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Iso Camartin: Bin ich Europäer? Eine Tauglichkeitsprüfung.

München: C. H. Beck 2006

Ach Europa! Der Seufzer Hans Magnus Enzensbergers hat heute Hochkonjunktur. Europa ist fashionable. Allerorten, auch in den Buchhandlungen. Nur: Wie wird man Europäer? Infolge Zufalls, also qua Geburt? Mittels amtlicher Dokumente? Muss man etwas leisten? Oder so konkret fragen wie der aus Graubünden gebürtige und in Zürich lebende Essayist Iso Camartin, Professor emeritus für rätoromanische Sprache und Literatur: «Was tut ein Rätoromane, um Europäer zu werden?»

Camartin knüpft mit seinem neuen Langessay an seine frühen Buchveröffentlichungen an, an sein Plädoyer für kleine Sprachen im grossen Europa und an «Karambolagen», seine erste Aufsatzsammlung. Zum Glück – für ihn wie für die Leserschaft. Denn es ist kein Spiegelkabinett, das man, geblendet von der Kunstbeflissenheit seines Verfertigers, durchschreitet. Nach einem nicht recht überzeugenden Buch über das Fernsehen und gesammelten Gelegenheitsarbeiten legt er mit dieser «Tauglichkeitsprüfung» wieder ein gewichtiges, nur äusserlich schmales Buch vor.

Camartin hat alle Manierismen abgestreift. Mutet die Reflexion über Familien- und Sprachenteppiche, die sich im vierten Kapitel findet, merkwürdig an – und die Abfolge von faits divers, Miniaturen über ein Gemälde Brueghels, Erzählungen von Joseph Roth und Andrzej Stasiuk, vergiftete Wörter, Namenstage, Museen oder Hausbibliotheken in Graubünden exotisch-abwechslungsreich –, so wird am Ende der Reichtum dieses fein gewobenen Teppichs, die Bewegungen dieser Karambolagen deutlich. Doch eitle Funken daraus zu schlagen, darauf legt Camartin keinen Wert mehr.

«Bei einem homme de lettres kann man Unterschiedliches bewundern», liest man bei ihm. «Die schiere Menge des Gelesenen, des Durchdachten, des Anverwandelten. Die Tiefe und die Klarheit des Erkannten. Die intelligenten Zuordnungen. Die Schnelligkeit, mit der auseinander Liegendes in einem strukturierten Gedächtnisraum zueinander findet. Die überraschenden Bezüge, die Fäden und Klammern, mit welchen jemand das Disparate verbindet.» Dies ist auf den grossen Schweizer Journalisten François Bondy gemünzt, dem Camartin dieses Buch zueignete. «Was war das Besondere an diesem Menschen? Es war das, was man die Zusatz-Tugenden des gebildeten Journalisten nennen kann. Dazu gehört, was die Alten als ‹phronesis› bezeichneten: die Gabe des Durchschauens, des gerechten Unterscheidens, etwas, das zwischen ‹prudence› und ‹sagesse› liegt.»

Wieso rangiert das Porträt dieses Intellektuellen an solch prominenter Stelle? Weil erst, wie Camartin dies treffend ausdrückt, durch kontinuierliche Annäherung an die Schriften der grossen Europäerinnen und Europäer «jene Bewegungsfreiheit im Denken und im Handeln» erworben werde, die «kein europäischer Pass garantiert.» Der von ihm verehrte Erasmus von Rotterdam inspiriert Camartin dazu, enthusiasmiert die Parole «Auf zu Erasmus!» auszugeben und leidenschaftlich für die Passion der Überlieferung, für die Wertschätzung von Tradition, Geschichte und Geschichten zu plädieren. Denn: «Wer heute ‹Europa› sagt» – und dies schrieb François Bondy bereits 1973 – «und diese zugleich reale und mythische Durchdringung und Verwobenheit vergisst oder verdrängt, der muss zwar nicht direkt ‹lügen›. Nur lässt er soviel aus, dass sein ‹Geschichtsbewusstsein› – immer noch und trotz Goethes Unwillen eine europäische Spezialität – blass und dürftig ist. Er hat Angst vor allem, was er an ‹Nichteuropa› in sich selber finden könnte, als habe es überhaupt je ein ein Europa der Nabelschau und ohne allseitige Weltverwobenheit gegeben.»

Ein solches Europa kann es nur geben, wenn dessen Neugier auf Wissens- und Erlebenswertem adäquat geschätzt wird. Essentiell ist dabei eine aufgeklärte Rückwärtsgewandtheit. Ein tempo rubato künde laut Camartin von Klugheit und von Überlebenslist: «Vielleicht gibt es einen tief verwurzelten Instinkt, aus Selbstschutz nicht in der ersten Reihe zu sitzen, wenn Pandora ihre Büchse öffnet.» Er erweist sich als nachdenklicher Kritiker progressiver Chimären. «Haben wir es mit langsamen und mit schnellen Ländern zu tun – und falls ja: Woran misst man das Tempo, mit dem sich ein Land durch den Geschichtsraum fortbewegt? Ist die Schweiz ein Ort, um den von europäischen Schriftstellern wieder entdeckten und hoch gepriesenen Charme der Langsamkeit zu erleben?»

Giorgio Vasari zählte im 16. Jahrhundert einst die Fähigkeiten und Gaben des Künstlers auf, die sich zur Idee der Schönheit vereinen würden, facilità, Natürlichkeit, leggiadria, anmutige Leichtigkeit, und vaghezza, Liebreiz. Camartin erfüllt all dies. Oder um es mit einem Gedanken aus dem «Journal» der Gebrüder Goncourt zu sagen: «Hier hat das Subjekt jene Priorität in der Darstellung von Geschichte errungen, die alles, was ist und geschieht, in ein uns selbst aufklärendes Licht zu rücken vermag.»

besprochen von Alexander Kluy, freier Publizist in München.

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