Jeder ein Gutenberg
Wenn in Wahlkämpfen bereits mehr Fake News geteilt werden als Nachrichten von etablierten Medien, gerät die Demokratie an ihre Grenzen. Ein Ordnungsruf.
Täglich werden Nachrichten unterschiedlicher Qualität auf dem Globus verbreitet und konsumiert. Diese Informationen werden heutzutage vermehrt direkt unter den Konsumenten je nach Gutdünken weitergeleitet. Das birgt Risiken. Wie unterscheiden die Konsumenten, ob der Nachrichteninhalt «wahr» oder «fake» ist? Schon Mark Twain wusste schliesslich: «A lie can travel half the world, while the truth is still putting on its shoes.»
Wir erinnern uns an die Troll-Nachricht, dass Kandidat Trump vom Papst für die Präsidentschaft empfohlen werde und dass Kandidatin Clinton Waffen an den «Islamischen Staat» verkauft habe. Gemäss Medienanalysen des Portals BuzzFeed wurden in den letzten drei Monaten vor der Präsidentschaftswahl mehr Fake News1 über die Kandidaten weitergeleitet als Nachrichten von etablierten, den Standards der Journalisten angemessenen Tageszeitungen wie der «New York Times». Damit entsteht eine globale Zweistromgesellschaft.
Ein globales Zweistromland?
Auf der einen Seite stehen diejenigen, welche sich für die Quelle und den Wahrheitsgehalt interessieren, besonders bevor sie die Nachricht weiterleiten – und die anderen. Man könnte auch eine Grenze ziehen zwischen denen, die für Nachrichteninhalte bezahlen, und denen, die gratis Nachrichten nutzen. Gutenbergs Druckerpresse ist heute Allgemeingut: Mit einem Twitter-Account, Instagram, Facebook und so fort, da kann jedermann jederzeit zu seinem eigenen Verleger werden.
Es gibt relativ viele akademische Nutzeruntersuchungen in den Vereinigten Staaten. Dort scheint Facebook vorne zu liegen. Ungefähr 64 Prozent der Erwachsenen sind Teil dieses Netzwerks in den Vereinigten Staaten, und ungefähr die Hälfte davon konsumieren Facebook-Nachrichten. Die meisten Inhalte werden auf Facebook weitergeleitet. Wie aber wissen die Konsumenten dieser Inhalte, dass diese wahr sind? Gemäss einer anderen US-Studie, welche die Twitter-Nachrichten nach dem Boston Marathon untersuchte, waren 29 Prozent des Inhalts entweder Gerüchte oder Falschinformationen und 75 Prozent wurden via Mobiltelefon weitergeleitet. 51 Prozent der Inhalte waren persönliche Meinungen und Kommentare und schliesslich nur 20 Prozent, ein Fünftel, waren nachweislich wahr. Eine andere Studie des Pew Research Centre nimmt an, dass 23 Prozent der US-amerikanischen Erwachsenen wissend oder unwissend Fake News weitergeleitet haben.
Während in Ländern wie Brasilien 66 Prozent der Nutzer vor allem Social Media als primäre Informationsquelle nutzen (in den Vereinigten Staaten sind es 45 Prozent), sieht es in Europa etwas besser aus. Im Vereinigten Königreich waren es 39 Prozent, in Frankreich 36 Prozent und in Deutschland 31 Prozent der Nutzer (2018)2. Gemäss einer Reuters-Studie gingen 65 Prozent der untersuchten Menschen nicht direkt zur direkten Nachrichtenquelle, beispielsweise einer grossen Nachrichtenagentur, sondern erhielten ihre Nachrichten über Social Media, die Google-Suche, E-Mail und andere Quellen. Hier gibt es von Land zu Land Unterschiede. In Finnland und Norwegen etwa gehen zwei Drittel der Nutzer direkt zur Nachrichtenquelle. Ebenfalls kann nach Altersgruppen unterschieden werden: 73 Prozent der unter 35-Jährigen erhalten ihre Nachrichten nicht direkt von der Quelle, sondern über Social Media und andere Kanäle.3
Wie ist die Situation in der Schweiz? Gemäss der genannten Reuters-Studie sind erstaunlich viele Nutzer (80 Prozent) online, um Nachrichten zu erhalten – 50 Prozent der Nutzer sind zu diesem Zweck auf Social Media präsent. 33 Prozent leiten Nachrichteninhalte per Social Media oder E-Mail weiter. In Schweden beispielsweise sind 87 Prozent online und 30 Prozent leiten die Nachrichten weiter. Der Trend in Schweden ist allerdings, die Nachrichtendienste zu abonnieren. 26 Prozent der Schweden zahlen für ihre Nachrichten. Dies bringt uns zum Thema: Wem trauen die Medienkonsumenten? In Schweden trauen fast zwei Drittel der Befragten dem Staatsradio bzw. -fernsehen. In der Schweiz in beiden untersuchten Landesteilen trauen die befragten Menschen ebenfalls dem Staatssender.
Wenn wir uns auf die Schweiz konzentrieren und uns fragen, wem die Menschen trauen, dann sind es in der Deutschschweiz vornehmlich die staatlich kontrollierten Sender, gefolgt mit fast gleich hohem Ranking von der NZZ und mit wenig Abstand dem «Tages-Anzeiger» in den Print- und Online-Medien. In der Romandie folgt nach dem Staatssender gleichauf «Le Temps», ungefähr gleich, aber sogar höher gewichtet als die NZZ. Am Schluss der Liste des Vertrauens in bezug auf den Wahrheitsgehalt kommt der «Blick», in der Romandie Yahoo News und MSN.
Fake News: ein neues Phänomen?
Der Datenspezialist Paul Wälti hat einen guten Überblick über die Quantensprünge der Informationsverbreitung gegeben. Er beginnt mit Palmyra 2000 v.Chr., als Informationen nicht mündlich überliefert wurden, sondern erstmals mittels eines Mediums, nämlich Stein und Keramik. Das von Sokrates Gesagte wird uns von Platon überliefert, wie Papyrusfragmente belegen. Später übernehmen im Westen Klöster die Rolle der schriftlichen Dokumentation. Schliesslich erfindet Gutenberg die Druckerpresse mit beweglichen Lettern, 1450. Es dauert fast 500 Jahre, bis Film, Radio und Fernsehen einen neuen Meilenstein legen. Die Produktion ist immer noch kontrolliert durch die Menschen, welche diese Ressourcen in ihrer Hand haben.
Seit gut 11 Jahren ist nun potentiell jeder ein Gutenberg, der ein Smartphone in der Hand hält. Laut dem Medien-Think-Tank American Press Institute sind 58 Prozent der Nutzer von Smartphones auf Seiten wie Yahoo News, BuzzFeed, Huffington Post und anderen Blogs unterwegs, während es bei Nicht-Smartphone-Nutzern nur 26 Prozent sind. Diese Art zu kommunizieren und die Inhalte sind frei, bergen aber eine Gefahr: Gutenberg unlimited.
Werfen wir einen Blick zurück in die jüngere Geschichte. Fake News, das ist doch etwas Modernes, nicht wahr? Und wie war das damals, als Hitler-Deutschland Polen überfiel? «Ab 5.45 Uhr wird zurückgeschossen», war da jemals ein Angriff der Polen? Wir wissen längst, dass dem nicht so war. Und klar: Die Nazis würden zu so einer Lüge greifen, um den Zweiten Weltkrieg zu beginnen. Demokratien wie unsere würden so etwas nie tun.
Doch wie war das damals mit dem Tonkin-Zwischenfall, der zum Eingreifen der Vereinigten Staaten in den Vietnamkrieg führte? Im Kern nicht anders. Nordvietnamesische Schiffe hätten grundlos US-amerikanische Schiffe im Golf von Tonkin beschossen, weshalb die Vereinigten Staaten «gezwungen» waren, am 4. August 1964 in den Krieg einzutreten. Das andere bekannte Beispiel ist der Irakkrieg, 2003, wo der Kriegsgrund war, dass Massenvernichtungswaffen im Irak vermutet wurden. Es gibt auch weniger dramatische Beispiele, wie das von George Soros. In Ungarn wird er bezichtigt, antichristliche Kampagnen anzuführen, weshalb seine Universität geschlossen wurde.
All das mag nicht neu sein. Schon im alten Rom hiess es: Audacter calumniare, semper aliquid haeret – verleumde nur dreist, es bleibt immer etwas hängen. Was sich heute geändert hat, ist die atemberaubende Geschwindigkeit und die unkontrollierbare Verbreitung jeglicher Informationsinhalte. Beide Komponenten sind aus meiner Sicht potentiell gefährlich für die liberale Ordnung. Rasch von vielen Nutzern geteilte Fake News können zu einer Informationsdominanz minderwertiger Nachrichten führen. Aus Empfängern werden vervielfachende Sender – die Gratisinformation macht es möglich. Diesen Umstand können sich Populisten leicht zunutze machen. Wie Hannah Arendt sagte: «Zu wenig Wertschätzung für die Wahrheit, und wir öffnen dem Totalitarismus Tür und Tor.»
Wie kann man sich vor Fake News schützen? Am ehesten durch Wachsamkeit, beständiges Hinterfragen, wie es in einer Demokratie eben üblich ist. Der kritische Geist wird das Gespräch mit offenen und am Austausch interessierten Menschen suchen. Wer es kann, sollte reisen und vor Ort mit Menschen sprechen, um Nachrichteninhalte zu validieren. Besonders wichtig ist es, ungeprüfte Nachrichten, vor allem wenn sie sensationellen Inhalt haben, mit Bedachtsamkeit zu prüfen, bevor man sie zu verteilen gedenkt. Liberale Verantwortung zu tragen bedeutet, daran zu denken, dass wir alle heute Redakteure der Wahrheit sind: Heute sind wir alle Gutenberg.