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Italienische Schützenhilfe

Vereinnahmungen im Literaturstreit

Am Anfang des Literaturstreits zwischen den Zürcher Professoren Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger einerseits und dem Leipziger Professor Johann Christoph Gottsched anderseits stand ein freundschaftlicher Briefwechsel. In die Literaturgeschichte eingegangen ist jedoch die da­ran anschliessende, polemisch geführte Auseinandersetzung. In dieser äusserte sich eine Rivalität um die Kenntnis der italienischen Literatur, wobei die Zürcher hier nicht ganz unberechtigt einen gewissen Vorrang beanspruchten und gerne auf diese fremdländische Schützenhilfe zurückgriffen. Schliesslich hatte Bodmers Italienreise von 1718 bis 1719 zwar keinen Kaufmann aus ihm gemacht, ihm aber doch sehr früh Kenntnisse der italienischen Literatur vermittelt. Zugleich zeigt sich darin auch die Rolle der Zürcher als Kulturvermittler.

Tatsächlich verdanken Bodmer und vor allem Breitinger der Poetik des italienischen Frühaufklärers Lodovico Antonio Muratori viel. So viel, dass sie dessen «Della perfetta poesia italiana» (1706) Gottsched zur Übersetzung empfehlen. Insbesondere Muratoris Mittelposition zwischen italienischem Barock und französischem Klassizismus, seine Forderung nach einer Verbindung von Wahrscheinlichkeit und Wunderbarem als Grundlage der Dichtung sowie die Aufwertung der Kategorie des Neuen findet sich bei den Zürchern wieder. Die Stellung der Einbildungskraft in deren Poetik zeigt Parallelen zu Muratori und zu Giovanni Vincenzo Gravinas «Ragion poetica» (1708). Bodmers auszugsweise publizierter Briefwechsel mit Pietro di Calepio und sein Bekenntnis gegenüber Gottsched, ein «Proselyt» von dessen Dramentheorie zu sein, zeugt vom Einfluss der an einem Konzept des Populären orientierten Tragödie. Nebst John Miltons «Paradise Lost» (1667) bildete auch Torquato Tassos «Gierusalemme liberata» (1575) für die Zürcher ein Vorbild zu einem deutschen Epos. Wie die Polemik in den Zeitschriften zeigt, wird Tasso zur Verteidigung unterschiedlicher ästhetischer Kriterien beansprucht. Er bietet Argumente für beide Parteien und gerät dadurch zwischen die Fronten des Literaturstreits. Während er für Bodmer ein Vorläufer Miltons ist, versucht ihn Gottsched – unter Abstrichen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit – als Klassizisten zu vereinnahmen.

Als Reaktion auf den Anspruch, dass das Sächsische in literarischer und sprachlicher Hinsicht als Paradigma für den gesamten deutschen Sprachraum gelten könne, erfolgt die polemische Argumentation auch anhand nationaler Stereo­typen. Dabei werden in der Polemik zwischen Zürchern und Gottschedianern von ersteren Argumente der Debatte zwischen Dominique Bouhours und Giovan Giuseppe Orsi aufgegriffen, in der sich italienische Gelehrte gegen den hegemonialen Anspruch der französischen Sprache und Literatur und ihrer klassizistischen Vorgaben zu Wehr setzten. Es ist eine doppelte Frontstellung, die die italienischen Theo-retiker der Frühaufklärung, wie Muratori, Gravina oder Calepio, auszeichnet, nämlich zum einen – im Sinne einer Verbesserung des guten Geschmacks – die barock-manieristische Regellosigkeit zu bekämpfen und zum anderen gegen den hegemonialen Anspruch des französischen Klassizismus Stellung zu beziehen. Eben diese Bestrebungen identifizieren Bodmer und Breitinger mit ihren eigenen und applizieren diese Konstellation auf ihre Auseinandersetzung mit Gottsched, wobei die Fronten hier sogar zusammenfallen. Nun ist es aber nicht so, dass sich die Leipziger Kontrahenten auf die Rolle französischer Klassizisten hätten festlegen lassen. Im Gegenteil: verschiedentlich ist es ebenfalls die inneritalienische Reform des Geschmacks, die die Gottschedianer als Referenzpunkt für ihre eigenen Bemühungen avisieren.

Ebenfalls im Literaturstreit eingesetzt wurden Eléazar Mauvillons abfällige Urteile über die Deutschen, deren Mangel an «esprit» sie zur Poesie unfähig mache. Diese im Wettstreit der europäischen Nationalliteraturen geäusserten Argumente griffen die Zürcher auf und wandten sie gegen ihre deutschen Widersacher.

Die Zürcher versuchten ihre Position aber auch kulturgeschichtlich zu fundieren. In ihrer Beurteilung Homers stützten sie sich vornehmlich auf die Auffassung Thomas Blackwells, der in seinem «Enquiry into the Life and Writings of Homer» (1735) die Entstehung eines literarischen Meisterwerks auf günstige natürliche, klimatische und politisch-soziale Bedingungen zurückgeführt hatte. Dieses Modell kultureller Blütezeiten wandte Bodmer nun ebenso auf die staufische Hofkultur an wie auf die Situation der Schweiz gegenüber Deutschland. So konnte er die republikanische Ordnung der Schweiz und die Rauheit des Alpenlandes als günstige Voraussetzungen für die Ausbildung eines guten Geschmacks reklamieren und zugleich die Natürlichkeit der alemannischen Spracheigenheiten der Schweizer gegen die Vorwürfe aus Sachsen verteidigen.

Das kulturgeschichtliche Modell, auf das die Schweizer ihre Argumentation stützten, markiert einen wichtigen Schritt hin zur Einsicht in einen historischen Relativismus. Die Annahme, dass die literarische Produktion immer an gewisse Entstehungsbedingungen gebunden sei und auch unter diesen Bedingungen beurteilt werden müsse, eröffnete einen neuen und erweiterten Blick auf die Literatur fremder Zeiten und Kulturen. Zum anderen war damit auch ein frühes Plädoyer für die Eigenständigkeit einer sprachlich-kulturellen Randregion gegenüber der Dominanz des Zentrums formuliert.

Lucas Marco Gisi, geboren 1975, promovierte mit einer Arbeit zur Anthropologie und Geschichtsphilosophie der Aufklärung. Er ist Assistent für Neuere deutsche Literatur an der Universität Basel.

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