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Jäger und Denker

Jäger und Denker

Henry David Thoreau: Chesuncook.

 

Die Jagd zählt zu den wenigen vorzivilisatorischen Gepflogenheiten, die es ins 21. Jahrhundert ­geschafft haben. Einstmals schiere Notwendigkeit, die insbesondere in unwirtlichen Weltgegenden das menschliche Überleben sicherte, ist sie heute zumindest in den westlichen Ländern etwas, das den einen als Pflicht zur Walderhaltung und manchen gar als Sport gilt, während es bei anderen als archaisches Relikt firmiert. Auf allen Seiten kochen regelmässig Emotionen hoch, weil man es mit einer Beschäftigung zu tun hat, die noch hinter die Anfänge der Menschheitsgeschichte zurückreicht. Der einen Fraktion erscheint das zielgenaue Erlegen wilder Tiere aus genau diesem Grund als fortführungswürdig, der anderen hingegen als dringend abschaffenswert.

Mit «Chesuncook» liegt nun eine der ungewöhnlichsten Verarbeitungen von Jagderfahrungen, die wohl je verfasst wurden, auf Deutsch vor. Niedergeschrieben hat sie der US-amerikanische Philosoph und Schriftsteller Henry David Thoreau (1817–1862). Seine Überlegungen fasste er ab, als er einmal die Arbeit an seinem Hauptwerk «Walden oder Leben in den Wäldern» (1854) unterbrochen hatte, welches sich eindrücklich der Frage widmet, wie man am besten lebt – und Antworten hierauf in selbstgewählter Isolation formulierte, inmitten zahlloser Bäume am Toteissee Walden Pond in Massachusetts. Dort erprobte der Transzendentalist, sich so autark zur Gesellschaft zu verhalten wie nur möglich, was sich durchaus als prälibertäre Übung deuten lässt. Im Gegensatz zu den Anarchisten des 19. Jahrhunderts war Thoreau schliesslich nicht absolut gegen den Staat, sondern daran ­interessiert, diesen auf ein Minimum zu beschränken und damit auch seinen Zugriff auf den einzelnen zu reduzieren. Und dann war da noch sein berühmter, 1849 erschienener Essay «Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber der Staatsgewalt», der diese Haltung gar zum Prinzip erklärte.

Auch «Chesuncook» handelt von Macht und Verfügungsgewalt, allerdings in einer gänzlich anderen Konstellation und auf anderer reflexiver Ebene. Im September 1853 unternahm Thoreau mit George Thatcher, dem Gatten einer Cousine, eine Reise durch die Kiefernwälder von Maine. Thatcher wollte dort gemeinsam mit Joe Aitteon, dem «Sohn des Stammesführers» der Penobscot, ­einen Elch erlegen, Thoreau hingegen das Tier beobachten – explizit «als Reporter oder Kaplan – und ein Kaplan ist bekanntlich bewaffnet». Was folgte, geriet zum einfühlsamen wie erhellenden Nachdenken darüber, «wie gemein oder roh die Motive sind, die Menschen im allgemeinen dazu bringen, in die Wildnis zu gehen». Denn aus der Betrachtung der Jagd wurde plötzlich eine Wertschätzung des Eigenlebens, das von der Industrialisierung bedrohte Bäume führen, sowie ein frühes Plädoyer für Naturschutzgebiete.

In seinem Nachwort hebt Alexander Pechmann hervor, dass Thatcher mit dem Geweih eines erlegten Elches von der Reise heimkehrte, während Thoreau sich für ein Paar Schneeschuhe als Mitbringsel entschied – Symbol für eine Reise, die «auch den engen Raum bequemer Vorurteile hinter sich lässt und mit dem Horizont auch die Seele erweitert». Dass solche Reisen jederzeit möglich sind, überall, ist nur einer der Gründe, um rund zwei Jahrhunderte nach ­Veröffentlichung dieser Schrift in ihr zu lesen.


Henry David Thoreau: Chesuncook. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 2022.

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