Jahrtausendelange Geschichte Europas
Bernd Marquardt, Die «Europäische Union» des vorindustriellen Zeitalters:
Vom Universalreich zum Staatskörper des Jus Publicum Europæum
Zürich: Schulthess, 2005
Nicht nur Europa, auch die Einheit Europas hat Geschichte – und nicht nur eine kurze, die mit den Römischen Verträgen von 1957 angefangen hätte, sondern eine jahrtausendlange, die von 800 bis 1800 reichte, bevor das Zeitalter des Nationalstaats das Verbindende vorübergehend negierte. Jener ersten «Europäischen Union», die lange vor der heutigen EU gewesen ist, geht der St. Galler Rechtshistoriker Bernd Marquardt in seiner jüngsten Studie mit viel Gründlichkeit nach. Sein Ansatz ist gleichermassen komplex wie anspruchsvoll, weil er eine ausgesprochene Langzeitperspektive mit einem Betrachtungsraum kontinentalen Ausmasses verbindet, dabei aber doch rund 200 einzelne Herrschaftsbereiche zumindest einmal streift. Universalgeschichte also, mit dem Anspruch, Wesentliches vom Unwesentlichen zu trennen, Komplexität zu reduzieren. Geschichte, auch Rechtsgeschichte, sei ja gehalten, «aus der verwirrenden Vielzahl von Ziegeln», die die Detailforschung zusammentrage, ab und an «Häuser zu bauen» – selbst auf die Gefahr hin, ein paar solcher Ziegel Spezialisten auf die Zehen fallen zu lassen.
Marquardts Haus lohnt den Besuch. Es steht rundum solide; zur Ausstattung gehören ausführliche Verzeichnisse und ein sorgfältig verwalteter wissenschaftlicher Apparat ebenso wie 42 eigens entworfene Europakarten. Gerade diese kartographische Visualisierung ist ausgesprochen hilfreich, gewinnt der Leser doch eine klare Vorstellung von der Entwicklung der Aussengrenzen Alt-Europas, seiner hoheitlichen Aufteilung, seiner Sprachgebiete. Anders wären «staatliche» Strukturen, die es heute gar nicht mehr gibt, auch schlicht nicht zu lokalisieren – das Heilige Römische Reich etwa, der päpstliche Kirchen- oder der venezianische Küstenstaat, Sizilien oder Aragón. Die Gebiete der Königreiche Ungarn und Polen haben mit heutigen Staatsgrenzen keinerlei Ähnlichkeit mehr.
Das ältere Europa des 9. bis 16. Jahrhunderts kann, so Marquardt, weder als Staat noch als Staatenbund klassifiziert werden. Für ersteres fehlte der Christianitas der für Staatlichkeit erforderliche Verdichtungsgrad, während die Annahme eines Staatenbunds wiederum durch die mangelnde Staatlichkeit der einzelnen Königreiche, durch die hierarchischen Komponenten des Kaiser- und Papsttums und schliesslich durch die nicht gegebene vertragsrechtliche Natur der Verbindung gleich dreifach widerlegt wird. Und doch war die «Europäische Union» des Mittelalters insofern mehr als ein Staatenbund, als sie – gemessen am blossen Bundesvertrag – eine viel stärkere gemeinsame Identität zur Grundlage hatte. Als eine durch göttliches Recht gestiftete Schicksalsgemeinschaft verstand sie sich, eine Gemeinschaft auf dem Weg zum ewigen Seelenheil, dem Ziel irdischen Daseins schlechthin. Seinem Selbstverständnis nach war Europa kein Bund, sondern ein vielgestaltiges Reich – das christliche «Römische Reich, das vom höchsten Schöpfer der Welt zur Leitung des Menschengeschlechts ausersehen» war, wie es 1460 hiess. Seine äussere Vollendung erlangte dieses Gefüge in der imperialen Selbstdarstellung Karls V. – jenes Habsburgers also, der neben der Kaiserwürde mehr als 25 europäische Königstitel führte.
Eine bis heute weit verbreitete Auffassung geht dahin, es habe sich die alte Einheit der Christianitas mit dem Westfälischen Frieden von 1648 in ein loses Bündel unabhängiger Staaten aufgelöst; aus der hierarchischen Pyramide, mit Kaiser und Papst an der Spitze, sei eine lockere, horizontal strukturierte Versammlung von Souveränen geworden. Dieser Auffassung stellt der Autor eine Schlüsselthese seiner Arbeit entgegen: dass nämlich die europäische Ordnung nicht etwa 1648 revolutionär durchstossen, sondern vorher wie nachher evolutio-när fortentwickelt worden sei – und dass langfristige Entwicklungsprozesse imperialer und royaler Staatlichkeit oder auch die Religionsverfassung der Christianitas eine viel wichtigere Rolle gespielt hätten als vordergründig spektakuläre Einzelereignisse wie der Frieden von 1648.
Nicht Auflösung oder Entnetzung beobachtet Marquardt für die Zeit nach dem Westfälischen Frieden, sondern weitere (im Buch klar dokumentierte) Momente der Verdichtung, hin zu einer stärker als vorher genossenschaftlich und ständisch organisierten Struktur, die der angesehene schwäbische Staatsrechtler Johann J. Moser 1750 als «europäischen Staatskörper» beschrieb; im nachfolgenden Jahr sprach Voltaire von Europa als «grosser Republik».
Eine klare Zäsur aber gab es dann doch. Die tiefgreifende Verwandlung Europas begann im Jahre 1789, als die Respublica Christiana über eine der Aufklärung verpflichtete Revolution in Frankreich in einen 26 Jahre anhaltenden «Europäischen Bürgerkrieg» hineinschlitterte, der mit grossem Pathos um die Grundfesten des Abendlandes geführt wurde und schliesslich in dessen Auflösung in relativ unverbundene Nationalstaaten mündete. Drei scharfe Einschnitte markieren diesen Prozess in beispielhafter Weise: die Hinrichtung des Allerchristlichsten Königs Ludwig XVI. mitsamt der Tante (Marie-Antoinette) des regierenden Römischen Kaisers durch die Französische Revolution im Jahre 1793; die Absetzung und Inhaftierung des letzten Papstes Alt-Europas 1798; schliesslich die Abdankung des letzten Kaisers des Sacrum Romanum Imperium im Jahre 1806. Dass schon 1805 nahe bei Wien eine «Dreikaiserschlacht» stattfinden konnte, unterstreicht den Einmaligkeitsverlust einer imperialen Dimension, die Europa bis dahin verklammert hatte.
War die Christianitas ein komplexes Stufensystem ineinandergewobener Herr-schaftsebenen gewesen, so ging das sich nach 1800 mehr und mehr durchsetzende Herrschaftsmodell von einem bloss noch binären System aus, basierend auf zwei Grundzuständen: Souveränität und Nichtsouveränität. Für jede Raumeinheit setzte sich eine einzige Herrschaftsebene durch, die die Hoheitsrechte aller anderen Herrschaftsebenen in sich aufsog und damit zum unitarischen Einheitsstaat mit einheitlichem Gebiet, einheitlichem Volk und umfassender Staatsgewalt wurde.
Gerade der souveräne Nationalstaat aber, und auch dies erweist «lange Geschichte» in schönster Deutlichkeit, gerade der europäische Nationalstaat ist weder eine Grundkonstante noch das vorherbestimmte Ziel der europäischen Geschichte. Vielmehr handelt es sich um ein zeitgebundenes Produkt der historischen Entwicklung, das in der kurzen Epoche zwischen 1800 und 1950 seine engere Blüte erleben konnte und seither neuen, wiederum mehrschichtigen Strukturen weichen muss. Deren Grundversion aus den Römischen Verträgen von 1957 erinnert geopolitisch stark an das junge Europa Karls des Grossen um 800, ihre ausgeformte, heutige Gestalt mit 25 Mitgliedstaaten kommt dem erwachsen gewordenen Alt-Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts bemerkenswert nahe. Was Wunder, wenn Marquardt zusammenfassend festhält, Europa sei «kein konturloser, erst noch zu definierender Raum», sondern klar bestimmt durch «traditionsreiche historische Grenzen», die vieles seien, nicht aber beliebig. – Chapeau, Bernd Marquardt. Ein sehr gutes Buch, das durch die 12 am Ende versammelten, bedenkenswerten «Thesen für Europa» noch an Tiefe und Attraktivität gewinnt.
besprochen von CHRISTOPH FREI.