Je reicher, desto ethischer
Den Konsumenten geht es längst nicht mehr nur um Preise, sondern auch um Werte. Die Unternehmen interessieren sich nicht mehr nur für Rendite, sondern auch für Ethik. Erfindet sich der Kapitalismus gerade neu, und niemand merkt es?
Wenn man heute von «Global Governance» spricht, meint man also gerade nicht die Regierung eines Weltstaates, sondern das sozial verantwortliche Handeln grosser Unternehmen und Organisationen. Neben die Profitmaximierung tritt gleichberechtigt die Aufgabe der Sorge für den Blauen Planeten und dessen Bewohner. Sie stützen sich nicht auf die planende Vernunft der Eliten, sondern auf das Wissen der vielen, das dezentral in der Weltgesellschaft verteilt ist.
Soziales Kapital
Während die Nationalstaaten also zunehmend an Einfluss verlieren, formiert sich heute ein «neues Mittelalter» der Netzwerke und multiplen Autoritäten. Netzwerke lösen Probleme, die der einzelne noch nicht einmal formulieren kann. Damit solche Netzwerke funktionieren, muss ausreichend grosses soziales Kapital vorhanden sein. Das ethische Zauberwort des modernen Managements, «Commitment», meint genau diese überbrückende Kraft sozialen Kapitals.
Das sind technische, genauer: medientechnische Möglichkeitsbedingungen eines guten Kapitalismus. Doch worin besteht
seine Affektstütze? Der amerikanische Soziologe und Ökonom Albert Hirschman hat sehr schön gezeigt, wie der Kapitalismus die grossartige Kulturleistung erbrachte, die Leidenschaften und ihre Ungewissheiten in den Griff zu bekommen. Im System des kapitalistischen Wirtschaftens wurden die Menschen leidenschaftsloser, trockener und berechenbarer – man könnte sagen: sie wurden auf Zivilisationstemperatur gebracht. Das Profitmotiv ersetzte den thymos, zu Deutsch: Herz, Mut und Gesinnung. «Mehr Geld» statt Ehre. Der Geist des Kapitalismus entstand also durch rationale Temperierung – im Gegensatz zur Gier des kapitalistischen Abenteurers.
Die neuen Werte
Im Profitmotiv «mehr Geld» liegt der Akzent nicht auf «Geld», sondern auf «mehr». Natürlich wollen wir bekommen, was wir uns wünschen, aber mehr noch wollen wir herausfinden, was wir wirklich wollen. So können wir das Leben heute als Erforschung eines Wertefeldes betrachten. Mit dem Sieg des Kapitalismus wurde der Blick wieder frei auf die nichtökonomischen Kräfte – also die sozialen und moralischen Werte, das Begehren nach Anerkennung – und auf die andere Seite der Vernunft, also Gefühle, Geschichten.
Die gemeinsamen Werte, die die globalisierte Welt organisieren werden, bilden sich nicht in der Politik, sondern im Business.
Es geht heute vor allem um Werte wie Authen-tizität, Vertrauenswürdigkeit, Reputation, Transparenz, soziale Verantwortlichkeit, Nachhaltigkeit, Teamgeist, Fairness, Respekt, Sorge, Bürgerlichkeit. Ob die organisatorische Verkörperung dieser Werte gelingt oder nur die Werberhetorik einer ethischen Plakatwelt geboten wird, entscheiden die Kunden als Bürger, die gerade auch im Akt des Konsums zu Wertewählern geworden sind.
Die Welt des Luxus ist die Phantasiewelt der absoluten Werte. Und auch wenn sich in Zeiten der Wirtschaftskrise die Aufmerksamkeit wieder von Gucci zu Aldi verschiebt, bleibt doch die Frage nach dem Luxus die lehrreichste. Jahrelang ging das Gespenst des Discounts um und hat alle Marktbeobachter blind gemacht für eine tiefgreifende Veränderung unseres Wirtschaftslebens. Doch sobald die Zeichen wieder auf Aufschwung stehen, verblasst die Faszination durch die kleinen Preise, und es wird deutlich, dass sich Kunden und Unternehmen des 21. Jahrhunderts mehr als je zuvor an den grossen Werten orientieren. Dem geilen Geiz und dem Kult des Saubilligen zum Trotz entscheiden in der globalisierten Welt nicht die Preise, sondern die Werte. Und dabei zählen neben den wirtschaftlichen eben auch so-ziale und moralische Werte, die sich weltweit Geltung verschaffen.
Arbeitslose Kulturkritiker
Ein erfolgreiches Produkt ist nicht nur technisch-sachlich von hervorragender Qualität, sondern vermittelt auch einen spirituellen Mehrwert. Der moderne Kunde will nicht nur befriedigt und verführt, sondern auch verändert werden. Und das Unternehmen der Zukunft macht nicht nur Profit, sondern übernimmt auch soziale Verantwortung.
Je reicher, desto ethischer! Das ist die erstaunliche Lektion, die uns der sorgende Kapitalismus in den letzten Jahren erteilt hat. Auf der Ebene des Konsums sind wir es ja schon gewohnt, dass Kunden «Ethikmarken» konsumieren und mit gutem Gewissen geniessen wollen. Heute sehen wir, dass auch die Unternehmen und grossen Organisationen Profitorientierung und moralisches Handeln nicht mehr als Gegensatz, sondern als wechselseitiges Steigerungsverhältnis verstehen.
Die Kulturkritiker werden arbeitslos. Kulturkritik war nämlich immer nur die Busspredigt des Kapitalismus, hinter der letztlich die puritanische Vorstellung stand, Produktion sei die Sache der Erwählten, Konsum aber die Sache der Verdammten. Doch das grosse Nein negiert nichts mehr, sondern wird unmittelbar vermarktet. Der Aussenseiter wird zum Pop-Idol. Und Begriffe wie «Guerillakonsument» machen deutlich, dass Protest heute nur noch als bunter Tupfer auf der Konsumpalette auftaucht. Die Schwierigkeit, nein zu sagen, ist deshalb so gross, weil das Nein unmittelbar von einem Konformismus des Andersseins vermarktet wird und das Ja längst selbstironisch geworden ist.
Das System des Konsumismus übergreift also auch die Negation des Konsums durch die Zielgruppen, die sich dadurch definieren, dass sie keine Zielgruppen sein wollen. Offenbar gibt es keine Kritik, aus der die Werbung nicht eine Kampagne machen könnte. Werbung ist nicht mehr nur eine Sphäre der modernen Lebenswelt, sondern ihr Schematismus. Deshalb hat die Werbung es leicht, ihre zentrale Funktion für das System des Konsumismus zu erfüllen – nämlich dem Konsum das schlechte Gewissen zu nehmen.
Das ist gerade in unserer Überflussgesellschaft ein entscheidendes Problem. Was unser Gewissen quält, ist ja nicht nur das Wissen vom Elend der Welt, sondern auch das Gefühl, dass unser Wohlstand eine Funktion jenes Elends sei. Die Busspredigt der Kulturkritik suggeriert uns, Konsum sei schuld. Angesichts dessen hat die Werbung eine viel wichtigere Aufgabe, als naive Gemüter mit Luxusgütern zu blenden. Werbung verführt nicht nur zum Genuss, sondern erspart ihm auch die Reue. Sie hält die Gegenpredigt zur Kulturkritik – einen unendlichen Diskurs über den Sinn des Konsums und den Konsum des Sinns.
Für eine bessere Welt
Bekanntlich kann man heute Limonade für eine bessere Welt trinken und den Regenwald retten, indem man sich ein Bier gönnt. Das sind triviale Beispiele für den Konsumismus im Zeichen der ökologischen Korrektheit, der uns die Möglichkeit verspricht, eine bessere Welt zu kaufen. Das macht vielleicht nicht die Welt besser, aber in jedem Fall die moderne Gesellschaft robuster. Denn so wie die rote Kritik der 1968er hat unsere Gesellschaft jetzt auch die grüne Kritik der Ökos in sich hineinkopiert und damit ihre Immunität gestärkt.
Die grünen Produkte von Body Shop über den Toyota Prius bis zur Bionade bestücken einen riesigen Markt der Weltverbesserer, der von einer neuen, «grünen» Art der Markentreue getragen wird, die an die Einheit von Genuss, Ethik und Luxus glaubt. Das gute Produkt hat eine hohe sachlich-technische Qualität, es bereitet Freude, es verschafft ein gutes Gewissen – und Anerkennung. Wir müssen deshalb heute das Shopping als soziales Handeln und als Medium einer Sakralisierung des Alltags begreifen. Das amerikanische Akronym LOHAS («Lifestyles of Health and Sustainability»), das für einen Lebensstil der Gesundheit und Nachhaltigkeit steht, signalisiert die Wiederkehr der sektenhaft organisierten methodischen Lebensführung. Und das ist für unsere Leitfrage nach dem Geist des Kapitalismus von grösster Bedeutung: Konsum-ethik ersetzt die Arbeitsethik.
Die neue Einfachheit
Wie gibt man viel Geld aus, ohne zu protzen? Man investiert es in den eigenen Körper, in Küche und Bad, in kleine Dinge; man trinkt Wasser, das so teuer ist wie ein Wochenendeinkauf bei Aldi; man trägt Kleider, die lässig und nach Freizeit aussehen, aber aus unglaublich kostbarem Stoff gemacht sind; man macht Öko-Urlaub in garantiert touristenfreien Naturschutzgebieten. Statusinversion hat David Brooks das genannt. Die Erfolgreichen geben für die einfachsten Dinge des Lebens wie Kaffee, Nudeln und Seife ungeheuer viel Geld aus. Über dem Leben der Reichen liegt heute eine Patina der Einfachheit.
Als der Philosoph Alexandrè Kojève 1957 den Begriff «gebender Kapitalismus» in einem Vortrag präsentierte, wurde ihm entgegengehalten, niemand könne geben, ohne zuvor zu nehmen. Der Einwand bleibt natürlich richtig, und auch in Zukunft wird es Altruismus auf wirtschaftlicher Ebene nur geben, wenn er die Fitness eines Unternehmens steigert. Und dennoch hat Kojève etwas Entscheidendes gesehen.
Es geht hier um das Ende des eindimensionalen Kapitalismus, der jedes Geschäft mit der Frage nach der Organisation und dem Profit begonnen hat. Ganz anders der gebende – oder wie wir sagen: der sorgende Kapitalismus. Er hat von den Non-Profit- und den Non-Governmental-Organizations gelernt, dass man mit einer Mission, einer Vision, der Umwelt, der Gemeinschaft und dem Kunden beginnen muss. Die dialektische Pointe des sorgenden Kapitalismus besteht also darin, dass Profit und Non-Profit keinen Gegensatz mehr darstellen, sondern Non-Profit als Portal zum neuen Profit verstanden wird.
Während sich gerade die Intellektuellen in den vergangenen zwei Jahrhunderten daran gewöhnt hatten, das westliche Wirtschaftssystem mit Entfremdung, Gier und Kälte zu assoziieren – die Finanzkrise von 2008 ff. gab dazu wieder ausreichend Gelegenheit –, melden sich in jüngster Zeit immer häufiger die Stimmen eines sich um die Welt sorgenden Kapitalismus. Die Unternehmen arbeiten heute an einem Kapitalismus mit gutem Gewissen. Idealismus verkauft sich nämlich gut. Waschmittel sollen ethischen Standards entsprechen; an die Stelle von Ausbeutung soll der Fair Trade mit Entwicklungsländern treten. Grüner Punkt und das Siegel «umweltfreundlich» genügen nicht mehr – es geht um Ethik und um das gute Leben. Schon vor Jahren trat Body Shop auf, als sei es kein Unternehmen, das Waren verkaufen will, sondern eine Philosophenschule, die uns das wahre Leben lehrt.
Der neue kapitalistische Zeitgeist
Zug um Zug hat die moderne Gesellschaft die Forderungen der Französischen Revolution verwirklicht: die Forderung nach Freiheit wurde im Liberalismus des 19. Jahrhunderts erfüllt; die Forderung nach Gleichheit erfüllte der Sozialstaat des 20. Jahrhunderts. Und die Idee der Brüderlichkeit wird der sorgende Kapitalismus des 21. Jahrhunderts verwirklichen. Dieser Begriff bezeichnet eine tiefgreifende Spiritualisierung der Wirtschaft. Gerade deshalb sind wir so empört über Enron, Siemens, Lehman Brothers und die Hypo Real Estate.
Und wehe dem, der sich diesem neuen Zeitgeist entziehen will. Er wird abgestraft von Kunden, die als mündige Bürger konsumieren. Auch dafür hat man schon einen schönen neuen Begriff gefunden: ethical shopping. Statt wählen zu gehen, drücken die Bürger ihre politische Meinung durch ihr Kaufverhalten aus. Kunden bestrafen unmoralische Unternehmen. Und das ist möglich, seit sich die öffentliche Weltmeinung online bildet – Globalisierung prägt nun auch die Dynamik sozialer Bewegungen. Der Bürger, der sich heute politisch engagieren, also einen Unterschied machen will, geht nicht mehr in die Politik, die viel zu komplex geworden ist, sondern er geht auf den Markt der Sorge, der so kleinteilig und einfach ist, dass man mit jedem Konsumakt und jeder Spende die Welt verbessern kann.
Den Gegenpol zum Bionade-Trinken bilden die sogenannten «Divestment»-Bewegungen auf dem Aktienmarkt. Hier ein Beispiel: Darfur in Sudan assoziiert heute jeder Bewohner des Westens mit Völkermord. Grosse amerikanische Investoren wie Pen-sionsfonds reagieren mit ökonomischem Druck auf internationale Konzerne, die im Sudan Geschäfte machen, d.h. sie stossen deren Aktien ab. In solchen «Divestment»-Bewegungen gewinnen also Menschenrechte Einfluss auf Aktienkurse. So wie der so-ziale Unternehmer nicht einfach nur ein guter Mensch ist, sondern erkannt hat, dass in jedem sozialen Problem ein Geschäftsmodell steckt, so gilt heute auch umgekehrt: soziale Bewegungen entpuppen sich als Unternehmen, die neue Probleme auf dem Markt der Aufmerksamkeit verkaufen.
Die Sorge ist keine Fassade
Skeptiker werden einwenden, das alles sei nur Fassade. Und wenn bisher von der Ethik des Kapitalismus die Rede war, hatten Zyniker stets die Formel von Groucho Marx zur Hand: der Schlüssel zum geschäftlichen Erfolg sind Ehrlichkeit und fairer Handel. Wenn du das vortäuschen kannst, hast du’s geschafft. Doch ist Moral in der Wirtschaft tatsächlich blosser Schein? Der sorgende Kapitalismus kann sich auf zwei objektive Faktoren stützen: erstens die Moral der Kooperation und zweitens die Logik der Netzwerke.Die Kraft, die Moral wachsen lässt, steckt in den dauerhaften, weltweit vernetzten Geschäftsbeziehungen. Kooperation erzeugt Moral. Dass Menschen miteinander kooperieren, weil sie Vertrauen ineinander haben, ist für unser Thema mithin völlig uninteressant. Uns interessiert umgekehrt, wie Kooperationsangebote Vertrauen schaffen und wie Vertrauen dann die Transaktionskosten reduziert.
Raubtierkapitalismus dagegen ruiniert sich selbst. Wer Erfolg hat, indem er die Dummheit und Schwäche der anderen ausnutzt, zerstört damit die Umwelt, in der er Erfolg haben kann. Räuberische Strategien zerstören also ihre eigenen Erfolgsbedingungen. Und genau umgekehrt ist das Programm des sorgenden Kapitalismus eines, das gewinnt, ohne andere zu besiegen. Es begreift den Erfolg des anderen als Bedingung des eigenen. Erfolg habe ich demnach nicht durch Schwächung des anderen, sondern durch Stärkung der gegenseitigen Interessen. Erfolg hat, wer mit Erfolgreichen kooperiert.
Es geht also darum, Moral nicht ethisch, sondern ökonomisch zu begründen – nämlich aus der Evolution der Kooperation. Es ist intelligent, nett zu sein. Wer dagegen Erfolg sucht, indem er die Dummheit der anderen ausnutzt, zerstört damit die Umwelt, in der er Erfolg haben kann. Je komplexer das Wirtschaftssystem, umso mehr hängt der eigene Erfolg vom Erfolg des anderen ab. Zusammenarbeit und Wettbewerb sind kein Gegensatz, sondern die zwei Seiten derselben Medaille.
Deshalb reden heute alle von strategischer Allianz, symbiotischer Konkurrenz, aber auch Co-Evolution von Unternehmen und Kunden. In diesen Begriffen verbirgt sich die Unternehmensphilosophie des sorgenden Kapitalismus, dass Erfolg gerade nicht in der Vernichtung des Konkurrenten besteht. Open Source ist dafür ein gutes Beispiel: jeder nutzt es, keinem gehört es, jeder kann es verbessern. Die Gelegenheiten, die Netzwerke bieten, erzeugen die nötige Motivation. Deshalb kann man auch von der Geburt des sorgenden Kapitalismus aus dem Geist der Netzwerke sprechen.