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Jenseits von Markt und Staat
Beth Breeze, zvg.

Jenseits von Markt und Staat

Philanthropie spielt eine wichtige Rolle im Streben nach einem besseren Leben für alle. Dennoch ­mehren sich kritische Stimmen. Höchste Zeit für eine Ehrenrettung.

 

Read the English version here.

Was Philanthropie ist, sollte einfach zu klären sein. Der Begriff meint schlicht: Menschenliebe («philo-» und «-an­thropos»). Doch so einfach und vertraut er uns scheint, so ­komplex und umstritten ist er. Historische Zeugnisse philanthropischer Tätigkeit reichen zurück bis in die frühesten bekannten Zivilisationen. Heute gibt es Philanthropie in allen Gesellschaften. Historische Beispiele sind die gigantischen (und unter gigantischen Kosten errichteten) mittelalterlichen Kathedralen Nordeuropas oder die 2500 Bibliotheken, die der schottisch-amerikanische Philanthrop Andrew Carnegie vom späten 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert überall in der Welt stiftete – und nicht zuletzt die Finanzierung der Impfstoffforschung in Reaktion auf die Covid-19-Krise. Doch all diesen glänzenden Beispielen zum Trotz lässt sich nur schwer erklären, warum es Philanthropie gibt, welche Rolle sie spielen sollte und warum sie es wert ist, gefördert zu ­werden – ungeachtet der jüngst aufwallenden Bedenken ob des vermeintlichen Schadens, den Grossspenden und Grossspender anrichten.

Um diese Fragen zu beantworten, können wir Philanthropie mit zwei anderen gesellschaftlichen Hauptsektoren vergleichen: Staat und Wirtschaft. Während der Staat öffentlichen Nutzen durch öffentliche Massnahmen herzustellen sucht und die Wirtschaft privaten Nutzen durch private Massnahmen, geht es bei Philanthropie um die gezielte Kombination privater Massnahmen in der Verfolgung öffentlichen Nutzens.

Das Problem kollektiven Handelns

Was das Konzept der Philanthropie komplex macht, ist das Fehlen von Zwang oder eines zwingenden Eigeninteresses, das einen Fluss wohltätiger Mittel garantieren würde. Der Staat zwingt seine Bürger, Steuern zu entrichten, um öffentliche Leistungen für alle bereitstellen zu können. Unternehmen bieten all jenen unmittelbaren Nutzen, die bereit sind, für die von den Unternehmen hergestellten Güter und Dienstleistungen zu zahlen. Der Philan­thropie aber fehlt es sowohl am Zuckerbrot als auch an der Peitsche: Niemand ist gezwungen, etwas beizutragen, und es gibt kein Mittel gegen Trittbrettfahrer, die von den geförderten Nutzen profitieren – ob medizinische Errungenschaften, eine sauberere Umwelt, Museen oder eine Reduktion unnötiger Todesfälle. Darin liegt der Grund, warum der Philanthropiesektor von der Problematik kollektiven Handelns betroffen ist: Wie lassen sich einzelne Menschen mit ihrem Eigeninteresse dazu bewegen, sich am Streben nach gemeinschaftlichen Zielen zu beteiligen, wo sie doch auch ohne eigenes Zutun profitieren würden?1

«Der Philanthropie fehlt es sowohl am Zuckerbrot als

auch an der Peitsche: Niemand ist gezwungen, etwas

beizutragen, und es gibt kein Mittel gegen Trittbrett-

fahrer, die von den geförderten Nutzen profitieren.»

Die beiden Hauptstrategien zur Überwindung der Proble­matik kollektiven Handelns sind Zwang und Anreize. Der Staat nutzt Zwang, indem er seine Bürger zum Zahlen von Steuern verpflichtet. In Wirtschaft und Philanthropie hingegen erhalten Kunden und Spender Anreize. Doch während die Anreizfunktion im kommerziellen Bereich offensichtlich ist, insofern Kunden direkt von ihren Ausgaben profitieren, gestaltet sich die Nutzung von Anreizen im Non-Profit-Bereich komplizierter. Spender werden zunehmend kritisch beäugt und ihre Motive hinterfragt. Jede Art Nutzen für den Spender, so vage oder unbedeutend dieser Nutzen auch sein mag, ist verdächtig.

Selbst wenn Spender nichts für ihre Gaben erhalten als Dankbarkeit seitens der Empfänger oder einfach ein «warmes Gefühl», gibt es Menschen, die ihre Aufrichtigkeit und die Authentizität ihrer wohltätigen Handlungen in Frage stellen. Aus der Dialektik des Schenkens – dass im Geben ein Erhalten liegt – folgt, dass aller Philanthropie ein unauflösbarer Widerspruch zugrunde liegt: Der wirksamste Hebel, um Trittbrettfahrerei zu reduzieren, liegt darin, jeden, der es sich leisten kann, zum Geben zu ermutigen und ihm Anreize zu bieten. Doch genau das läuft gesellschaftlichen Normen zuwider und führt zu einem Anwachsen der Kritik.

Warum also braucht es angesichts der unkomplizierten Finanzierungswege, die Staaten und Unternehmen offenstehen, noch einen Sektor, der mit einer so leicht auszunutzenden Schwachstelle wie der Möglichkeit zum Trittbrettfahren behaftet ist – und dem obendrein eine Dialektik innewohnt, an der sich all jene stossen, die glauben, alles Geben müsse vollkommen uneigennützig sein? Theoretiker haben gezeigt, dass philanthropische Lösungen dort nötig werden, wo die anderen Sektoren bestimmte Güter und Dienstleistungen nicht in angemessener Menge bereitstellen können:


Der Markt versagt, wo keine Profite gemacht werden können, weil «Kunden» nicht zahlungsfähig sind (etwa Menschen, die auf Katastrophenhilfe oder Suppenküchen angewiesen sind) oder weil asymmetrische Information dazu führt, dass Anbieter versucht sind, Leistungen zu unterschlagen (etwa Dienstleister, deren Kunden verletzlich oder ohne Stimme sind, wie Obdachlosenunterkünfte oder Tierrettungsdienste).


Der Staat versagt, wo die öffentliche Nachfrage nicht ausreicht, um ihm ein Mandat zum Eingreifen zu geben – entweder weil das Problem nur eine Minderheit betrifft und den typischen Wähler nicht anspricht (etwa neuartige soziale Probleme, seltene Krankheiten oder ein kulturelles Nischenanliegen) oder weil die Nachfrage von unbeliebten oder marginalisierten ­Gruppen kommt (etwa künstlerische Tätigkeiten für Gefangene oder Unterstützung für Asylbewerber).

Eine andere, positivere Erklärung sieht den Philanthropie­sektor nicht als Anbieter «letzter Instanz», sondern spricht ihm in manchen Bereichen einen komparativen Vorteil gegenüber Markt und Staat zu. Unter bestimmten Umständen ist die Art und Weise, wie eine Dienstleistung erbracht wird, eng mit gemeinschaftlich geteilten sozialen und emotionalen Erfahrungen verknüpft. ­Solche Leistungen werden daher am besten von Personen erbracht, die die Herausforderungen aus persönlicher Erfahrung kennen und die einfach nur helfen wollen – ohne Gewinnabsicht. Zum Beispiel würde jemand, der sich mit Selbstmordgedanken trägt oder der Opfer sexueller Gewalt geworden ist, Hilfe wohl eher von einem mitfühlenden Freiwilligen oder einem Non-Profit-Angestellten annehmen als von einem Beamten oder dem Vertreter einer gewinnorientierten Organisation.

Dass es Philanthropie überhaupt gibt, wird von manchen als Anzeichen dafür gesehen, dass der Staat seine Bürger nicht ausreichend versorgen kann. Das ist fraglos keine abwegige Deutung. Einige Spender stopfen zwar Versorgungslücken, tun dies aber nur widerwillig, da sie den Standpunkt vertreten, der Staat solle seine Aufgabe erfüllen und dass die Rolle privater Spender darauf beschränkt sein solle, quasi die Kirsche auf der Torte zu liefern. Doch dieser knappe Überblick geläufiger Erklärungen für die Existenz philanthropisch finanzierten, nicht gewinnorientierten Handelns zeigt, dass dieses oft die einzige, beste oder bevorzugte Option darstellt, wo bestimmte Güter und Dienstleistungen bereitgestellt werden müssen.

Akademische, Insider- und populistische Kritik

Drei Arten Kritik haben zuletzt an Lautstärke und Popularität ­gewonnen und mischen sich zu einer existenziellen Bedrohung für Legitimität und Schicklichkeit der Philanthropie:

Die erste, die ich die akademische Kritik nenne, fokussiert auf das Wie von Philanthropie. Sie fragt, ob nicht deren Existenz und gegenwärtige Methoden, insbesondere die der vermögenserhaltenden, auf die Ewigkeit angelegten Stiftung, ungleiche Machtstrukturen zementieren, Ungleichheit verschärfen und das demokratische Prinzip der politischen Gleichberechtigung an der Wahlurne und der nachfolgenden Gesetzgebung erodieren. Im Kern befürchtet diese Art Kritik, dass Geben undemokratisch sein könne.

Die zweite Art Kritik, die ich Insiderkritik nenne, fokussiert vor allem auf das Was von Philanthropie. Sie fragt, ob die von Spendern bevorzugten Herausforderungen die richtigen seien. Des weiteren untersucht sie, auf welcher Basis die Allokation philan­thropischer Ausgaben erfolgen soll und wie bessere Spendenentscheidungen getroffen werden können. Im Kern befürchtet diese Art Kritik, dass Spenden falsch verteilt werden könnten.

«Selbst wenn Spender nichts für ihre Gaben erhalten als Dankbarkeit

seitens der Empfänger oder einfach ein ‹warmes Gefühl›, gibt es ­

Menschen, die ihre Aufrichtigkeit und die Authentizität ­ihrer

wohl­tätigen Handlungen in ­Frage stellen.»

Die dritte Art Kritik, die ich die populistische Kritik nenne, besteht in medial verwertbarer Denunziation von Grossspendern. Wie Populismus allgemein liefert auch die populistische Philan­thropiekritik einfache Erklärungen für komplexe Phänomene. Sie fokussiert fast ausschliesslich auf das Warum von Philanthropie, indem sie die Motive von Spendern anzweifelt und auf mögliches Eigeninteresse untersucht. Auch greift sie einzelne Philanthropen persönlich an. Im Kern befürchtet diese Art Kritik, Geben könne tatsächlich gut getarntes Nehmen sein.

Die drei Arten Kritik sind seit geraumer Zeit in Umlauf, werden aber heute mit einer nie dagewesenen Intensität vorgebracht. Auf Social Media werden sie zudem durch moralische Poseure verstärkt, worunter der gesamte Philanthropiesektor leidet, statt dass an spezifischen Problemfeldern gearbeitet wird. Auch ist es bedenklich, dass die Kritik meist auf eine Handvoll prominenter Philanthropen zielt, sich jedoch zu einer Kritik an Philanthropie als solcher ausweitet. Dadurch gerät die Finanzierung nicht­gewinnorientierter Projekte in Gefahr, die anderer Geldquellen als philanthropischer bedürfen.

Die bedeutendsten Erfolge

Dieser Artikel argumentiert, dass Philanthropie alltäglich, komplex und umstritten ist. Sie ist aber auch unverzichtbar und verdient daher eine entschiedene Verteidigung. Unverzichtbar ist Philanthropie für den einzelnen wie für Gemeinschaften, da sie lebensrettende und lebensverbessernde Aktivitäten finanziert.

Im Rahmen eines meiner Forschungsprojekte habe ich Kollegen aus dem britischen Philanthropiesektor zu den ihrer Ansicht nach bedeutsamsten historischen oder aktuellen Errungenschaften befragt, die durch philanthropische Unterstützung zustande gekommen seien. Die Ergebnisse zeigen, wie wichtig Philanthropie war und ist.

Die umfangreichste Kategorie philanthropischer Errungenschaften vor 1900 umfasst ein breites Spektrum sozialer und gesundheitlicher Leistungen, die von Philanthropen bezahlt oder bereitgestellt wurden, lange bevor der Staat seine Verantwortung für das Wohl seiner Bürger wahrzunehmen begann. Abgesehen von der alten Tradition des direkten Almosengebens finden sich in dieser Kategorie das Zurverfügungstellen von Wohnraum für die Armen, die Waisenfürsorge sowie das Errichten von Spitälern und die Übernahme von Behandlungskosten für Mittellose.

Die meistzitierte historische Errungenschaft war die philanthropisch finanzierte und betriebene Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei in Grossbritannien. Die Gesellschaft zur Abschaffung des Sklavenhandels wurde 1787 von Granville Sharp und Thomas Clarkson gegründet, und der politischen Führerschaft ­eines William Wilberforce wird weithin voller Bewunderung ­gedacht. Viele Tausende philanthropisch gesinnter Frauen und Männer beteiligten sich an der Kampagne, gründeten Ortsgruppen, betrieben Fundraising, verteilten Flugblätter und arbeiteten jahrzehntelang kollektiv auf die Verabschiedung des Gesetzes zur Abschaffung des Sklavenhandels von 1807 und des Gesetzes zur Abschaffung der Sklaverei von 1833 hin.

Die meistgenannte moderne Errungenschaft war die philanthropische Bewegung gegen Hunger und Armut in der Dritten Welt. Entwicklungshilfe wird von Wissenschaftern oft kritisch betrachtet. Zu Recht beleuchten die Forscher neokolonialistische Aspekte sowie die Folgen von Ausbeutung und einer Verschärfung des Nord-Süd-Machtgefälles. Dennoch werden Katastrophenhilfe und Langzeitprojekte von der britischen Öffentlichkeit weiterhin begeistert unterstützt – etwa Bemühungen um fairen Handel, Mikrofinanzierungen, Gesundheitsinfrastruktur und nicht zuletzt die «Jubilee Debt»-Kampagne, die dazu führte, dass den ärmsten Ländern zur Jahrtausendwende ungerechte oder nichtbetreibbare Schulden in Höhe etlicher Milliarden Franken erlassen wurden.

Die zweite Kategorie moderner philanthropischer Errungenschaften betrifft die medizinische Forschung sowie bahn­brechende Gesundheitsdienstleistungen. In ihr finden sich Hospize, die ein Sterben in Würde und ohne allzu grosse Schmerzen ermöglichen; ausserdem die philanthropische Reaktion auf die Aids-Epidemie, die für präventive Aufklärung und für die Unterstützung Infizierter sorgte, als der Staat noch gar nicht tätig ­geworden war; und nicht zuletzt das Humangenomprojekt, das schliesslich zur Entschlüsselung des gesamten menschlichen ­Erbguts führte und zu dem der britische Wellcome Trust, eine der weltweit grössten philanthropischen Stiftungen, einen bedeutenden Beitrag leistete.

«Geld ist ein wesentlicher Faktor, wenn es darum geht,

gesellschaftlichen Wandel zu erringen und

für soziale Gerechtigkeit zu sorgen.»

Seit der Durchführung der Umfrage gelang mit philanthropischer Hilfe ein weiterer bedeutender Durchbruch: die fast vollständige Ausrottung der Kinderlähmung. In den 1980er-Jahren traf Polio täglich Tausende Kinder mit Lähmung. Heute, nachdem 2,5 Milliarden Kinder geimpft worden sind – und zwar mit Hilfe zahlreicher grosser und kleiner Spenden wie etwa den 3 Milliarden Dollar der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung –, werden die ­Polio-Wildviren von Typ 2 und 3 für ausgerottet erklärt. Nur eine Handvoll Fälle von Infektionen durch den Typ 1 treten weiterhin auf.

Die dritte Kategorie moderner Errungenschaften betrifft den fortgesetzten Einsatz philanthropisch finanzierter Kampagnen zur Herbeiführung gesellschaftlichen Wandels – etwa die Kampagnen, die in der Folge des Dunblane-Massakers 1996 zum Verbot von Handfeuerwaffen im Vereinigten Königreich führten, oder die Kampagnen, die zu Gesetzgebung im Sinne des Gleichheitsideals führten (etwa die gleichgeschlechtliche Ehe oder die Einführung eines einheitlichen Mindestalters für einvernehmlichen Sex). Viele Kampagnen richten sich an den Staat, der entweder Gesetze ändern oder mehr Mittel zur Verfügung stellen soll. Wo Kritiker anmerken, dass es für Philanthropie gar keinen Bedarf gebe, würden Bürger und Unternehmen nur genug Steuern zahlen, darf aber nicht vergessen werden, dass der Staat die so ­aufkommenden Mittel nicht zur Lobbyarbeit nutzen würde. ­Während demokratische Prinzipien dafür sorgen, dass jeder ­Erwachsene eine Stimme an der Urne hat, ist es oft die Philanthropie, die dafür sorgt, dass die Stimmen der Bürger auch zwischen Wahlen gehört werden.

Sicherlich hat Philanthropie die erwähnten Errungenschaften nicht im Alleingang herbeigeführt, doch wird der Anteil philan­thropischer Finanzierung oft übersehen und verdient es, vor dem Hintergrund zunehmender Angriffe auf die Rolle und den Zweck privat finanzierter Initiativen herausgestrichen zu werden. Geld ist ein wesentlicher Faktor, wo es darum geht, gesellschaftlichen Wandel zu erringen und für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Und doch werden diejenigen, die solche Mittel freiwillig bereitstellen, bestenfalls ignoriert, oft aber diffamiert.

Private Initiativen für das Gemeinwohl sind nur ein Teil einer weit umfangreicheren laufenden und wohl nie endenden Debatte: wie die Bedürfnisse einzelner und die von Gemeinschaften gestillt werden können. Staat und Märkte könnten fraglos besser organisiert werden, um Wohlstand und Wohlergehen fairer zu verteilen und die Ressourcen unseres Planeten nicht zu übernutzen. Doch können und sollten wir jene Menschen nicht aufhalten, die aus freien Stücken ihre eigenen Mittel zum Nutzen anderer, zum ­Nutzen künftiger Generationen einsetzen. Philanthropie ist alltäglich, komplex, umstritten und wichtig – und verdient es, verteidigt zu werden.

  1. Mancur Olson: The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups. Cambridge: Harvard University Press, 1965.

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