Ist die Schweiz eine «Willensnation des Auslands»?
Die Geschichtsprofessoren André Holenstein und Tobias Straumann kreuzen in Zürich die Klingen.
Eine grössere öffentliche Geschichtsdebatte erlebte die Schweiz zuletzt 2015, als sich die Schlacht bei Marignano zum 500. Mal jährte und über die Ursprünge der Neutralität diskutiert wurde. Dass die Historiker die Debatte nicht verlernt haben, zeigte sich am Donnerstagabend an der Universität Zürich. Die Professoren André Holenstein und Tobias Straumann stritten sich zur Frage, wie gross der Einfluss des Auslands auf die Entstehung der modernen Schweiz war.
Holenstein hält diesen Einfluss für entscheidend. Er bezeichnet die Schweiz gar als «Willensnation des Auslands». Als Belege nennt er nicht nur die Gründung der Helvetischen Republik 1798, welcher der militärische Einfall Frankreichs vorangegangen war. Auch nach dem Zusammenbruch dieses Staatswesens hätten ausländische Mächte die Schweiz geprägt, namentlich durch den Wiener Kongress 1815, wo die heutigen Grenzen der Schweiz im Wesentlichen festgelegt wurden. Aus Sicht von Holenstein wurde damals der Bundesstaat von 1848 quasi vorgespurt.
Tobias Straumann widersprach: Frankreich, Preussen und Co. hätten zwar durchaus eine Rolle gespielt. Es sei aber eine Wechselwirkung zwischen inneren und äusseren Kräften gewesen. Und: «Keine Nation kann entstehen, ohne dass sie von innen erkämpft wird.» Es sei bezeichnend, dass Holensteins Erzählung 1815 aufhöre – damit lasse er sämtliche inneren Entwicklungen und Konflikte bis 1848 aus.
Dass es Wechselwirkungen gab, stellte Holenstein nicht in Abrede. Uneins waren sich die beiden, so stellte sich heraus, vor allem darin, wie gross der Einfluss des Auslands in diesen Wechselwirkungen war. Damit nahm Holenstein dem Bild der «Willensnation des Auslands» indes selber einen grossen Teil der Substanz.
Moderator Caspar Hirschi bilanzierte am Ende, dass der Geschichtswissenschaft mehr solche offenen Debatten zwischen Historikern gut täten. Zumindest dieser Aussage konnten wohl alle uneingeschränkt zustimmen. (lz)