Japan ist Warnung und Vorbild für Europa
Seit Jahren kämpft das Land mit einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung. Die Auswirkungen sind in ländlichen Gebieten ebenso sichtbar wie in Tokio.
Japan gilt unter den hochentwickelten Industrieländern als der Vorbote demografischer Veränderungen. Seit 2008, als der Höchststand von 128 Millionen erreicht wurde, hat die Bevölkerungszahl kontinuierlich abgenommen. Inzwischen ist sie um 3,7 Millionen geschrumpft. Dass bereits 1997 der Anteil der Menschen über 65 Jahre erstmals denjenigen der unter 14-Jährigen überstieg, zeigt, wie alt die Bevölkerung mittlerweile geworden ist. Seitdem hat sich der Anteil der Senioren nochmals verdoppelt; heute liegt er bei über 30 Prozent.
Der Geburtenrückgang und die Alterung der Gesellschaft werden in Japan schon lange als Problem anerkannt. Jeder Premierminister bezieht sich mit seinem Regierungsprogramm darauf. Trotz den vielen Ideen und Ansätzen drang bisher nichts zum Kern des Problems durch.
Leere Häuser und vergreiste Gemeinden
Bei einem Spaziergang durch die Quartiere Tokios stösst man nicht selten auf leerstehende und heruntergekommene Häuser. Architekten und Stadtentwickler mit dem Wunsch, Abhilfe zu leisten, verzweifeln am Problem, entfernte Verwandte für Verhandlungen ausfindig zu machen. Gemäss offiziellen Zahlen standen im Jahr 2018 landesweit 8,5 Millionen Wohnungen leer, was etwa 13,6 Prozent des Gesamtbestands entsprach.
Begibt man sich aufs Land, begegnet man – zum Beispiel beim Reisanbau Anfang Mai – vor allem älteren Semestern. Jüngere Generationen zieht es in urbane Räume, die mit höherem Prestige, Annehmlichkeiten und Möglichkeiten in Verbindung gebracht werden. Ob die Jüngeren dort auf eine weniger harte Realität als auf dem Land stossen, ist eine andere Frage. Klar ist jedoch, dass in der japanischen Gesellschaft, die hierarchisch aufgebaut ist, Aufstiegschancen und Ressourcen zur Sicherung des eigenen Status nicht mit Ländlichkeit assoziiert werden.
«Begibt man sich aufs Land, begegnet man – zum Beispiel beim Reisanbau Anfang Mai – vor allem älteren Semestern.»
Angesichts des ausgeprägten Alterungstrends führte Japan 2008 neben der Kategorie der Senioren (ab 65 Jahren) eine neue Klassifizierung für Hochbetagte (ab 75 Jahren) ein. Das Sozialversicherungssystem wurde im Gesundheitsbereich speziell für die wachsende Gruppe der Hochbetagten angepasst, um deren gesundheitlichen Bedürfnissen besser gerecht zu werden.
Selektive Arbeitsmigration
Obwohl die Spitzentechnologie heutzutage vor allem aus China kommt, existiert im Westen nach wie vor der Mythos von einem Japan, das in Technologiefragen Pionierarbeit leiste. Wer meint, technologische Innovation im Bereich des demografischen Wandels anzutreffen, wird jedoch enttäuscht werden. Weder sind in Pflegeheimen systematisch Roboter im Einsatz, noch sind im Alltag derartige hochmoderne Phänomene vorzufinden.
Klar, sind in Restaurants vermehrt auch fahrende Roboter anzutreffen, und Bestellungen können über Touchscreen-Tablets getätigt werden. Doch dies scheinen eher länderübergreifende und weniger von Japan vorangetriebene Trends zu sein.
Innovative Ansätze gibt es hingegen bei der Rekrutierung im Pflegebereich. Mit speziell kreierten Trainingsprogrammen werden potentielle Pflegekräfte aus Ländern wie den Philippinen oder Vietnam angeworben. Mit Mehrjahresverträgen, mehrwöchigen Einführungstrainings und einer umfassenden Einführung in die sprachlich und gesellschaftlich anspruchsvollen japanischen Verhältnisse werden die Arbeitsmigranten manchmal bereits in ihrer Heimat rekrutiert. Die Aussicht auf ein andauerndes Aufenthaltsrecht sowie solide Lohnbedingungen tragen das Ihre dazu bei.
Verglichen mit westeuropäischen Ländern hat Japan den Bevölkerungsrückgang jedoch weniger stark durch Einwanderung kompensiert. Zwar gab es Einwanderung in den letzten Jahrzehnten – allerdings immer kontrolliert und gemässigt. Die Einwanderung geschah lange nur über spezielle Kategorien wie das «Traineeship-Programm» (das als Fähigkeitentransfer vermarktet, unterdessen jedoch als Niedriglohn-Arbeitskräftebeschaffung weitherum missbilligt wird) sowie durch Studenten, die pro Woche bis zu 28 Stunden «kleinen Jobs» nachgehen dürfen und oftmals in Restaurants im Service anzutreffen sind.
Erst vor wenigen Jahren wurde zum ersten Mal ein explizit für die Arbeitsmigration gedachter Einwanderungsstatus geschaffen, jedoch nur für bestimmte Wirtschaftssektoren, die Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Arbeitskräften haben. Beispiele sind die Fischerei und der Bausektor. Mit diesem behutsamen Vorgehen konnte der politische Druck von Wirtschaftskreisen auf der einen Seite und von migrationskritischen konservativen Kreisen auf der anderen Seite ausbalanciert werden.
Wohlfahrt durch Arbeit
Das heutige Stadtbild in Japan ist unter anderem geprägt von Sechzigjährigen, die sich mit «Arubaito» (kleinen Jobs) durchschlagen müssen. «Arubaito» ist übrigens einer der wenigen japanischen Alltagsbegriffe, die aus dem Deutschen (Wortstamm Arbeit) stammen. Während in den «Kombinis» (Mischwarenläden) mehrheitlich junge Einwanderer arbeiten, stösst man in Restaurants regelmässig auch auf älteres einheimisches Servicepersonal. Häufig sind Personen, die kurz vor ihrer Pension sind, auch an Baustellen anzutreffen. Oft gebückt, stets uniformiert, gehen sie einer nicht immer produktiven Beschäftigung nach. Sie reagieren auf Touristen und Neuankömmlinge mit der üblichen Verbeugung und wertschätzenden Haltung oder weisen Fussgängern den Weg. Dass die Mehrheitsgesellschaft sie weitgehend ignoriert, lässt sie unberührt.
Dieses Phänomen hat einerseits damit zu tun, dass in Japan viel Wert auf Sicherheit gelegt wird. Anderseits spiegelt es auch die hiesige Sozial- und Wirtschaftspolitik wider. Anstatt Menschen in Schwierigkeiten mit Arbeitslosengeldern oder ähnlichen Leistungen unter die Arme zu greifen, setzt der japanische Sozialstaat auf den Mechanismus «Workfare», also «Wohlfahrt durch Arbeit». Der Staat hilft indirekt, indem er in Infrastrukturprojekte investiert mit dem Ziel, die Beschäftigung hochzuhalten.
Arbeitskultur erschwert Familienplanung
Die Anforderungen einer hochentwickelten Wirtschaft prallen auf gestiegene Ansprüche und Freiheiten. Das gilt auch für den Kern des demografischen Problems: die Schwierigkeiten rund um das Heiraten und Kinderkriegen. Gefangen zwischen modernen Ambitionen eines selbstbestimmten Lebens und der harten Realität des Alltags, fühlen sich viele Japanerinnen und Japaner überfordert, die komplexen Vorhaben Ehe und Familiengründung zu verwirklichen – oder sie überhaupt in Betracht zu ziehen. Zugespitzt formuliert: Das zwischen regulären und nichtregulären (Teilzeit- und befristeten) Arbeitsverhältnissen gespaltene Anstellungssystem stellt Paare, die eine Familie gründen wollen, vor grosse Herausforderungen.
Der hochgelobte reguläre Karriereweg beginnt mit der Rekrutierung direkt nach dem Ausbildungsabschluss. Er führt über firmeninternes Training und unternehmensspezifische Karrierepfade, eingebettet in firmeneigene Renten- und Sozialversicherungssysteme, langsam, aber stetig die Karriereleiter hinauf. Dieser Karriereweg bietet höheren Status, bessere Zuschüsse und vor allem mehr Sicherheit. Er geht einher mit einer für Schweizer Verhältnisse kaum vorstellbaren «Mitgliedschaft» in der Firma. Diese erwartet Hingabe und lange Arbeitszeiten – das Gegenteil einer «Work-Life-Balance-Kultur» – bei gleichzeitig niedrigen Einstiegsgehältern.
Angesichts des stetigen Beförderungsdrucks und der Konkurrenz innerhalb der Firma führt eine Babypause zu einem kaum aufholbaren Rückstand und ist mit einer wettbewerbsorientierten Karriere schwer vereinbar. Auf der anderen Seite besteht unter den prekär beschäftigten Arbeitnehmern in nichtregulären Arbeitsverhältnissen die Vorstellung, weder einkommens- noch statusmässig imstande zu sein, Heirat und Familiengründung in Betracht zu ziehen.
Kaum Verbesserungen in Sicht
Da alle Massnahmen gegen den demografischen Wandel am sozioökonomischen Kern des japanischen Gesellschaftssystems bestenfalls oberflächlich ansetzen, ist eine tatsächliche Veränderung nicht absehbar. Dieses System sozioökonomischer Stabilität – oder Rigidität – bringt nach wie vor einige Annehmlichkeiten mit sich – zumindest für einen Teil der Betroffenen und in bestimmten Aspekten.
Dass alles noch schlimmer sein könnte, ist eine verbreitete Sichtweise in Japan. Allerdings könnte die Situation auch hoffnungsvoller, dynamischer und positiver sein. Die Zauberformel für Japan besteht darin, einen Weg zu finden, der sowohl die demografische Entwicklung verbessert als auch eine umsetzbare gesamtgesellschaftliche Vision schafft. Keine leichte Aufgabe.