Jean-Jacques Rousseau – «Dénaturer l’homme»
Es gibt viele Wege, die Werke von Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) zu deuten. Die Befürworter und Gegner der Französischen Revolution, der romantischen Bewegung, des Sozialismus, des Faschismus, des Kommunismus, der liberalen Demokratie – alle haben sie mitunter auch den grossen Genfer vor den eigenen Karren gespannt. Selbst Fidel Castro hat betont, Rousseau sei noch […]
Es gibt viele Wege, die Werke von Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) zu deuten. Die Befürworter und Gegner der Französischen Revolution, der romantischen Bewegung, des Sozialismus, des Faschismus, des Kommunismus, der liberalen Demokratie – alle haben sie mitunter auch den grossen Genfer vor den eigenen Karren gespannt. Selbst Fidel Castro hat betont, Rousseau sei noch vor Marx sein Lehrer gewesen.
Manche mögen in den Mann hineingelesen haben, was sie bei ihm finden wollten. Tatsache ist aber auch, dass sich in seinen Schriften für manche Seite etwas findet. Rousseau fordert einmal dies, dann zweimal jenes, und er untermauert beide Postulate mit guten Argumenten. Einmal kommt er als leidenschaftlicher Individualist daher, dann wieder zählt allein das Kollektiv. Seinen Rezepten haftet bisweilen ein anarchischer, dann wieder ein autoritärer, ja totalitärer Beigeschmack an. Das Werk gibt tatsächlich vieles her, es strotzt geradezu vor Widersprüchen. Sind es echte Widersprüche?
Den Vorwurf mangelnder Systematik hat Rousseau stets ohne Widerrede akzeptiert. Umso heftiger protestiert er dort, wo ihm Widersprüche in der Sache vorgehalten werden. «Alle meine Vorstellungen hängen zusammen», ruft er einmal aus, «nur kann ich sie nicht alle auf einmal darlegen!» Wenn er wider den äusseren Anschein die innere Geschlossenheit seines Werks beteuert, dann mit guten Argumenten. Hatte er nicht erst mit 37 Jahren ernsthaft zu schreiben begonnen? Waren die wichtigsten Schriften nicht in einem Zeitraum von nur zwölf Jahren entstanden?
Diese seine wichtigsten Schriften, heisst es in einem späteren Brief an Malesherbes, seien die Verwertung einer einzigen, grundlegenden Erkenntnis gewesen – jener Eingebung nämlich, die ihn am Ende eines langen Reifeprozesses im Herbst 1749 unter einem Baum bei Vincennes wie ein Blitz getroffen und seither nicht mehr losgelassen habe. Die fundamentale Bedeutung dieser Eingebung wird durch seine Biographie erhellt.
Jean-Jacques wird 1712 als Sohn eines Uhrmachers in Genf geboren. Die Mutter stirbt kurz nach der Geburt, eine Tante springt fürs erste ein. Früh kommt er bei einem Pastor in Pension, dann zu einem Onkel. Die schulische Ausbildung bleibt verkürzt; schon der Dreizehnjährige muss eine Lehre als Graveur beginnen. Fünf Jahre soll die Ochsentour dauern; nach drei Jahren reisst der Junge aus und geht allein, zu Fuss, auf Wanderschaft.
Es folgen bewegte, im ganzen unbeschwerte Lern- und Wanderjahre im näheren und weiteren Umkreis einer ebenso vornehmen wie lebenslustigen katholischen Dame, die ihm der Reihe nach Mutter, Freundin und Geliebte sein wird. Unter dem Einfluss der Madame de Warens wechselt Rousseau die Konfession. Er lernt den Adel kennen und kehrt seiner einfachen Herkunft den Rücken. Nach allen Richtungen greift er in die Welt hinaus und versucht sich in verschiedensten Rollen. Noch weiss er aber nicht, was er mit seinem Leben will. Eine Aufgabe, eine Berufung, ein fester Rhythmus seiner Gedanken sind nicht zu erkennen. Er liest, was ihm unter die Augen kommt, er lernt Musik, beginnt zu komponieren und entwirft eine neue, originelle Notenschrift.
Sein Ehrgeiz treibt ihn schliesslich nach Paris. Dort scheint Rousseau geradezu versessen darauf, das mondäne Spiel der Welt zu spielen. Er bemüht sich nach Kräften, gewinnt einflussreiche Freunde, bald auch Zutritt zu den Salons. Der Durchbruch indessen will nicht gelingen; zu linkisch, zu wenig geschliffen, so hört man, sei das Auftreten des Genfers. Eine verheissungsvolle Anstellung als Sekretär des französischen Botschafters in Venedig endet mit Entlassung. Zurück in Paris, fordert das brillante gesellschaftliche Treiben der Grossstadt Jean-Jacques erneut in seinem Innersten heraus; bald aber zerspringt er wie eine zu straff gespannte Saite unter dem Zwang zu Anpassung und Heuchelei. Nach aussen spielt er weiter mit, verkehrt in gehobenen Kreisen. Seine persönlichen Verhältnisse hält er indessen vor der Welt verborgen, wie etwa das Verhältnis mit einem Proletariermädchen, bei dem er als falscher Onkel haust und dessen Kinder – seine Kinder – er der Reihe nach ins Findelhaus bringt. Gekommen war er, in Paris zu glänzen. Paris aber bleibt in mancher Hinsicht unerreichbar, jenseits seiner Möglichkeiten.
Über die Zeitung erfährt er im Herbst 1749 von einem akademischen Preisausschreiben. Abzuhandeln ist die Frage, ob der Fortschritt der Wissenschaften, ob die Verfeinerung von Kunst und Kultur dem Menschen sittlich zuträglich seien. «Nein!», schreit es aus ihm heraus, und in diesen Sekunden – mit Schwindel und Herzklopfen, mit schwerem Atem und unter Tränen – erkennt Rousseau sein eigenes, persönliches Lebensproblem. Nein, die vermeintlichen Vorzüge und Errungenschaften moderner Hochkultur können den Menschen nicht glücklich machen – sie machen ihn krank.
Der Mensch ist «gut» von Natur; er wird «schlecht» durch die Gesellschaft und ihre Institutionen: diese «traurige Wahrheit» hat Rousseau nach Vincennes bewegt, geplagt und umgetrieben. In wenigen Jahren fieberhafter Schaffenskraft hat er sie zu einer umfassenden Sozialtheorie verwertet. Das normative Leitmotiv ergab sich dabei direkt aus der Grunderkenntnis selbst. Wenn der Mensch einst «gut» war, in der Folge aber «schlecht» geworden ist, «welches sind dann die Bedingungen des guten Lebens in der Gegenwart?». Eine andere Formulierung trifft das Motiv in gleicher Weise: «Wenn der Mensch einst gesund war, in der Folge aber krank geworden ist, unter welchen Bedingungen kann er dann wieder gesunden?»
Zumindest in den Augen unseres Autors entspricht die Übertragung ins Medizinische einem durchaus realen Sachverhalt. Der moderne Mensch ist nicht nur moralisch verdorben, sondern auch psychisch gespalten, und darum recht eigentlich krank. Die tieferen Ursachen und mannigfaltigen Erscheinungsformen beider Übel hat Rousseau eingehend untersucht und im Rahmen einer explizit als hypothetisch deklarierten Menschheitsgeschichte nachgezeichnet. Das schlechthin verhängnisvolle Moment dieser Entwicklung ortet er dabei im Aufkommen persönlicher Abhängigkeit aus der Teilung von Arbeit.
Vorher ist buchstäblich alles in Ordnung. Der vorgesellschaftliche Naturmensch erscheint zwar als rundum begrenztes, aber auch rundum gesundes Wesen. Er genügt sich selbst: er ist unabhängig von anderen Menschen, fähig also, seine einfachen materiellen und seelischen Bedürfnisse allein zu befriedigen. Noch die Hirten des «goldenen Zeitalters» sind anstrengungslos glücklich, anstrengungslos gut für sich selbst und für andere, weil eins mit sich und mit dem Ganzen einer natürlichen Ordnung.
Das Verhängnis setzt, äusserlich gesehen, mit der Arbeitsteilung zwischen Ackerbau und Handwerk ein. Sie bringt räumliche Abgrenzungen mit sich, die Institution des Eigentums und erste Regeln der Justiz. Ebenso bewirkt sie die soziale Differenzierung bis anhin gleicher, vor allem aber die wechselseitige Abhängigkeit bis anhin unabhängiger Menschen. Die moralischen und psychischen Folgen sind verheerend. Unter dem Eindruck aufkeimender Verschiedenheit und persönlicher Abhängigkeit wird die natürliche Selbstliebe des Menschen von einer unnatürlichen Selbstsucht verdrängt, die «habgierig, ehrgeizig und böse» macht. Vom amour propre getrieben, tritt der Mensch aus der natürlichen Ordnung heraus und stellt sich selber ins Zentrum der Dinge.
Was den Menschen auch psychisch krank macht, ist die widersprüchliche Anlage seiner Abhängigkeit. Sie zwingt ihn in die Beschäftigung mit Menschen, denen er nicht etwa nahesteht, sondern auf die er bloss angewiesen ist. Sie werden zu Mitteln, die er kontrollieren will, um seine Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Um aber Mittel zu kontrollieren, muss er ihnen gehorchen, er muss ihre Funktionsweise kennen. Um etwa Macht und Einfluss zu gewinnen, muss er sozialen Spielregeln folgen. Gerade der selbstsüchtige Mensch sieht sich permanent in die soziale Anpassung hineingezwungen. Die Internalisierung dieses Widerspruchs spaltet seine Seele.
Eine Abhängigkeit, die auf blosser Notwendigkeit beruht, spaltet nicht nur den, sondern untereinander auch die Menschen. Weil sie aufeinander angewiesen sind, diesem Zustand aber entkommen wollen, werden sie zu Konkurrenten um Macht und Kontrolle. Nicht, dass die moderne Gesellschaft nur krank und böse machte. Sie hat, so Rousseau, auch Gutes, ja das Beste an menschlichen Fähigkeiten zur Entfaltung gebracht. Die negativen Seiten aber überwiegen die positiven, und der Kern des Übels ist nunmehr bekannt: es ist persönliche Abhängigkeit.
In Entsprechung zur Diagnose wählt Rousseau seine Remedur. Es gilt, den Menschen aus persönlicher Abhängigkeit zu befreien und dadurch wieder eins zu machen. Dies kann indes nur dadurch gelingen, dass man ihn ganz auf die eine oder ganz auf die andere Seite jenes Widerspruchs stellt, der seine Seele spaltet. Entweder er wird gänzlich getrennt von der Gesellschaft und lebt in selbstbezogener Einsamkeit, oder er wird gänzlich mit ihr verbunden und geht in der Gemeinschaft auf.
Im Hinblick auf die Gesundung des Menschen empfiehlt Rousseau also zwei diametral entgegengesetzte Wege, einen extremen Individualismus oder einen extremen Kollektivismus, den Rückzug aus oder das Aufgehen in der Gemeinschaft. Es sind dies gedankliche Zuspitzungen, denknotwendige Vorgaben aus der inneren Konsequenz des Modells. Beide Wege führen idealiter zum gleichen Ziel: zu einer neuen Einheit der menschlichen Seele, gleichzeitig zur Befreiung aus persönlicher Abhängigkeit – in die Freiheit also. Die eine, individualistische Lösung zielt auf die «natürliche», die andere, politische Lösung auf die «bürgerliche» Freiheit.
Die individualistische Lösung ist die allein natürliche, weil sie allein der ursprünglichen Selbstbezogenheit des Menschen entspricht. Unter den Bedingungen moderner Zivilisation aber ist eine isolierte Existenz kaum mehr möglich. Rousseau selber hat nach Vincennes diesen Weg versucht und im Rahmen seiner autobiographischen Werke Zeugnis von der enormen Schwierigkeit des Unterfangens abgelegt.
Es bleibt die andere, die politische Lösung. Wenn es nicht mehr möglich ist, die Menschen zu trennen, muss man sie gänzlich miteinander verbinden. Um sie bis ins Innerste auf die Gemeinschaft auszurichten, muss man sie im Innersten von ihrer Selbstsucht befreien. Im therapeutischen (will heissen: im erzieherischen und politischen) Teil seines Werks wird Rousseau zum Techniker der menschlichen Natur. Er will den Menschen radikal in seinem Wesen ändern, ihn recht eigentlich «umdrehen» und kollektivieren – «dénaturer l’homme, lui ôter son existence absolue pour lui en donner une relative, et transporter le moi dans l’unité commune».
«Dénaturer l’homme» – am Anfang dieses zeitaufwendigen Prozesses steht der moderne, seelisch gespaltene Gesellschaftsmensch, der alles auf sich selbst bezieht. Am Ende steht der seelisch geeinte Gemeinschaftsmensch, der seine Person auf das Ganze bezieht. Ein formidables Programm; eine ganz und gar unnatürliche Aufgabe aber auch, weil sie der Natur des Menschen völlig zuwiderläuft – seiner natürlichen Selbstbezogenheit von einst ebenso wie seiner Selbstsucht in der modernen Gesellschaft. Kann man wirklich darauf hoffen, aus selbstsüchtigen Egoisten selbstlose Glieder eines Ganzen und also gute Bürger zu machen?
Rousseau rechnet keineswegs damit, dass die Menschen von sich aus einen Weg anstreben, den die meisten gar nicht erkennen. Wo es an höherer Einsicht ebenso mangelt wie an Willensstärke, hilft zunächst nur Zwang. Dies ist Rousseaus Realismus: solange die Menschen von sich aus nicht das Richtige tun, muss man sie zum Richtigen zwingen. Und dies ist Rousseaus Hoffnung: wenn sie alleine nicht zur Tugend finden, so kann man sie doch zur Tugend führen, auf Gemeinschaft hin erziehen – durch Vorbild und Unterweisung ebenso wie durch gute Institutionen.
Soviel zu den Grundlagen seiner Sozialtheorie. In praktischer Hinsicht war Rousseau überzeugt davon, dass auch der zweite, der politische Weg nur den wenigsten Völkern Europas noch offen stand. Seinen Auftrag sah er darin, jenen bedrohten Republiken zu helfen, deren bürgerlich-moralische Substanz noch nicht ausgezehrt war. Die idealisierende Überhöhung von «Genf» auf der einen, die polemische Ablehnung von «Paris» auf der anderen Seite erscheinen damit als antithetisch verknüpfte Ausdrucksformen einer einzigen, praktischen Mission. In Genf, auf Korsika, in den isolierten Schweizer Republiken ging es darum, Bürger also solche zu bestärken; daraus folgte die Notwendigkeit allgemeiner und öffentlicher Erziehung. In England dagegen, in Frankreich konnte es nur noch darum gehen, junge Menschen gegen Staat und Gesellschaft abzuschirmen; von daher die Notwendigkeit privater Erziehung in den Monarchien. Kein Wunder also – und keine Widersprüche –, wenn Rousseau je nach Wahl der Adressaten unterschiedliche Ratschläge gab.
CHRISTOPH FREI, geboren 1960, ist Titularprofessor für Internationale Beziehungen und politische Ideengeschichte an der Universität St. Gallen