Jenseits der Gerechtigkeit
Gerechtigkeit und Solidarität werden in der politischen Rhetorik kaum auseinandergehalten. Das ist nicht nur falsch, sondern auch schädlich. Warum eine total gerechte Welt kalt wäre – und warum der Sozialstaat
die Solidarität erstickt.
Nichts erzürnt Menschen mehr als eine Ungerechtigkeit. Wut und Empörung erfasst sie, wenn sie sich verletzt, verachtet oder verraten fühlen. Sie sehen sich um ihre Ansprüche betrogen, ihres Eigentums beraubt, um ihre Ehre gebracht. Viele Revolten beginnen nach einem Akt der Willkür. Ein Fehlurteil, eine willkürliche Steuererhöhung, ein Wahlbetrug, und der Aufruhr nimmt seinen Lauf. Tief bohrt sich erlittenes Unrecht in die Seele ein. Es ist nicht zu vergessen, zuletzt ist es nur zu vergelten.
Die Anlässe zur Wut sind zahllos. Denn das Gefühl, unfair behandelt zu werden, stellt sich schon ein, wenn man sich übergangen oder abgewiesen sieht. Da Bedürfnisse unendlich wachsen können, sind auch die Enttäuschungen grenzenlos. Empörung ist eine Leidenschaft, und wenn die Entladung des Protestes versagt bleibt, vermischt sich berechtigter Unmut nicht selten mit Missgunst und Schadenfreude. Neid entsteht angesichts fremden Wohlergehens, Häme ergötzt sich am Unglück anderer. Mit Ressentiments hält sich die Seele schadlos für grobe Unbilligkeit.
In den westlichen Wohlfahrtsstaaten dient «Ungerechtigkeit» häufig als Kampfparole im Verteilungskonflikt. Moral gilt als Trumpf im Machtspiel um die kollektiven Güter. Sonderinteressen gewinnen sogleich einen Legitimitätsbonus, wenn man sie moralisch zu überhöhen versteht. Nicht wenige fordern Gerechtigkeit und meinen Versorgung durch die Obrigkeit. Doch besagt weder das Gefühl der Benachteiligung noch dessen lautstarke Bekundung, ob ein Unrecht tatsächlich vorliegt. Umgekehrt gilt freilich ebenso: Klagen über Ungerechtigkeit von vornherein als Neidkampagne zu diffamieren, soll oft nur die Tatsache übertünchen, dass es an gesellschaftlicher Fairness tatsächlich fehlt.
Dass Macht, Eigentum und Lebenschancen ungleich verteilt sind, liegt in der Struktur des Kapitalismus. Doch für Missmut sorgen auch die Übelstände des Alltags. Der Habgier der Menschen und Institutionen sind kaum Grenzen gesetzt. Trittbrettfahrer des Sozialsystems strapazieren den Langmut der Beitragszahler. Ein Manager wird mit Millionen abgefunden, seine langjährige Sekretärin ist nach ein paar Monaten unverdient zum Sozialfall degradiert. Ein Durchschnittsverdiener müsste Hunderte von Jahren arbeiten, um den Pensionsanspruch eines mittelmässigen Ministers zu erwerben. Es grenzt an staatlich verordnete Ausbeutung, über ein halbes Arbeitsjahr für die Finanzierung von Einrichtungen aufwenden zu müssen, von denen – wie im Falle der Rentenkasse und vieler Behörden – in Zukunft kaum mehr eine Gegenleistung zu erwarten ist.
Gegen die Verwirrung der politischen Parolen helfen klare Begriffe. Gerechtigkeit herrscht dann, wenn jeder nur nach dem verlangt, was ihm zusteht, und wenn er wirklich erhält, worauf er ein Anrecht hat. Dies kann jammervoll wenig sein, weniger als er braucht und weniger als er haben will. Anrechte gründen nicht auf Bedürfnissen oder Bedürftigkeit, sondern auf Verdienst und Leistung.
Armut verpflichtet nicht zum Ausgleich einer Schuld, sondern zu Gaben der Mildtätigkeit. Nothilfe ist keine Frage von Gerechtigkeit, sondern von Solidarität. Um Brüderlichkeit kann man bitten, Anrechte hingegen kann man einfordern. Gegen Unrecht kann man sich empören, über fehlende Hilfe kann man nur enttäuscht sein. Gerechtigkeit fordert, Gleiches gleich zu behandeln und Ungleiches ungleich. Solidarität indes heisst: «Einer für alle und alle für einen». Sie fordert, in Not und Gefahr füreinander einzustehen. Nächstenliebe ist daher immer teurer als Gerechtigkeit. Bei dieser geht der Gegenleistung stets eine Vorleistung voraus. Brüderlichkeit hingegen gibt etwas – für nichts.
Gerechtigkeit nimmt ihren Ausgang nicht in der Verteilung oder gar Umverteilung von Gütern, sondern im sozialen Tausch. Sie ist ein Verhältnis gegenseitiger Schuld. Ihr Prinzip ist die soziale Vergeltung – alle offenen Rechnungen sind zu begleichen. Für seine Untat bekommt der Verbrecher die verdiente Strafe. Für die gleiche Arbeit erhält jeder den gleichen Lohn, für die gleiche Prämie die gleiche Versicherungsleistung. Weder der Markt noch der Staat garantieren Gerechtigkeit, sondern die Gesellschaft. Staaten taugen bestenfalls zum Rechtsschutz der Bürger, aber nicht zu Hütern der Gerechtigkeit, geschweige denn der Solidarität. Sie helfen menschlichen Bedürfnissen nicht ab, sondern erzeugen immerzu neue.
Der moderne Sozialstaat hat die Grenzen zwischen Gerechtigkeit und Solidarität verwischt. Fürsorge wurde zu einem Anrecht, Bedürftigkeit zum Rechtsgrund erhoben. Wohlfahrt sollte nicht länger mit Wohlverhalten erkauft werden. Doch garantiert staatliche Unterstützung noch keine Selbständigkeit. Die Armen sind weiterhin fügsam, während sich manche Bedienstete wie gönnerhafte Almosenspender aufführen. Nach der Verstaatlichung der Brüderlichkeit halten indes viele für Unrecht, was in Wahrheit mangelnde Solidarität ist.
Das Vergeltungsprinzip begründet auch die Pflichten der ausgleichenden Gerechtigkeit. Es ist recht und billig, wenn die Opfer von Verbrechen eine angemessene Entschädigung oder Wiedergutmachung erhalten. Es ist ein Gebot der Fairness, dass die Generationen gegenseitig ihre Schulden abtragen. Menschen sind im Wechsel Versorgte und Versorgende. Jeder Mensch beginnt sein Leben ungefragt in Hilflosigkeit, und viele verlassen die Welt in einem ähnlichen Zustand. Wie die Eltern ihren Kindern Hilfe zur Selbständigkeit schulden, so sind die Kinder zu Beistand angehalten, sobald die Eltern ihre Selbständigkeit zu verlieren beginnen.
Eine gerechte Gesellschaft wäre eine kalte Welt, sollte sie jemals Wirklichkeit werden. Ohne Ansehen der Person würden die Urteile gefällt. Nicht nach seinen Fähigkeiten oder Bedürfnissen würde der Mensch behandelt, sondern allein nach seinem Verdienst. Niemand übervorteilte den anderen, jeder begliche rechtzeitig seine Schulden. Der Gerechte erleidet lieber Unrecht, als es zu verüben, zur eigenen Selbstachtung und zur Achtung derjenigen, an denen ihm liegt. Aber viele bleiben auf der Strecke. Sie können nur existieren, solange sie die Hilfe erhalten, die sie benötigen.
In jedem politischen Gemeinwesen, das den Namen verdient, gelten neben der Gerechtigkeit weitere Grundsätze der Sozialmoral. Güte und Wohltätigkeit fragen nicht danach, was der Bedürftige an Leistung erbracht hat oder was von ihm noch zu erwarten ist. Hungernde müssen keine Prüfung bestehen, ja, nicht einmal ihre Geschichte überzeugend erzählen können, um Nahrung und Obdach zu erhalten. In der Solidarität ist die Wechselseitigkeit des gerechten Tauschs aufgehoben.
Die Versorgung der Armen kann nur auf Kosten der Begüterten geschehen. Die Nutzniesser der Brüderlichkeit sind stets die Verwundbarsten. Doch je entwickelter der Wohlfahrtsstaat, desto geringer der Antrieb für private Philanthropie und soziale Wohltätigkeit. Die Milieus der Egoisten sind auch ein Ergebnis verstaatlichter Fürsorge. So bleiben die letzten Orte der Solidarität nahezu unbemerkt: die Familie und die Nachbarschaft, Abertausende ehrenamtlicher Helfer – und die private Freundschaft, die bei Geld nicht aufhört.
Ohne Finanzmittel kommt auch die Brüderlichkeit schwerlich aus. Ohne Mobilisierung altruistischer Potentiale hat die Gesellschaft der Bürger keine materielle Grundlage. So kommt es zupass, dass auch der privaten Spende der Eigennutz nicht ganz fehlt. Mildtätigkeit vermittelt Gefühle der moralischen Genugtuung, wenn nicht gar des Stolzes. Für das, was er gibt, erhält der Menschenfreund das Glück der Tugendhaftigkeit. Ihrer Gewohnheit gemäss pflegen Menschen ihre niederen Motive zu vergessen. Grosszügigkeit erscheint ihnen als selbstlose Opfergabe. Aber insgeheim begehrt der Wohlhabende den Ruhm des Gerechten. Den Besitzlosen kann solcher Ehrgeiz nur recht sein.
WOLFGANG SOFSKY, geboren 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. Zu seinen letzten Büchern zählen: «Verteidigung des Privaten» (2007) sowie «Das Prinzip Sicherheit» (2005).
2008 wird Sofsky für uns regelmässig Kolumnen zum Thema «Unsitten und Untugenden» verfassen.