Je grösser der Wohlstand, desto geringer die Wohlfahrt
Ich wollte eigentlich über die Alt-, Neu-, Krypto- und Postmarxisten schreiben, die ihre geheimen theoretischen Leidenschaften in den Feuilletons neuerdings wieder offen ausleben. Der Zufall – die kreuzweise Lektüre zweier Bücher – hat mir jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das erste Buch stammt vom britischen Historiker Tony Judt, der letzten Sommer verstarb: «Dem […]
Ich wollte eigentlich über die Alt-, Neu-, Krypto- und Postmarxisten schreiben, die ihre geheimen theoretischen Leidenschaften in den Feuilletons neuerdings wieder offen ausleben. Der Zufall – die kreuzweise Lektüre zweier Bücher – hat mir jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das erste Buch stammt vom britischen Historiker Tony Judt, der letzten Sommer verstarb: «Dem Land geht es schlecht. Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit» (2010). Judt beklagt darin den Sozialabbau im Europa der letzten 30 Jahre und fordert eine Rückbesinnung auf die Gemeinschaft und das Gemeinwohl. Nur eine Wiederbelebung der Sozialdemokratie kann uns noch retten. – Das zweite Buch ist ein Sammelband des liberalen Instituts: «Sackgasse Sozialstaat. Alternativen zu einem Irrweg» (2011). Die Diagnose steht in diametralem Gegensatz zu Judts These. Der Sozialstaat, argumentieren die beiden Herausgeber Christian Hoffmann und Pierre Bessard, wurde zu einer Umverteilungsmaschinerie umfunktioniert, die eine Mehrheit von Profiteuren schafft, die dessen Ausbau immer weiter vorantreiben. Das Ende sozialdemokratischer Illusionen ist der erste Schritt zur Besserung.
Kluge Autoren, zwei gegensätzliche Diagnosen – wie ist das möglich? Alles eine Frage der Perspektive. Die europäischen Wohlfahrtsstaaten des 20. Jahrhunderts haben in der Tat eigene Menschen mit eigenen, wohlfahrtsstaatlich geprägten Perspektiven hervorgebracht. Für diese Menschen klafft nicht nur die Schere zwischen Reich und weniger Reich, sondern jene zwischen faktischem Wohlstand und gefühltem Unwohlsein so weit auf wie kaum je zuvor. Dies hat mich auf ein drittes Buch aus dem Jahre 1958 gebracht: «Jenseits von Angebot und Nachfrage» des Ökonomen Wilhelm Röpke. Der Blick auf den Staat war damals durch das gefühlte Unwohlsein weniger getrübt als heute, auch wenn sich die Debatten entlang derselben Wahrnehmungsdifferenz bewegten. Röpke wies nicht nur vor über einem halben Jahrhundert luzide auf das Spannungsverhältnis von Wohlfahrtsstaat und Demokratie hin – Politiker kaufen sich die Stimmen ihrer wechselnden Wähler durch wechselnde wohlfahrtsstaatliche Versprechungen auf Kosten der jeweils anderen. Er dekonstruiert auch die Idee, dass der umverteilende Wohlfahrtsstaat per se einen sozialen Fortschritt darstelle – der Wohlfahrtsstaat befreit die Menschen nicht, sondern führt sie in eine neue Abhängigkeit.
Der Staat hatte zu Beginn des Industriezeitalters die Aufgabe, den «hilflosen Proletariern» in Notsituationen zu helfen. Doch kaum war diese «Phase in den fortgeschrittenen Ländern» überwunden, machte er sich daran, durch das Versprechen von Transferzahlungen aus unmündigen Proletariern abhängige Bürger zu formen. Röpke schreibt: «Wenn wir es mit der Achtung vor dem Menschen ernst meinen, sollten wir doch umgekehrt den Fortschritt vernünftigerweise daran messen, inwieweit wir heute damit rechnen können, dass die breiten Massen des Volkes aus eigener Kraft und Verantwortung durch Sparen und Versicherung (…) das Problem der Lebensvorsorge lösen.» Der moderne Wohlfahrtsstaat orchestriert jedoch eine «ständige Neuverteilung der Einkommen» und die Politisierung des Erwerbslebens. Die Folgen sind «Verstaatlichung» und «Nationalisierung» der bezugsberechtigten Bürger, die voller Argwohn über den kollektiven Vorsorgetopf wachen, in den und aus dem ihre Gelder fliessen.
Wohlfahrtsstaatlich erzogene Menschen ziehen den Konsum dem Sparen vor und delegieren die Sicherung gegen die Lebensrisiken an die staatliche Bürokratie. Marx hätte diesem Kollektivsystem zweifellos viel abgewinnen können. Griechen und andere – durch Realität oder Einsicht – aufgeklärte Europäer haben an der Wirksamkeit dieser Aufgabenteilung jedoch mittlerweile ihre Zweifel. Wer nichts gespart hat und am Ende nichts vom Staat erhält, dem geht es wirklich schlecht. Es wäre deshalb Zeit, über einen Sozialstaat des 21. Jahrhunderts nachzudenken, der Bedürftige gezielt unterstützt – und Nichtbedürftige dazu anhält, eigenverantwortlich vorzusorgen. Wie das geht, macht Chile vor. Aber unsere Politiker brauchen nicht so weit zu reisen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sie in den Sommerferien einige Stunden in die Lektüre kluger Bücher investierten.