strebt er ihm entgegen; unbestechlich bleibt sein Blick auf das Entscheidende gerichtet. Auf dem Grund aber seines Verhaltens herrscht die Festigkeit des Gottesgläubigen und des im Wesen seiner Volksart tief Verwurzelten. Die bernische alte Burger- und Bauernwelt, die langsamer und dichter heranwuchs als die schnelllebenden, vielfältig bedrängten und gewandelten Schichten der europäischen Kapitalen, hat in Gotthelf ihren Ausdruck gefunden. Kraftvoll abgeschlossen hielt sich diese Art in christlich-germanischer Sitte, in nüchtern protestantischem Wesen, geschart um eine städtische Obrigkeit von bedächtigem Kurs. Eindeutig und gesammelt bestand das bernische Volk in seinem vom Gebirg umfassten Land, und die Träger seiner Art bildeten sich heran, dauerhaft, in einem Wesen, das vom ruhigen Atem uralter Zeiten erfüllt ist.

Von seinem Ursprung, seiner Heimat aus gewinnt Gotthelf, nach dem Worte Kellers, in seinen künstlerisch-schöpferischen Leistungen «jene Tiefe und grossartige Einfachheit, welche in neuester Gegenwart so nahe ist und zugleich so ursprünglich, dass sie an das massgebende Altertum der Poesie erinnert»; seine Anschauung aber öffentlicher Vorgänge festigt sich aus der klaren, heimatlichen Voraussetzung seines Wesens und gelangt zu der Einsicht, dass es zwar einen Zeitgeist gäbe, dass man darüber aber nie den Volksgeist, den «Bernergeist» vergessen solle, ja dass der Zeitgeist flüchtig werde und leer ohne den Bernergeist, wie denn auch dieser, wenn er den Zeitgeist vorüberwehen lasse, ohne ihn zu bestehen, sich ihm nach rechtem Gewicht und Wert zu vermischen, dumpf, schwer und endlich erstickend werden müsse. Gotthelf ist somit die grosse, bitterernste Wechselwirkung von Überliefern und Erneuern bewusst, und so kommt er zur Unterordnung des Guten unter das Bessere, ob das Bessere nun neu sei oder alt, zum Dienen um der Sache willen, nicht um der Politik willen.

Im Beginn der 1840er Jahre soll er es aussprechen: «Wer meint, in einem Volke müsse ein beständiges reges politisches Leben sein, das sei der rechte Normalzustand, der täuscht sich übel, so übel wie der, welcher wähnte, der Mensch müsse beständig im Fieber liegen.»

Und weiterhin: «Politik ist nicht das Vaterland, Politik ist nicht die Gemeinde, nicht die Familie, Politik bezieht sich weder auf die Seele noch auf Gott.»

Nicht überlegenes Zuschauen hat ihn zu dieser Einsicht geführt; als ein mit den Zuständen Vertrauter, von politischer Leidenschaft unablässig Bewegter steht er da. Über das äussere Geschehen aber erhebt ihn die Ehrlichkeit eines mächtigen Gemütes, die einfache Einsicht, dass politische Kämpfe um des Menschen willen da seien, nicht der Mensch um der Politik willen, dass das eine nottue, nicht das viele.

Was nun bei jeder Vertiefung in Gotthelfs politisches Denken und Wirken zum eigentlichen Gegenstande werden sollte, das ist nicht das forschungsmässig leicht Greifbare, nämlich das unmittelbare Betroffensein des Dichters durch die öffentlichen Geschehnisse seiner Tage, nicht seine flammend-zornigen Angriffe, nicht die Erbitterung der Zeitgenossen gegen den starken Wahrheitskünder, all das hat nur Bedeutung als Schatten, der zum Licht gehört: Wesentlich aber ist die Essenz seines politischen Denkens, seiner politischen Haltung, die unvergänglich lehrreiche Beurteilung öffentlicher Fragen überhaupt, sowie der Weg, der Gotthelf von einem zurückgezogenen Leben, aus der vorerst warmen Teilnahme am fortschrittlichen Geschehen, zu einer ebenso einsamen als überragenden Haltung den Zeitfragen gegenüber führte und ihn zur Abfassung des grössten dichterischen Kommentars vermochte, den das soziale Problem in deutscher Sprache erfuhr.

Es lag in den gesellschaftlichen Gegebenheiten, die Gotthelf durch seine Geburt angetreten hatte, dass er den Systemwechsel seines Heimatkantons im Jahre 1831 begrüsste. Sein Verhalten deckt sich vorerst völlig mit demjenigen seiner Kreise; er teilt die seit 1749 traditionelle Einstellung des alten städtischen Bürgertums gegen die regierende Klasse. Er ist deutsch gerichtet; der Mann, der später vom Grenzwall sprach, den Gott gegen die Franzosen aufgerichtet habe, gehört zu den sogenannten Göttingern, zu der bernischen Jugend, die in Göttingen studiert hatte und die deutsche Bildung im Gegensatz zu der französischen Kulturtendenz der Oberschicht festhielt.

Für diese seine Einstellung haben wir viele Zeugnisse und keines unzweideutiger als einen Brief, den er im Jänner 1831 an seinen Freund aus der Herzogenbuchseer Vikariatszeit, den Bauern und Amtsrichter, den Philosophen und Mystiker Burkhalter, schrieb und in welchem es heisst:

«Wir haben ein grosses Jahr erlebt: Die frühere Französische Revolution war aus den gleichen Ideen entstanden und kämpfte gegen das gleiche privilegierte Unrecht, aber sie kämpfte dagegen mit der physischen Kraft, darum gelang es auch physischer Kraft, sie zu unterdrücken und alten Despotismus wieder einzuführen. … Diese Revolution hat hingegen die Vernunft begonnen, durchgeführt und beschlossen: Darum wird sie auch beschlossen bleiben.»

In der Tat hatte der revolutionäre Vorgang in Bern durch das Eingreifen der Gebildeten und das ruhige und einer alten und ruhmvollen Geschichte würdige Verhalten der Regierung eine beispiellose Milderung erfahren. Am Widerstande hatte sich keine Gewalt bilden und zur Rohheit entarten können. Die gefährlichen Folgen jedoch aller raschen Befreiungen sollten sich auch hier noch zeigen:

Einmal war es ein fremdes, von aussen kommendes Wesen, das sich nun hervortat, von der Peripherie kamen die Führer, erst seit zwei Generationen eingebürgerte Deutsche oder Französisch sprechende Seeländer, endlich bernischem Wesen und bernischer Geschichte völlig fremde Jurassier. Diese, die jetzt das Heft in die Hand bekamen, waren dem Unwiederbringlichen, dem schwer Fassbaren der inneren historischen Tradition irgendwie entgegen. Hier, wo Bitzius ein organisches Weiterwachsen, eine Befreiung von falschen Schossen wünschte, drohte das ganze Wachstum abzureissen, der vielhundertjährige Baum Schaden an der Wurzel zu nehmen.

Bei Gotthelf trat die Enttäuschung sofort ein, und mit ihr die tiefe Sorge des feinhörigen Phantasiemenschen, der dieses leise Beben und Krachen in allen Fugen, dieses Erschüttern des Gefestigten und aller Stützen vernimmt, jenes Unheimliche, was der geringfügigste revolutionäre Vorgang gemein hat mit Erdbewegungen, die jede verderbliche Möglichkeit in sich tragen, und keiner, der ihren Anfang vernimmt, kann ihr Ende vorauswissen.

So schreibt er: «Nachdem die Vernunft, begleitet von der Mässigkeit, den Sieg errungen, benutzen ihn die Unvernunft und die Unmässigkeit.»

Die Revolution war ohne Gewalt vollzogen worden, nach ihrem Vollzug aber regte das frisch Befreite sich bedenklich. Schon das Interregnum, die Zeit, in welcher sich die alte Regierung provisorisch erklärt, d.h. vom 23. Jänner 1831 bis zum 31. Oktober desselben Jahres, erscheint in hohem Grade besorgniserregend: Beständig drohen Raubzüge nach der Stadt und Lostrennung einzelner Landesteile. Die Lage wird aber nach der Vollendung der neuen Konstitution noch gespannter: Reaktionäre Versuche lassen eine Spaltung entstehen, die nicht mehr zu überbrücken ist; ein bis in die persönlichen Verhältnisse eingreifender Hass, der alles vergiftet, Sabotage, Renitenz, Rache und Unterdrückung sind die Folge. Die 30er Jahre werden zu einer Zeit flüchtigen Überganges, scheinbar eben erst Erreichtes ist schon veraltet, die zur Macht gelangten gemässigten Vertreter der Repräsentativdemokratie erscheinen in Kürze überholt, sie kämpfen nach links und nach rechts und untereinander. Überall wird gerüstet und gehetzt; über die Kantonsgrenzen hinaus vereinigen sich die Parteien; die Sonderkonkordate werden gebildet. Die Beraubung der Stadt Basel nach der Kantonstrennung durch eine urteilslose, schwache und einseitige Tagsatzung ist ebenso symptomatisch wie die willkürliche Aufhebung der Aargauer Klöster. Was Napoleon niedergehalten hatte, die konfessionellen Konflikte, brechen in der Schweiz wie eine alte Wunde wieder aus, die Eidgenossenschaft droht von innen zu zerfallen, dem Bürgerkrieg geht sie entgegen; dazu kommen Interventionsabsichten der Mächte; die Gefahr wird provoziert, Parteibravour und sektiererische Prinzipienhärte treiben jene Situationen, wie die jammervolle von der Berner Regierung geduldete Polenexpedition gegen Sardinien, auf die Spitze, und wenn sich im Volk im Augenblick der Kriegsgefahr gegenüber mächtigen Feinden jenes edle und hohe Recht der Begeisterung zeigt, selbst für Hoffnungsloses ganz und unbedingt einzustehen, so ist bei den Führern mit wenig Ausnahmen, da sie mündig und verantwortlich dem Geschehen gegenüberstehen sollten, das ganze Wagnis ein frevelhaftes Spiel, übersteigerte Parteisucht und Fanatismus.

Auf allen Gebieten, von der äusseren Politik bis zu den Einzelheiten der Administration, wird experimentiert, man verspricht vieles, kann wenig halten. Die Loslösung der Zehnten, welche die Konstitution stipulierte und welche die Landbevölkerung für das neue Regime gewonnen hatte, liess in der Ausführung jahrelang auf sich warten; es wurde, gemessen an der Sparsamkeit der Restaurationsepoche, nun in raschester Zeit das Staatsvermögen aufgebraucht, Steuern mussten abhelfen, die Gründungen öffentlicher Anstalten überstürzten sich, hauptsächlich auf dem Gebiet des Erziehungswesens regte es sich.

Durch das Erziehungswesen kam Bitzius in direkten Kontakt mit den Fragen des Tages. Seit dem Jahre 1831 lebte er in Lützelflüh, erst als Vikar, dann als Pfarrer. Nichts entging ihm, nichts liess er unbemerkt; wir sagten, er sei eine tiefsoziale Natur gewesen, er war noch unmittelbarer im allerhöchsten Grade gesellig; es trieb ihn unter die Menschen, ein mächtiger Drang, an ihrem Schicksal teilzuhaben, besass ihn; so war er Pfarrer geworden, um unter Menschen wirken zu können, so hatte er einem Freund während der Berner Studienzeit seinen fast befremdlich lebhaften Verkehr erklärt: «Ich muss mich gesellschaftlich bilden, damit ich einst, nicht in der gelehrten Welt, wohl aber in der menschlichen Gesellschaft, als ein tüchtiges Glied eingreifen, schaffen und wirken könne.» Zum Handeln, zum Eingreifen trieb es ihn von Jugend auf, in Vorbereitung und Abwarten hatte er hintangehalten, jetzt drangen die Antriebe einer an Problemen und Irrtümern überreichen Zeit auf ihn ein. Allem war er geöffnet, und so weit sein mächtiges Bewusstsein reichte, so weit gingen seine Leiden, sein Hoffen, sein Einfall und sein Zorn. Er war in seinem Dorfe isoliert, durch seinen Beruf gehemmt. Die Stadt hatte er sich durch seinen schlechten Vortrag als Prediger verscherzt; aber sie wäre auch sein Boden nicht gewesen, zweifelnder Tadel hätte ihn zu übermüssigem Widerstand getrieben. Er brauchte Raum und Freiheit für seine gewaltige Natur und vor allem Betätigung.

Die Schulreform wäre vielleicht ein befriedigendes Arbeitsgebiet für ihn geworden, die Umstände aber waren gegen ihn. Zwei Männer machten sich dieses Gebiet strittig: der Chef des Erziehungsdepartements, Regierungsrat Neuhaus, und Emanuel von Fellenberg. Diese Gegnerschaft schädigte die Tätigkeit der grossen Schulkommission, der Gotthelf angehörte und in der er nicht zur Wirkung gelangte, da, wie sein Biograph Manuel schreibt, «das Mitreden jüngerer, wenn auch ganz kompetenter Sachverständiger bei Scholarchen nicht weniger als bei andern an die ‹gloria obsequi› gewöhnten Magistratspersonen leicht als Unbescheidenheit und Zudringlichkeit ausgelegt wird».

So wurde sein mächtiger Tätigkeitstrieb überall zurückgedämmt, wurde auch das durch keinen äusseren Ehrentitel, umso mehr aber durch inneres Gewicht begründete Hervortreten seines Willens und seiner Meinung als befremdliches Vordrängen aufgefasst. Und so kam es denn, dass er sich durch die epische Gestaltung befreite. Wenn in der deutschen Schweiz, dort, wo sie ihre vielgestaltige Eigenart bewahrt hat und nicht landfremde Färbung annahm, eine dichterische Kraft sich durchringt, so ist die Gewähr dafür vorhanden, dass diese Kraft echt und vor allem dass sie stark sei. Sie hat sich gegen eine Nüchternheit durchzusetzen, die nur selten eine «heilige Nüchternheit» ist. Gotthelf steht in seiner Berner Welt als Dichter wie ein erratischer Block: Da war keine künstliche Atmosphäre der Literatur vorhanden, die ihn aufnahm; unvermittelt, und als Staatsbürger, Geistlicher und Mann für jedes seiner Worte verantwortlich, musste er vor sein eigenes Volk treten. Was aber diesen Durchbruch der Produktion zu einem der merkwürdigsten Phänomene im Gebiet von Erlebnis und Dichtung macht, das ist, dass Gotthelf, mit seiner Tatkraft abgewiesen und beiseitegestellt, nicht sich in grossen Selbstgesprächen des Geistes als ein Entfremdeter, Einsamer dem Zeitlosen zuwendet, sondern dass er verharrt in der mit dem ersten Atemzug angetretenen inneren Zugehörigkeit zum Ganzen.

Wie Gotthelf mit seinem Buche «Der Bauernspiegel» zum ersten Male vor die Öffentlichkeit tritt, schreibt er: «Es war von mir eine Gabe auf den Altar des Vaterlandes; es war ein Versuch, unsere Zustände, unverblendet von irgendeiner Parteileidenschaft oder einem Privatinteresse, klar und lebendig den Leuten vor die Augen zu stellen. Mein Verdienst besteht darin, dass ich mich dadurch, dass ich der Wahrheit Zeugnis gegeben, dem geheimen Hass und den öffentlichen Angriffen derer ausgesetzt habe, die sich dadurch beleidigt fühlten. … Das ist mir aber gleichgültig, ich habe ein dickes Fell.»

Ein dickes Fell hatte er zwar keineswegs, den Stössen und Hieben aber hatte er etwas entgegenzusetzen, nämlich die Gewalt, die in ihm war und die nun erst durch den Kampf, in den er sich hineinversetzt sah, völlig geweckt in mächtigem Strome diese Werke erfüllen sollte, die jetzt während 18 Jahren bis zum Tod ununterbrochen entstanden.

Er war sich selbst ganz klar über diesen Vorgang. So schreibt er: «In mir sprudelte eine bedeutende Tatkraft. Wo ich zugriff, musste etwas gehen; was ich in die Hände kriegte, organisierte sich. Was mich ergriff zum Reden oder Handeln, das regierte mich. Das bedeutende Leben, das sich unwillkürlich in mir regte, laut ward, schien vielen ein unberufenes Zudrängen, ein unbescheiden, vorlaut Wesen, und nun stellten sich mir alle die entgegen, feindlich entgegen, die glaubten, ich wolle mich vordrängen dahin, wo sie allein gehören. So wurde ich von allen Seiten gelähmt, niedergehalten, konnte nirgends mein freies Tun sprudeln lassen; konnte mich nicht einmal ordentlich ausreiten. Hätte ich alle zwei Tage einen Ritt tun können, ich hätte nie geschrieben. Begreife nun, dass ein wildes Leben in mir wogte, von dem niemand eine Ahnung hatte, und wenn einige Äusserungen los sich rangen, so nahm man sie halt als freche Worte. Dieses Leben musste entweder sich aufzehren oder losbrechen auf irgendeine Weise. Es tat es in der Schrift.»

Solche Bekenntnisse geben unmittelbaren Aufschluss darüber, warum Bitzius erst im Alter von 40 Jahren zu schreiben begann. Der künstlerische Trieb ist bei ihm nicht das Primäre; er ist nicht der Dichter, den es treibt, eigenes Ergehen zu höherer Gesetzmässigkeit zu erheben. Diese höhere Gesetzmässigkeit und ihre künstlerische Offenbarung werden ihm abgerungen durch das Geschick des Volksganzen. Und so heisst es in einem Brief an Burkhalter: «Auch nicht Fleiss oder Ehrgeiz machten mich zum Schriftsteller, sondern die Welt. Sie drückte so lange auf mich, bis sie mir schliesslich Bücher aus dem Kopf drückte, um sie ihr an den Kopf zu werfen.»

Hier löst sich die dramatische Spannung, die der Entwicklung des wahrhaft männlichen Lebens eignet.

In drängender Fülle, unaufhaltsam, im engsten Verhältnis zum Ereignis des Tages entsteht das schweizerische Epos; nicht die Weltweite braucht dieser Dichter, nicht den eisigen Überblick des Geschehens; nein, das Nächste ruft ihn, zwingt ihn und befeuert ihn: das Unvergängliche, das Allgemeinste, das Paradigmatische zu schaffen.

Und mitten im Kampf bleibt er mit seinem Wirken. Mit dem «Bauernspiegel», mehr noch mit dem zweiten Buch, den «Leiden und Freuden eines Schulmeisters», bricht er hinein mitten in Bestehendes; gleich das zweite Buch ruft dem heftigsten Widerspruch und einem Tadel, der nicht nur von öffentlichen Kreisen, nein, selbst von Gotthelfs Verwandten leidenschaftlich geäussert wird. Staatsgefährlich wird das Werk genannt, die Bauern schimpfen über den Spion, die Amtsbrüder grüssen nicht mehr, und die Zeit ist nicht fern, wo mit Amtsentsetzung gedroht wird.

Unablässig aber setzt der Dichter allem die Arbeit entgegen.

«Uli der Knecht», «Geld und Geist», «Annebäbi Jowäger», «Der Geldstag oder die Wirtschaft nach der neuen Mode», «Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz»,  «Die Käserei in der Vehfreude», «Ankenbenz und Hunghans» und der erbitterte Roman «Zeitgeist und Bernergeist» sowie endlich der «Herr Esau» und die meisten von mehr als 60 kleineren Erzählungen sind unmittelbar in ihrer Entstehung auf den Anstoss durch öffentliche Anlässe hin zurückzuführen. Ob es sich nun um eine Anregung der Sanitätskommission handelt, vorzustossen gegen die Quacksalberei, ob geistige Kurpfuscher im religiösen und politischen Leben ins Auge gefasst werden, ob das Wirtshausgesetz oder die Verseuchung des Handwerkerstandes den Anstoss bilden, ob die Wirkung ein und derselben volkswirtschaftlichen Unternehmung auf verschiedene Beteiligte der Inhalt sei, immer und aus allem lässt sich die engste Verbindung mit dem Zeitgeschehen entnehmen, und sicher ist, dass wenn man vom politischen Gesichtspunkt aus dieses Werk angeht, vorerst der polemische Charakter einem entgegentritt.

Folgendes sind in Kürze die Ereignisse bernischer Geschichte, die den Hintergrund bilden für Gotthelfs Werk:

Die Gotthelf freundschaftlich verbundenen Brüder Schnell haben die Sphäre ihres politischen Einflusses eingebüsst. Eine Zeitlang regiert Charles Neuhaus aus Biel fast unbeschränkt, seine Haltung in der Aargauer Klosteraffäre, noch mehr seine Drohung bei Anlass des Straussenputsches aber, haben seine eidgenössische Stellung zu einer unsicheren gemacht; dem steigenden Widerstand im Kanton und im Gesamtvaterlande hält der rasch alternde und übermüdete Mann immer grössere Starrheit entgegen; die Freischaren unterstützt er zuerst, möchte sie aber nachträglich bekämpfen und verhindern; wenn ihn die Konsequenz hinaufgeführt hat, so zieht ihn das Schwanken hinunter: Seine Freunde und seine Kreaturen fallen von ihm ab. Die Fehde zwischen der Linken und der Rechten nimmt die rohesten Formen an, das demagogische Freischarensystem setzt ein; wirtschaftliche Versprechungen der 30er Konstitution sollen jetzt erfüllt, die Konstitution soll liberal erweitert werden, immer gehässiger, unerbittlicher wird der Kampf. Selbst das grosse positive Resultat, das aus all dem Streit und Hader hervorgeht, die Gründung des Bundesstaates, kann Gotthelf nicht von der bitteren Überzeugung ablenken, dass sein Volk einem zehrenden Fieber verfallen sei, der Politik als Krankheit.

Und als Arzt dieses erkrankten Volkes suhlte er sich. Die immer wiederkehrenden Rügen jenes Übels, das er die Gesetzgebungswut nennt, betrifft Zustände greifbarster Art, die zu diesem Tadel sich verhalten wie die Form zur Münze. Das Gesetz aber beispielsweise von 1847 über Schuldenbetreibung und seine verantwortungslosen Abänderungen bekommen hier bei Gotthelf ein eigenes gesteigertes Leben, welches die ganze negativ fortwirkende Kraft demagogischer Fehltritte zu unabsehbaren Folgen hin enthüllt. So ist sein Vorschlag eines Gesetzes, welches die Minorität für alles Unglück der Majorität verantwortlich macht, zwar eine Anspielung auf die radikalen Kommentare zum Tode Karl Schnells oder die Ermordung Dr. Knebels, weit über diesen Anlass hinaus aber erhebt sich der Dichter in derartigen Wendungen zur satirischen Brandmarkung staatlicher Einrichtungen, die ihr Entstehen innerpolitischer Polemik verdanken. Und ebenso, wenn neben dem demagogischen Gesetzgeber das Gespenst des Beamten beschworen wird, so mag damit wohl hingedeutet sein auf Stockmars Hochverrat, auf die Beschuldigung mehrerer Regierungsbeamter im Jahre 1848, Massen an die aufständischen Mailänder verkauft zu haben, es mag die Misswirtschaft in den Amtshäusern von Interlaken und Pruntrut gemeint sein, oder die Schatzgeldergeschichte, der Fall des Kirchendiebes, der an der Spitze des Lauperswiler Komitees stand, oder auch jene Abstimmung in der obersten Landesbehörde über die Frage: «Ob man das Gesetz handhaben wolle oder nicht», die Äusserung des Justizdirektors: «Reglement hin – Reglement her», oder endlich die Wahl des soeben aus dem Gefängnis entlassenen Stämpfli zum Nationalratspräsidenten: Aber an all dem Anlass haftet die Gotthelf’sche Prägung nicht, und wer sich am Auffinden derartiger Zusammenhänge genügen liesse, verstünde nicht, wie viel sie zwar zur Auslösung, wie unendlich wenig aber zum eigentlichen Werden der plastischen Gestalten des Dichters beitrugen.

Alle diese hohen und niederen Beamten, die Gotthelf mit Spiessbürgern, Leisetretern, Schulfüchsen und Lassen aller Art gleichermassen hasst – wohl füllten sie die Amtshäuser und Wirtsstuben des damaligen Bern, aber wie wenig leibhaftig nehmen sie sich im wirklichen Leben aus neben den Gestalten, die der Dichter an eichene Tische und vor Bierkrüge gesetzt hat, wo sie nun für alle Ewigkeit mit Schnäuzen wie Baschkiren oder Türken, oben wie Herren, unten wie Bauern, als Volk der Schreiber tafeln.

Von allen Schädlingen der Übergangszeiten wird der Schleier gezogen: Wie Bekannte der Nachkriegszeit rückt das unvergängliche Heer der Spekulanten vor uns auf. Die folgenden Sätze sind für immer gültig: «Jede bewegte Zeit zeuget eine Masse von Spekulanten, welche die Bewegung auszubeuten, im Trüben zu fischen suchen. Diese Spekulanten fordern so lange die Umwälzung, bis dieselbe ihnen in die Hand geworfen, was ihr Herz begehrt, oder ihre Person obenaufgestellt. Sie angeln nach der Menge mit Schmähungen der Vergangenheit und Gegenwart, mit Verheissungen für die Zukunft. Gutmütige Schwindler unterstützen sie mit Redensarten, und fremde Verhältnisse halb, halb unsere Verhältnisse, und etwas weniger als halb den Gang der Dinge kennend, sind sie in ihrem politischen Ungestüm der Spekulanten blinde Werkzeuge. Die Zeiten müssen sich läutern wie die Luft, und wie nach Gewitterregen Würmer und rote Schnecken sich lustig machen, so nach Gewitterregen der Zeit die Spekulanten; sie scheinen dem Frühling jeder neuen Zeit notwendig wie die fatalen Käfer jedem ordinären Frühling.»

Und neben denen, die die Krisen bewirken und ausnützen, erscheinen in grossen Umrissen diejenigen, die die Krisen mit dem Zauberwort der Theorie beschwören. In einfachsten, einer kühnen Naivität nicht entbehrenden Zügen werden die modernen Beglückungstheorien hingestellt. Vom Sozialismus heisst es, er wolle das Grobe ins Feine bringen und wolle die Vorsehung ersetzen, indem er jedem die richtige Arbeit zuteile und jede Arbeit genau richtig bezahle. Und so heisst es in «Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen in der Schweiz» in prophetischer Weise: «Der sogenannte Sozialismus ist nichts als ein schlecht Surrogat für Christus, und Surrogate entstehen nur, wenn das Wahre selten wird oder gar nicht zu haben ist. Ein Surrogat verdrängt das andere, keines hat Bestand. So würde der Sozialismus alsbald vom Kommunismus verschlungen, der Kommunismus von der Diktatur und dieses wechselnde Elend brächte die Armen schliesslich wieder zur Religion.»

Was in allen diesen bündigen Prägungen die erstaunliche Lebenswärme ausmacht, das ist das mächtige aktuelle Temperament, das wie ein Puls in ihnen hämmert. Wenn unendlich vieles im einzelnen ungerecht und übertrieben war, wenn diese Aussprüche, wie jede «Prägung», vor dem Stoff des endlos erneuerten Lebens allzu endgültig und ausschliesslich wirken, so enthalten sie doch alle dadurch das Zeichen unvergänglicher Hervorbringungen, dass sie stets und auf die verschiedensten Formen des öffentlichen Geschehens angewandt in irgendeinem wesentlichen Zug als satirische Grundformen bezeichnend bleiben. Ihr eigenes dämonisches Leben haben diese Schilderungen, sie mögen von Zeitgenossen als gehässige Übertreibung, übellaunige Nörgelei und verzerrende Karikatur empfunden worden sein, dem Nachgeborenen geben sie die im gerechten Zorn aus zweideutiger Wirklichkeit gepresste Essenz.

Wenn Gotthelf die geschichtliche Wahrheit, wie sie der Augenblick enthielt, in der grossen Leistung des Liberalismus in der Schweiz, dem Jahre 48, nicht zu sehen vermochte, so liegt der Grund hiezu in einer Befürchtung, die er mit den grössten Geistern des deutschen Kulturkreises im Laufe des 19. Jahrhunderts gemeinsam hat und die sich gegen jede Zentralisationsbestrebung als gegen eine dem Geist der Nation entgegengesetzte Entwicklung richtet. Nirgends darf das oft kindlich reine, ja sogar von kindlicher Einfalt erfüllte Urteil des Dichters ohne den grössten Ernst und nie anders als eine Form tiefer Ahnung betrachtet werden. Wo er im einzelnen unrecht hat, braucht man eben die Einsicht, mit der Keller ihn betrachtete, um zu sehen, dass es sich nicht um «landläufiges» Unrecht handelt, sondern dass höchst Sinnvolles hinter diesem Unrecht umgeht. Hier muss man imstande sein, ruhig die Tatsache hinzunehmen, dass Gotthelf auch dort, wo er unrecht hat, dennoch weit grösser ist als seine Zeitgenossen dort, wo sie recht haben; die all seinen Äusserungen unerlässliche Wahrheit ist die subjektive.

Wenn nun als erstes bei der Betrachtung von Gotthelfs sozialer Anteilnahme einem die aus der polemischen Sphäre entstandene Gestaltenwelt und Gedankenprägung entgegenströmt, so ist das zweite, das uns unmittelbar vor Augen tritt, die volkserzieherische Absicht, die Gotthelf mit seinen Landsleuten Manuel und Haller gemeinsam hat.

Durch die gesamten Werke Gotthelfs geht, oft breit und lehrhaft, die Absicht, alle öffentlichen Fragen wie die Probleme der Familie und des einzelnen auf einen inneren und seelischen Gehalt zurückzuführen. Jede äussere Reglementierung kann für ihn, wie jede materielle Verbesserung, stets nur ein Notbehelf sein, solange die innere Bedingung fehlt. Wohl am deutlichsten sagt er das in «Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen in der Schweiz». Dort heisst es: «Es ist völlig verfehlt, dem menschlichen Elend durch äussere Umwälzungen und Massregeln grundsätzlich abhelfen zu wollen.»

Und was im einzelnen wie im Volke für ihn das Erstrebenswerte, die eigentliche Bedingung bleibt, das ist der vom Liberalismus am tiefsten geschädigte Begriff: der Begriff der Autorität. Immer und in allen Zusammenhängen geht es Gotthelf um die Berechtigung, die Wahrung und die Sicherung dieses Grundpfeilers. In der Entwicklung zur Selbstbeherrschung im Dienste höherer Ziele liegt für ihn das Heldentum des einzelnen nicht in der tragisch isolierten Steigerung. Mit unbeirrbarer, naturhafter Ruhe geht er vom sozialen Grundproblem der Ehe über das Problem des Meisters oder des Schulmeisters immer wieder zum Regierungsproblem, zu dem Problem der festen Obrigkeit.

So heißt es: «Die Festigkeit, das Unerschütterliche wird am meisten Achtung einflössen; die Liebe wirkt nur da Gehorsam, wo sie von Achtung begleitet ist.»

Somit, indem Gotthelf die ungeheuren Schwierigkeiten und die ganzen Vorbedingungen an Kraft, Charakter und Einsicht für die Autoritätsgewinnung im kleinsten Kreise aufzählt, lässt er die Dynamik gewahr werden, die sie in grossen Verhältnissen erfordert.

Immer folgt er dem gleichen Willen, den Menschen vom Kleinen, Speziellen zum Bedeutenden, Allgemeinen heranzubilden, und auch von diesem Standpunkt aus ist er gegen das Zentralisieren: «Denn zuletzt rottet es den Staatsbürger aus.»

Aus seiner völlig unphilosophischen Anlage heraus erhält sein Wille und sein unendlicher Erfahrungsreichtum einen unablässig sich gleich bleibenden Aufschwung durch die religiöse Grundeinstellung.

Aus dieser Bedingung stammt der ganze Stoss, aus dem Gotthelf gemacht ist. Denn wenn er einer erzieherischen Absicht dient und wenn die soziale und die erzieherische Absicht seine Leistung in ihren mächtigen und unaufhaltsamen Gang setzten, so wirkt, hinter all dem und ohne jedes Bewusstwerden, ein schöpferischer Wahrheitstrieb, ein Suchen nach Gott, welches die gesamte Erscheinung, Leben und Werk, gleichermassen bestimmt und ihnen ihre unumstössliche Festigkeit verleiht.

Der Mut und die heroische Lust von Gotthelfs gesamter Welt, ihre tapfere Bescheidenheit, ihre hohe Haltung, die keine eudämonistischen Ziele anstrebt, sondern nur ein Ziel, die innere Bereitschaft: Dies sind die Grundwerte der politischen Erneuerung durch den grossen Berner – sofern das politische Geschick der Völker irgendwie als ein gemeinsames Vorwärtsgehen im Unbekannten zu betrachten ist. Unablässig wurde Gotthelf von seinem metaphysisch-sozialen Sinn getrieben, niemals aber in die Richtung blutleerer theoretischer Hoffnung. Alles in ihm drängte zu der organischen Macht des Wachstums, der er vertraute. Im Schaffen, Wagen, Erdulden ging es um eins für ihn: um das Echtbleiben, das Gütigbleiben, gütig wie die höhere Macht, der man dient, zugleich aber um das unvermischbar und rein Bleiben, bereit zum Kampf, wenn es um ein Gut geht, dem man Treue halten muss.

Die Richtung, die Überliefertes lösen und an Stelle des Geheimnisses allzu leichte Einsicht setzen wollte: Hier traf sie auf einen Willen, der unbestechlich blieb. Das Wort hatte keine Macht über Gotthelf; dem schlagenden Beweise traten in ihm Ahnung und uralte Erfahrung entgegen; der Verstand blieb ihm ein Werkzeug zu begrenztem, treuem Dienst.

Vielleicht klingt nirgends reiner das Wesen von dem, was der Dichter in allem anstrebt, als in jener wahrhaft erhabenen Schilderung, wo Käthi, die Grossmutter, mit dem Enkelkinde betend das Gewitter vorübergehen lässt, das ihre Felder zerstört. Hier ist die innere Würde über alle Zwischenfälle des Lebens souverän.

Jeder Aufstieg, jedes tapfere Verharren, ja der Sturz und das Elend werden durch die Würde verklärt; würdelos ist kein Zug von Gotthelfs Dichtung, selbst nicht in den «Drei Mädchen, die im Branntwein umkamen», der Erzählung, die in die letzte und düsterste Verlassenheit führt und dennoch würdig bleibt, da es immer und in allem um eine menschliche Seele geht.

Bei Käthi aber verklärt die seelische Kraft alles Geschehen. Kraft des Vertrauens und der Echtheit stellt sie ausserhalb von jener Betrachtungsweise, die irgendetwas von ihrem schweren Leben hinwegnehmen möchte. Und so wie diese einsame Gestalt einer Greisin, so wird jede einzelne Figur, jede Gemeinschaft auf die Echtheit, d.h. eben auf ihre eigentliche Würde, geprüft. Bisweilen kann der Landstreicher bestehen, der Sozialethiker fad, verworfen und gewichtlos erscheinen, dabei aber liegt dem Dichter nichts ferner als die romantische Hinneigung zu dem Schwachen, Gefallenen: Der Tapfere hat den Preis, ja, der Geordnete. Wie deutlich tritt dies vor Augen in Büchern wie «Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen in der Schweiz» oder in Gestalten wie Hunghans und Ankenbenz, wo das von dem Dichter unerbittlich erkannte Unechte, Wurzellose, Gemachte sich abhebt vom Grund des Unvermischbaren, das besteht wie die Edelmetalle.

Und unter diesem selben Gesetz steht das Volk.

Die Unwahrheit jener Ideologien, die vor jedem wirklichen Ereignis zusammenbrechen, die Begeisterung der Mitläufer solcher Bewegungen, wird hier vor einem Individualismus zuschanden, der seinesgleichen nicht hat. Vor allem nicht unter jener am Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts gewordenen Richtung, welche die Selbstherrlichkeit des ausgenommenen einzelnen preist, womit sie zum hinfälligsten Widerpart gleichmachender Verflachung wird. Nein, Gotthelfs Glauben an den einzelnen, an die Einzelheit und an das Besondere, Gotthelfs Partikularismus, seine Abneigung gegen Zentralisation, das ist die erspriessliche Grundrichtung der deutschen Stämme zum Formenreichtum und zum Auswachsen jedes Besonderen als Bereicherung des Gemeinsamen. Und dies ist das Zeichen Jeremias Gotthelfs, gesetzt zwischen die Theorie des Westens und jene Uniformität des Ostens, aus der das Individuum meteorhaft sich emporreisst: eine wirklichkeitsnahe, von Fall zu Fall mit nicht endender Geduld treu gewahrte Unabhängigkeit des Urteils, eine Haltung, die stets den inneren Wert, die Gerechtigkeit der Einrichtung, der Klasse und des einzelnen vor jede Ungerechtigkeit – selbst der erhabensten Idee – zu stellen weiss. All dies ohne die Gefahr der Skurrilität und kleinlichen Beschränkung, denn alles in Gotthelfs Wesen steht unter der Unendlichkeit eines Gottes für Männer und Helden.

Gotthelf war kein Politiker, er war ein Stück jener Naturkraft, die das Volksleben durchströmt, und als solche umfasste er all jene Vorgänge, deren eine Funktion auch das politische Leben ist.

Er hat, wenn er polemisch den einzelnen Vorgang angreifen wollte, wohl oft diesen Vorgang gefehlt, hat dabei aber unvergängliche Grundformen des öffentlichen Lebens geschaffen: Er hat mit festem Willen jede Bemühung bis zur grossen kollektiven Bemühung im Völkerleben geistig richten, mit geistigem Ziel und Trost versehen wollen; endlich hat er jenen hohen Typus des Konservativen dargestellt, der jenseits von aller Macht- und Privilegienpolitik das Organische sucht anstelle des Konstruktiven, dem eigentlich tiefen Willen des Volksgeistes folgend, dem Geheiss, das keiner so deutlich vernimmt als der in der Nation verwurzelte Dichter.

Plato sagt in seiner «Polis» von dem göttlichen, freudebringenden Poeten: «Wir würden ihm bedeuten, dass niemand seinesgleichen in unserer Mitte ist, noch auch sein darf, und wir würden ihn weiterziehen heissen nach einer anderen Stadt. Der Nützlichkeit halber aber würden wir uns mit einem strengeren und weniger anmutigen Meister begnügen.»

Gotthelf fehlte zwar die Anmut nicht; als höhere Sehnsucht erhebt sie sich bisweilen über den Tumult seiner Werke mit der Stille des im Gemüt geläuterten Fühlens. Als Ingenium aber, das die schwere Aufgabe erfüllt hat, sich der Gemeinschaft einzuordnen, gehört er dem Wesen beider Dichter an, von denen Plato spricht, dem Wesen des freudebringenden, auf den er glaubt verzichten zu müssen, und dem Wesen des andern, den er sich zu wahren bestrebt.

 


Erschienen: Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Band (Jahr): 5 (1925-1926), Heft 8

 

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