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Jeder Tag wie dieser

Peter Stamm schreibt über die Ereignislosigkeit

Als Erzähler, der mit einer kargen, lakonischen Sprache die Lebens- und Liebessuche verunsicherter Individuen detailgenau und poetisch-atmosphärisch beschreibt, hat sich Peter Stamm als einer der bedeutendsten Autoren der deutschsprachigen Schweizer Gegenwartsliteratur profiliert. Nach seinen beiden Romanen «Agnes» (1998) und «Ungefähre Landschaft» (2001), den Erzählungsbänden «Blitzeis» (1999) und «In fremden Gärten» (2003) sowie Theaterstücken und einem Kinderbuch ist nun Stamms dritter Roman erschienen. «An einem Tag wie diesem» stellt einen Stamm-typischen Protagonisten vor. Andreas, ein Schweizer Deutschlehrer in Paris, Mitte vierzig, unverheiratet, verspürt immer drückender die Leere seines Lebens, das sich in der Ereignislosigkeit des Ewiggleichen verliert. Auch seine diversen Frauenbeziehungen können ihm keine Erlösung verschaffen, sondern beweisen ihm letztlich nur seine Bindungsunfähigkeit und Einsamkeit. Eine Lungenerkrankung und die bange Erwartung des ärztlichen Befundes bewegen Andreas zum radikalen Bruch mit seiner sinnverlorenen Existenz. Er kündigt seine Stelle, verkauft seine Pariser Wohnung und fährt gemeinsam mit Delphine, einer wesentlich jüngeren Lehrerkollegin, mit der er zwar schläft, für die er aber recht unsichere Gefühle empfindet, in sein Schweizer Heimatdorf, wo er Fabienne, seine vor zwanzig Jahren verlorene, unerfüllt gebliebene Liebe wiederzusehen hofft. Doch auch am Ort seiner Kindheit und Jugend findet er in der Konfrontation seiner Erinnerungen mit der gegenwärtigen Realität nicht zu sich selbst. Er trifft sich mit Fabienne, die seinen Freund Manuel geheiratet hat, schläft mit ihr, aber beide erkennen, dass es für eine gemeinsame Liebesgeschichte keine Zukunft (mehr) gibt. Delphine ist zuvor allein abgereist. Scheinbar ziellos verlässt Andreas schliesslich sein Heimatdorf, fährt zurück nach Frankreich, an die Atlantikküste, wo Delphine ihren Urlaub verbringt. Seine Wiederbegegnung mit ihr steht am Ende einer Geschichte, die viele Fragen offen lässt.

Stamm erzählt aus der Perspektive seines sehnsüchtig getriebenen Protagonisten, der sich als «Statist und Zuschauer eines imaginären Films» vorkommt; er verschafft seiner Romanfigur keine Lösung der Existenzproblematik aus der Sicht eines allwissenden Erzählers. Der Autor protokolliert lakonisch das Erleben seines Protagonisten, der signifikanterweise bekennt, «er habe nichts zu erzählen», «sein Leben sei zu formlos und zugleich zu verworren, um darin Geschichten auszumachen». Dieses Bekenntnis formuliert gleichermassen die ästhetische Herausforderung, der sich Stamm mit seinem Roman stellt, und das erzählerische Risiko, da der Autor präzise das lebensleere Geschehen und die emotionale Abwesenheit seines Protagonisten beschreibt und damit eine Ereignislosigkeit (oder -armut) der Romanfabel konsequent in Kauf nimmt. Schon die ersten Zeilen des Buches legen hier das Erzählprinzip dar: «Andreas liebte die Leere des Morgens, wenn er am Fenster stand, eine Tasse Kaffee in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand, und auf den Hof hinausschaute, den kleinen, aufgeräumten Hinterhof, und an nichts dachte als an das, was er sah.»

Andreas’ Ziellosigkeit und sein existentieller Zwiespalt zwischen dezidierter Zufallsgläubigkeit und dem Bewusstsein vom Tod als unausweichlichem Schicksal – manifestiert etwa in seinen Vorstellungen vom eigenen Ableben, in Erinnerungen an die verstorbenen Eltern, in der Vermutung, eine tödliche Krankheit in sich zu tragen, oder in der generellen Erfahrung eines Verlustes von Lebensmomenten – führen am Ende zum romantischen Naturerlebnis einer befreienden Ich-Auflösung, das dem einsam am Meer Liegenden plötzlich das Gefühl vermittelt, «als sei er selbst kein Mensch mehr». Aber er erkennt zugleich die Ambivalenz seines Lebensausbruchs zwischen Freiheit und Haltlosigkeit; denn ihm wird bewusst, dass die «Gleichheit seiner Tage» sein «einziger Halt» gewesen war und dass er nun, ohne Bindung und Verpflichtung, «nur noch ein winziger Punkt in einer bedrohlich leeren Landschaft» ist.

Peter Stamm hat mit seinem Protagonisten das unsichere, von Entscheidungsschwere und von Aporien geprägte Lebensgefühl unserer Gegenwart figuriert. Der erzählerische Reiz, der schon seine früheren Werke ausgezeichnet hat, lässt sich auch in seinem neuen Roman entdecken. Stamm gelingt es, in der detaillierten, sprachlich konzentrierten Darstellung der Lebensleere ein «komplexe[s] Gebäude aus kleinen Ereignissen» – wie es im Buch heisst – zu errichten, dem Leser grosse Freiräume der Imagination zu schaffen und durch erzählerische Leerstellen eine Spannung des Alles-Möglichen zu erreichen.

Peter Stamm, «An einem Tag wie diesem». Frankfurt: S. Fischer Verlag, 2006.

Hartmut Vollmer, geboren 1957, ist Dozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn.

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