«Jedes Wort ist eine Übersetzung»
Ist Sprache Heimat? Haben mehrsprachige Autoren mehrere Heimaten? Und was ist das eigentlich, «Chamisso-» oder «Migrations-Literatur»? Die in Budapest geborene Zsuzsanna Gahse übersetzt aus dem Ungarischen, schreibt aber auf Deutsch – und gibt gern Auskunft. Ein Werkstattgespräch.
Frau Gahse, als Sie zehn Jahre alt waren, floh Ihre Familie aus Budapest nach Wien. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Von der Flucht sehe ich jeden Schritt vor mir, und zwar wortwörtlich, da wir zu Fuss geflohen sind. Und geflohen sind wir, weil mein Vater sonst wohl nicht am Leben geblieben wäre. Eine lange Geschichte. Erinnerungen an die Revolution und auch an die spätere Ankunft in Wien habe ich ausschnittweise immer wieder beschrieben, und es gibt noch weitere Elemente, die ich irgendwann einmal darstellen möchte. Womit ich auch hervorheben will, dass sich ein zehnjähriges Kind an einem neuen Ort zurechtfinden und sich auch gut erinnern kann.
Vom Ungarischen ins Deutsche – wie viel «Heimat» steckt in der Muttersprache? Und: Ist es möglich, diese «Heimat» in einer neuen Sprache neu zu finden?
Ein unvergessliches Erlebnis war es, ins Deutsche vorzupreschen. Wie in eine Wolke ging ich in diese Sprache hinein, und die Wolke riss immer mehr auf, und dann konnte ich in der neuen Sprache frei herumspazieren. Unvergesslich ist das Gefühl dieser Unabhängigkeit, nach etwa einem halben Jahr. Aber das Aufreissen der Wolken hört nie auf. Ganz gleich, wie gut man eine Sprache kennt. Auch über meine zehn chinesischen und die fünfzig russischen Wörter bin ich glücklich. Sprachen sind Ausdrucksmöglichkeiten. Jede einzelne Sprache ist eine Möglichkeit.
Und was geschah dann mit dem Ungarischen, dem Sie ja bis heute als literarische Übersetzerin verbunden sind?
Das Ungarische zu kennen ist ein Bonus. Im Gegensatz zum Indoeuropäischen – also zu fast allen Sprachen in Europa und beinahe weltweit – zeigt das Ungarische mit seiner völlig anderen Logik eine besondere Denkmöglichkeit. Ähnlichkeiten zwischen den slawischen, romanischen, germanischen Sprachen sehe ich im Vergleich zum Ungarischen genauer.
Aus Ihrem literarischen Werk geht hervor, dass neben dem Ungarischen auch andere europäische Sprachen für Sie wichtig sind…
Jede Sprache hat ihren eigenen Charme, ihre eigene Haltung, eigene Vorzüge, und mir gefällt es, unterschiedliche Sprachhaltungen zu beobachten, sie einigermassen zu kennen. Aber ich bin mir nicht sicher, dass das für jeden gilt. Shaw wollte sich ausser dem Englischen mit keiner Sprache befassen – wobei er ursprünglich Irisch gesprochen hatte –, aber innerhalb des Englischen war er unglaublich bewandert. In meinem «Südsudelbuch» ist übrigens auch von unterschiedlichen Mündern die Rede: Je nach Sprache verändern sich die Lippen und sogar die jeweilige Spannung im Gesicht. Das ist nicht nur interessant, sondern auch witzig in der Beschreibung.
Woher kommt aber Ihr ganz besonderes Fasziniertsein vom Spanischen?
Von einigen Autoren, weit über Cervantes und Lorca hinaus, und unbedingt auch von der Sprache selbst.
Nicht nur in Ihrer «Erbschaft» haben Sie darauf aufmerksam gemacht, dass man manches eigentlich nicht übersetzen kann. Und es dennoch versucht. In Ihren Dresdner Vorlesungen mit dem Buchtitel «Erzähl-inseln» steht: «Jedes Wort ist eine Übersetzung…» Wie ist das gemeint?
Wenn ich einen hageren Mann auf der Strasse rennen sehe, kann ich sagen: «Da rennt ein Dürrer vorbei.» Oder ich sage: «Wie der rast, der dünne Kerl!» Es gäbe noch weitere Möglichkeiten. Jedenfalls habe ich zunächst ein Bild vor Augen und übersetze das Bild, indem ich es beschreibe. In meinen «Instabilen Texten» schwärmt die Ich-Erzählerin von einem Mann und sagt: «Pierre ist keine Übersetzung, sondern das Gegenteil.» Das Gegenteil einer Übersetzung ist das Unmittelbare. Und das Unmittelbare ist nicht so leicht erreicht.
Ist Mehrsprachigkeit bei Gegenwartsliteraten eigentlich eine Normalität?
Mir fallen jetzt unter meinen Lieblingen jedenfalls keine Schriftsteller, keine Schriftstellerinnen ein, die nicht mehrsprachig wären…
Sie haben schon 2006 den Adelbert-von-Chamisso-Preis erhalten, der damals noch ausschliesslich an deutschschreibende Schriftsteller anderer Muttersprachen vergeben wurde. Heute oft verwendeten Begriffen wie «Migrationsliteratur» oder «Chamisso-Literatur» stehen Sie aber skeptisch gegenüber. Warum?
Ich liebte Chamisso, längst bevor es den Chamisso-Preis gegeben hat. Und Beckett, Brodsky, die herrliche Nathalie Sarraute! Ich brauche nicht weiter aufzuzählen. Sehr wohl hadere ich mit dem Begriff «Migrationsliteratur». Dieses Wort ist für mich ein Marketingslogan. Noch so flach geschriebene Romane kommen mit dieser Gattungsbezeichnung bestens durch – und das tut der guten Literatur nicht gut. Ausserdem ist ja die halbe Welt in Bewegung, nicht nur die Migranten. Zum Beispiel die Forscher, die Sportler, Angestellte mit Geschäftsbeziehungen im Ausland, Angeber, Verschleppte, Vertriebene, Ausgewanderte, Asylanten, Au-pair-Mädchen, Schmuggler, Kurtisanen, Aussenminister, Spitzel, Terroristen, auch Photographen, eingebettete Berichterstatter, Filmemacher. Die werden auch nicht als Migranten bezeichnet.
Die Kritikerin Beatrice von Matt hat einmal über Sie geschrieben: «Ihre eigentliche Heimat ist das Projekt der Moderne.» Sie meint wohl die künstlerische Moderne, die am Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen hat und nicht so bald endet – ein Thema, über das wir jetzt zwei Stunden reden könnten, nicht wahr? Aber ganz konkret gefragt: Können Sie den Satz Beatrice von Matts unterschreiben?
Ja, das möchte ich unterschreiben, doppelt, wegen der Heimat und wegen der Moderne.
Ganz ähnlich formuliert das die polnische Literaturwissenschafterin Dorota Sośnicka, die sehr intensiv über Schweizer Gegenwartsliteratur gearbeitet hat. Sie erwähnt explizit Ihr «Gespräch mit dem Leser»…
Ja, das «Gespräch mit dem Leser»! Mit jedem Buch möchte ich doch den Leser erreichen, und der wird dann vielleicht einzelne Gedanken weiterspinnen. Ein Motiv weiterverfolgen. Hinzuassoziieren. Ein Text ist ein Gespräch.
So auch Ihr 1983 erschienenes, erstes Prosabuch «Zero», mit dem Sie bekannt wurden. Ein Jahr später folgte, mit ausdrücklichem Bezug auf Cervantes und Hoffmann, die Erzählung «Berganza». Man liest oft, dass Sie damals in Ihrer Stuttgarter Zeit einen berühmten Mentor hatten, Helmut Heissenbüttel, der Sie zum Schreiben ermuntert hat. Sie haben dem widersprochen. Ganz so war es nicht, oder?
Heissenbüttel hat mich zum Übersetzen ermuntert. Und er war ein wunderbarer Freund. Natürlich war es eine grosse Unterstützung, dass er meine Texte schätzte. Aber ich habe mit vierzehn meinen ersten und letzten richtigen Roman verfasst. Und dann immer weitergeschrieben. Unterstützt besonders von der «Stuttgarter Zeitung», lang bevor es zu den schönen Gesprächen mit Heissenbüttel kam.
Ich habe den Eindruck, dass die Gegenwartsliteratur gerade in der deutschsprachigen Schweiz ein relativ hohes Ansehen geniesst. Sie haben in vielen Ihrer Bücher über die Schweiz und ihre Landschaften geschrieben. Ist die Schweiz ein gutes Land fürs literarische Arbeiten?
Hier in Müllheim wohne ich in der Nähe vom Bodensee, und der ist die Mitte der Welt. Für meine Situation ist es ausgezeichnet, in weniger als einer Stunde in Zürich zu sein, noch schneller in Winterthur, St. Gallen, aber ich habe zugleich auch Deutschland und Österreich in der Nähe. Alles meine Welten, so nahe beieinander. Allein schon durch die Mehrsprachigkeit unterscheidet sich aber die Schweiz von den übrigen nur deutschsprachigen Ländern. Das ist ein riesiger Vorteil. Dem Französischen gegenüber sah ich mich früher immer als Schwächling. Hier höre ich immer wieder auch von den französischen Autoren, und damit kommt mir auch ihre Sprache näher.
Eines Ihrer bekanntesten Bücher, 2004 erschienen, heisst «durch und durch. Müllheim / Thur in drei Kapiteln». Da geht es, wie auch in anderen Ihrer Texte, ums Sichbewegen, um Mobilität. Und um den Raum, in dem das geschieht. Die Topographie sei für Ihr Schreiben wichtig, haben Sie mehrfach betont.
Es ist, wie Sie es sagen: Es geht mir ums Sichbewegen, und wo bewegt man sich? Im Raum, in der Topographie. Schon Helmut Heissenbüttel ist das Topographische meiner Texte aufgefallen. Die Landschaft und das, was ich sehe, ist mir wichtiger als psychologische Mutmassungen.
Nach «durch und durch» sind in rascher Folge imponierende Werke entstanden, «Instabile Texte zu zweit» (2005), «Oh, Roman» (2007), «Donauwürfel» (2010), «Südsudelbuch» (2012), «Die Erbschaft» (2013) und andere. War das vergangene Jahrzehnt ein besonders produktives? Und wenn ja, woran liegt das?
Ich habe immer schon viel geschrieben. Und gerne geschrieben. Seit einigen Jahren übersetze ich kaum noch. Daher habe ich mehr Zeit, die Gegenwart zu betrachten, und auf die kommt es mir an, auf das Jetzt.
Sie haben auch Bühnenstücke geschrieben, aber meistens schreiben Sie Prosa. Keine langen Romane. Oft recht kurze Texte, die auch Lyrik sein könnten, etwa die «Donauwürfel». Von Gattungszuschreibungen halten Sie recht wenig. Sind solche Zuschreibungen wirklich unwichtig? Und: Ist dann vielleicht die ganze Literaturwissenschaft unwichtig?
Natürlich sind die Literaturwissenschaft und das Wissen über die Literatur wichtig. Und schön sind sie auch, nur kommt das auf den jeweiligen Wissenschafter an. Alle Gattungen haben offene Flanken, sie leben voneinander. Und ich suche das, was zwischen ihnen liegt, das Dazwischen. Zwischen Roman und Szenischem und Lyrischem und Essayistischem. In den «Donauwürfeln», die Sie gerade genannt haben, geht es um den europäischen Fluss, um das Wasser schlechthin, um Topographie, um kleine Geschichten, Erzählinseln, sonstige Inseln. Das sind Möglichkeiten für die erwähnten offenen Flanken.
Es gibt ja Gahse-Texte, auch recht frühe, die man unbedingt laut sprechen sollte. Spoken Poetry, Spoken Word – ist das die eigentliche Bestimmung von Literatur? Oder nur ein Aspekt? Eine Mode vielleicht?
Um Moden möchte ich mich nicht kümmern. Und unabhängig von der neuen Gattung Spoken Poetry – schon wieder eine Gattung! – lebte Literatur seit jeher auch vom Klang, von Klangspielen. Sie lebt auch vom freien Erzählen. Ich habe schon einige Male auf einer Bühne frei gesprochen, einmal auch an einer Strassenecke, und so ein Erzählen ist beinahe ein Theaterstück.
Sie leben mit dem bildenden Künstler Christoph Rütimann zusammen. Nicht nur deshalb, nehme ich an, kommt die bildende Kunst in Ihren Werken immer wieder vor. Auch die Musik, die Oper vor allem, Stichwort: «Don Giovanni». Kann man überhaupt literarisch schreiben, wenn man sich ausschliesslich auf Literatur konzentriert? Oder ist «Intertextualität» ohne Blick auf andere Künste gar nicht möglich?
Zusammen mit Christoph Rütimann gab und gibt es mehrere gemeinsame Projekte. Ich will nur eine Art Performance nennen: Er spielt auf Kakteen Musik, und ich lese parallel dazu einen eigens für die Performance geschriebenen Text. Da haben wir übrigens Züge der bildenden Kunst und der Musik. Das ist belebend, auch wenn es nicht um die Oper geht. In meinen Texten stecken auch einfache Lieder. Aber der «Don Giovanni» ist halt ein Meisterwerk, interessant schon durch die berühmte männliche Figur. Und da sollte ich hinzufügen, dass ich mehrfach versucht habe, sympathische männliche Personen zu beschreiben. Die Effi Briest und die Anna Karenina, um nur zwei wunderbare literarische Frauengestalten zu nennen, haben Schriftsteller in die Welt gestellt. Schriftstellerinnen könnten entsprechende Männergestalten hinzuzustellen versuchen. Um aber auf die Musik zurückzukommen: Für den Komponisten Alfred Zimmerlin habe ich ein Libretto geschrieben. Seine Solooper «Mehr als elf» wurde in Basel Anfang September aufgeführt. Musik, Sprache und die Sängerin gleichzeitig, also als etwas Gegenwärtiges, zu erleben, ist beeindruckend.
Letzte Frage: Wie geht es weiter?
Jetzt habe ich zwei Buchprojekte und ein Theaterstück im Kopf. Jetzt.