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Jeanne Hersch – hundert Jahre

Euphorischer Aufschwung und Scheitern zugleich: darin besteht die bleibende Erfahrung der ersten Liebe in Jeanne Herschs kurzem Roman gleichen Titels. Gerade weil sie beteuert, glücklich verheiratet zu sein, hält es die schwangere Protagonistin für dringlich, ihrem Mann (der während des Krieges an der Grenze wacht) davon zu berichten. Sich den «Mühen» des Schreibprozesses unterziehend, versucht […]

Euphorischer Aufschwung und Scheitern zugleich: darin besteht die bleibende Erfahrung der ersten Liebe in Jeanne Herschs kurzem Roman gleichen Titels. Gerade weil sie beteuert, glücklich verheiratet zu sein, hält es die schwangere Protagonistin für dringlich, ihrem Mann (der während des Krieges an der Grenze wacht) davon zu berichten. Sich den «Mühen» des Schreibprozesses unterziehend, versucht sie «eine Einheit zu erkennen, die Einheit meines Lebens, die Einheit meiner selbst» – etwas, von dem die Autorin nachmals bemerken wird, dass der Mensch immer darauf hinziele, ohne es je erreichen zu können.

Liebe erscheint in diesem Text als Zeichen eines (im doppelten Sinne) «Unfassbaren», als das Medium unerhörter Ausgesetztheit und Empfänglichkeit, als die Emphase des Lebens im «Wunder», die weit über ihren Anlass hinausreicht: «Ein gestaltloses Sein drang in mich, weitete mich, dehnte mich in alle Richtungen aus, in einem unendlichen Begehren, das die ganze Umarmung des ganzen Universums nicht zu stillen vermöchte. Der alte Durst, der alte Hunger, die alte Liebe vor jeder Liebe. Niemals wird jene Liebe erwidert werden. Niemals.»

Es ist eine sie im Innersten erschütternde Erfahrung, die der jungen Frau sehr konkret zuteil wird und ihr ganzes Wirklichkeitsverhältnis herausfordert. Zunächst völlig in die eigene Subjektivität entrückt (in der die eigentliche Handlung spielt), führt deren Annahme die Erzählerin schliesslich zur schmerzlich geläuterten Hinwendung zur Welt der Objekte: «Ich war nicht mehr von allem abgeschnitten, aber alles war ausserhalb von mir, und ich begann, mein Leben ausserhalb von mir zu leben, in der Liebe zu den Dingen und im geduldigen, nüchternen Suchen nach den Dingen.»

Ohne jemals in den Duktus von Beispielprosa zu verfallen, ist die existenzphilosophische Grundierung des Geschehens doch unverkennbar und schlägt sich in einer entsprechenden Wortwahl nieder: «Wir sind da hineingeworfen…», heisst es an einer Stelle. Grenzsituationen gewinnen Gestalt, Stadien von «Verzweiflung» und «Angst» angesichts der «niederschmetternden Wehen des Nichts» sind zu bestehen und von einem «Leben … in der Schwebe» ist die Rede.

Mit 30 geschrieben, 1942 erschienen und erst anlässlich einer Neuausgabe Mitte der siebziger Jahre als Werk der inzwischen bekannten Philosophin von der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen, erscheint der beeindruckende Roman zum 100. Geburtstag von Jeanne Hersch nun erstmals in Irma Wehrlis vollständiger deutscher Übersetzung. Charles Linsmayer, der für die Auswahl des Programms der Reihe «Reprinted by Huber» verantwortlich ist, hat ihn vorzüglich flankiert. Was bescheiden als «biographisches Nachwort» angekündigt wird, entpuppt sich als spannende lebens- und werkgeschichtliche Darstellung von 90 (leider arg kleingedruckten) Seiten.

Mit Jeanne Herschs Beziehung zu dem politisch engagierten Genfer Lateinprofessor André Oltramare erschliesst der Herausgeber detailliert die biographischen Hintergrundimpulse des Textes, dessen Stärke sich freilich ganz aufgrund seiner ästhetischen Qualitäten zu entfalten vermag. Nicht zuletzt ist er auch ein wichtiges Zeugnis für bleibende Denkmotive seiner Verfasserin. Linsmayer zeichnet ihren Weg detailliert nach: wie die Tochter nach Genf emigrierter jüdisch-polnischer Sozialrevolutionäre als Schülerin von Karl Jaspers mit ihrem Buch «L’illusion philosophique» (1936) früh schon prominente Anerkennung findet, wie sie, hochgeschätzt über die Grenzen ihres Landes hinaus, zur ersten Philosophieprofessorin der Schweiz und dort während der letzten dreissig Jahre ihres langen Lebens zu einer intellektuellen Instanz von grosser Breitenwirkung wird, die zu den unterschiedlichsten Fragen Stellung bezieht, wobei sie, mit einem gewissen Hang zum Rigorosen, immer wieder Positionen gegen den Strom vertritt.

«Ich bin eher eine Präsenz in meiner Zeit als die Autorin eines Werks», sagte Jeanne Hersch über sich selbst. Ihre Wirkung durch bewusste Zeitgenossenschaft steht ausser Frage. Inwieweit hier wie dort gleichwohl ein Bescheidenheitstopos vorliegt, kann anhand eines ebenfalls mit Bildmaterial versehenen Lesebuchs überprüft werden, das Monika Weber und Annemarie Pieper aus kürzeren Arbeiten Jeanne Herschs – zwanzig Vorträgen, Abhandlungen und Gesprächen, viele davon bisher noch nicht veröffentlicht, alle nach der Fassung im umfangreichen Nachlass – nach Schwerpunkten zusammengestellt haben.

Deutlich wird hier vor allem die unermüdliche Besinnung auf «Konstanten des Menschseins» als Mitte des Denkens dieser innerweltlichen Heilsversprechen gegenüber so skeptischen Sozialistin, die letztlich wohl eine glühende Liberale war. Von dieser Mitte aus geht sie ihre bevorzugten Themen an: die Befindlichkeiten des einzelnen, der in die Freiheit zur Entscheidung und damit vor die Notwendigkeit der Sinnfindung gestellt ist; die Erziehung zur mit dem Menschsein einhergehenden Verantwortung sowie das Zusammenleben unter den Vorzeichen von Demokratie und Menschenrechten. Sie gelangt zu Zeitdiagnosen wie derjenigen des «Nihilismus» der von 1968 ausgehenden Bewegung, die in ihrer Anwendung auf die Zürcher Jugendunruhen Anfang der achtziger Jahre und das Versagen der Elterngeneration Jeanne Hersch viele Anfeindungen eintrugen. «…der Feind heutzutage» war für sie «die Leere», die Abwesenheit von «philosophischer Sinndeutung».

Was also bleibt von dieser Anwältin der (mit einem ihrer Lieblingsbegriffe) «Treue» zum Menschen, angesichts einer Gegenwart, in der das Funktionieren der Strukturen und Systeme längst mehr zu interessieren scheint als dieser selbst, in der alte Substanzfragen nach seinem irreduziblen Wesen längst unter Verdacht geraten oder erledigt sind und Anthropologie nur mehr im historischen Sinne betrieben wird? Zehn Jahre nach ihrem Tod scheint Jeanne Hersch, wie im Äusseren mit den streng zurückgekämmten, in einen Knoten gefassten Haaren, hoffnungslos aus der Zeit gefallen zu sein. Unverkennbar gehört sie zur Tradition eines alteuropäischen Humanismus, von dem unwahrscheinlich ist, dass er irgendwann noch einmal zur Avantgarde werden könnte.

«Die echte Intelligenz … verwandelt beim Menschen alles Wissen in eine Frage», heisst es in einem Vortrag der Philosophin von 1989, und knapp fünf Jahrzehnte zuvor schon in ihrem Roman: «Worauf kommt es an, was zählt, was ist heilig…?». Elementare Anstösse wie diese behalten gleichwohl ihren Stachel, zumal wenn sie so eindringlich an uns herangetragen werden.

Jeanne Hersch: «Erste Liebe». Frauenfeld: Huber, 2010

Jeanne Hersch: «Erlebte Zeit. Menschsein im Hier und Jetzt». Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 2010

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