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Irrungen, Wirrungen: Deutsche Aussenpolitik nach Kanzler Kohl

In seinen Beziehungen nach aussen hat Deutschland in sieben Jahren rot-grüner Koalition nicht nur jede klare Ausrichtung und Verankerung verloren, sondern vor allen Dingen – Glaubwürdigkeit.

Als Helmut Kohl noch Kanzler war, fragte ihn einmal ein Staatsbesucher, wie es nach ihm weitergehen würde. Kohl wies auf seinen Schreibtisch im Bonner Kanzleramt und sagte, wer auch immer da Platz nehme: «Die deutsche Aussenpolitik verläuft in festen Geleisen». Kohl war überzeugt, dass Deutschlands Lage und Interessen unverrückbare Antworten auf die alte Deutsche Frage geben in Gestalt der Atlantischen Allianz mit den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union mit den Nachbarn. Niemals wieder, so hatte er am Tag der Einheitsfeiern am 3. Oktober 1990 in der Berliner Philharmonie, einen Buchtitel zitierend, gesagt, niemals wieder «ein ruheloses Reich». Wie man sich irren kann.

Kohl hatte zu Beginn seiner Kanzlerschaft 1982/83, mitten in der Raketenkrise und gegen die dadurch ausgelösten Zweifel und Ungewissheiten, nach innen und aussen gesagt: «Die Freiheit ist der Kern der Deutschen Frage». Mehr noch. Er hatte die strategischen Interessen der Deutschen in der letzten grossen Konfrontation des Kalten Krieges, als es um Stationierung oder Nicht-Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen ging, auf die Formel gebracht: «Bündnisfähigkeit ist Kern deutscher Staatsräson». Das war nicht nur zur Beruhigung der euro-päischen und atlantischen Verbündeten gesagt. Es war auch die Lehre, wie Kohl sie aus allen Irrungen und Wirrungen jüngerer deutscher Vergangenheit gezogen hatte.

Das schützende Dach der Pax Americana war unentbehrlich, nicht nur Berlins und des Eisernen Vorhangs wegen, sondern auch als globale Garantie für Welthandel, Seewege und Energieversorgung. Vor allem aber war Amerika «balancer from beyond the sea», der alle europäischen Ungleichgewichte ins Lot brachte. Wie das British Empire im neunzehnten, so die amerikanische Seeallianz im zwanzigsten Jahrhundert. Daraus folgte nun für deutsche Kanzler seit Adenauer niemals blinde oder bedingungslose Gefolgschaft gegenüber Washington. Wohl aber lag darin die Warnung, auch bei robuster Interessenvertretung – zum Beispiel beim Erdgas-Röhren-Geschäft mit der Sowjetunion Anfang der 1980er Jahre – es niemals zum Bruchpunkt zu treiben. In den europäischen Dingen folgte daraus, es mit Frankreich nicht zu verderben, unterdessen aber die stille Allianz mit den Briten zu pflegen. Es war nicht schwer, den Nachfolgern de Gaulles die Reize des ménage à trois zu erklären – für Paris keine ungewohnte Lebensform. Wichtig war auch, dass die kleineren Staaten ihre Interessen beim deutschen Bundeskanzler immer bestens aufgehoben wussten. Dass die Deutschen eher Geld als militärische Kräfte an fernen Fronten einsetzen wollten, hatte weniger mit Grundgesetz und Last der Geschichte zu tun – lange Zeit wohlfeiler Vorwand – und mehr mit der Zentralen Front des Kalten Krieges und der schauerlichen Frage, was passieren würde, «if deterrence fails».

Wem gehört Deutschland? Und wohin gehören die Deutschen? Das ist in ihrer einfachsten Form die Deutsche Frage; Deutschland auf immer – ein Wort Henry Kissingers zu zitieren – für die Hegemonie zu klein, für das Gleichgewicht zu gross. Kohl hat, vor der Einheit wie danach, alles in seiner Macht Stehende getan, damit diese Frage Europa niemals wieder um den Schlaf bringen sollte. Er wollte damit auch den Sozialdemokraten, denen er nach den Erfahrungen aus Raketen-krise und Einheitsprozess wenig traute, und den Grünen, denen er noch weniger traute, den Weg zu Alternativen versperren, die er für makabre Abenteuer hielt. Die alten Versuchungen der europäischen Mittellage waren Vergangenheit, die neueren der Äquidistanz gefesselt – so jedenfalls gab sich der Kanzler überzeugt. Er ahnte nicht, dass es kaum eines Jahrzehnts bedürfen würde, um die Nachbarn in Unruhe zu versetzen: Die Atlantische Allianz ist storniert, Europa in seiner Aussen- und Sicherheitspolitik gelähmt, und die kleineren Nachbarn ballen die Faust in der Tasche.

Die deutsche Politik solle nicht, so hat der späte Bismarck die Grossmäuler seiner Zeit vergeblich gewarnt, «die Rolle des Mannes spielen, der, zu plötzlichem Reichtum gekommen, auf die Taler in seiner Tasche pocht und jedermann anrempelt.» Heute ist es mit den Talern nicht mehr weit her. Sonst aber sind déjà-vu-Eindrücke berechtigt. Hat Deutschland beides gefunden, inneres Gleichgewicht und äussere Verankerung? Die deutschen Antworten sind heute weit ungewisser als vor sieben Jahren, da die rot-grüne Koalition zuerst in Bonn und dann in Berlin sich ans Regieren machte. Wirtschaftliche Rezession und die demographische Krise im Innern, die Konflikte des Mittleren Ostens, der Aufstieg Chinas und die Ungewissheiten in und mit Russland haben ihre Wirkung ebenso getan wie nach dem Kalten Krieg Amerikas Schwankungen zwischen Unilateralismus und Interven-tionismus. Diese durch ruhigen Aufbau Europas und seiner Fähigkeiten in soft power wie in hard power auszugleichen, hätte Aufgabe der Europäer sein müssen, am meisten Deutschlands. Doch das wurde nicht einmal versucht auf dem unbeschwerten Weg eines Linksgaullismus, gegen Amerika und ohne Europa, dafür «Achsen» nach Moskau und Peking.

«Die grossen Fragen deutscher Sicher-heitspolitik werden in Berlin entschieden, und nirgendwo sonst» – das Donnerwort des Bundeskanzlers hatte wilhelminisches Format – und ähnlichen Wirklichkeitsgehalt. Erstmals, so tönte es aus Berlin, würden «deutsche Interessen» vertreten – als wären Adenauer und Kohl, Brandt und Schmidt zu ihrer Zeit nichts gewesen als Statthalter der USA. «Emanzipation» hiess die neue Lebenslust, nach deren Preis niemand fragte ausser den letzten Atlantikern. So trafen Unerfahrenheit, linkes Ressentiment, nationale Träumerei und Experimentierlust der neuen Berliner Regenten auf eine bedrohliche Wirklichkeit: Kriege und Bürgerkriege, islamischer Terror und amerikanische Gegenwehr, schleichende Verbreitung von Raketen und Massenvernichtungswaffen im Mittleren Osten, Zaghaftigkeit europäischer Abwehr und amerikanische Ungeduld. Unbarmherzige Prüfungen waren längst in Gang, nicht nur in Gestalt der Kriege auf dem Balkan, deren Stosswellen Deutschland erreichten, sondern noch mehr durch den apokalyptischen Terror des 11. September 2001. Die «Zivilisation» sei bedroht, stellte der Kanzler im Bundestag fest, «uneingeschränkte Solidarität» schwörend, nicht ohne im selben Atemzug die Amerikaner vor «Abenteuern» zu warnen. Dies war bereits ein Schatten kommender Zerwürfnisse. Als der NATO-Rat am Tag nach Nine Eleven die Beistandsklausel in Artikel V des Nordatlantikpakts aktivierte, waren die Deutschen allerdings noch dabei; dabei auch in Afghanistan, als es um Friedenseinsatz ging – freilich unter Blauhelmen und in merkbarer Distanz zu den Amerikanern, die doch, wenn es eng werden würde, die deutschen Helden retten sollten.

Es war der Kampf um die Autorität von UN-Resolutionen und die Nichtverbreitung nuklearer Waffen, der 2002 zum Bruch mit Amerika und Grossbritannien führte. Dieser Bruch hat seitdem EU-Europa querdurch gelähmt, aus der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) ein Messer ohne Heft und Klinge gemacht und bis heute die Frage nach sich gezogen, wer sich in extremis noch auf wen verlassen könne.

Bittere Ironie, dass Schröder und Chirac, die doch einen europäischen «contre-pôle» (Aussenminister de Villepin 2002) zu Amerika konstruieren wollten, Europas Gewicht in der Welt annullierten. In die Bilanzen von sieben Jahren Rot-Grün kann man vieles einrücken im Pro und Contra: den Kosovo Krieg, die Putin-Connection ebenso wie den Primat des Kommerzes im Verhältnis zur aufsteigenden Weltmacht China. Dass Berlin sich mit dem UN-Sicherheitsrat übernommen hatte, Prestigeprojekt gegen Washington, war früh absehbar – ausser für Kanzler, Aussenminister und ihre Berater. Doch das sind alles Fussnoten im Vergleich zu der Frage, was Deutschland zu Weltordnung und Frieden ernsthaft beigetragen hat in diesen sieben Jahren.

Die Welt ist aus den Fugen. Pentagon und Europäische Union stimmen darin überein, dass Terror, Massenvernichtungswaffen und Chaosstaaten über Nacht sich zu einer Höllenchemie verbinden können. Die Nachrichtendienste entdecken makabre Szenarien. Man kann Zusammenbrüche kritischer Infrastruktur, namentlich Ölversorgung und Cyberspace, hinzufügen. Solche Ereignisse vermögen, ohne dass ein Schuss fällt oder eine Bombe detoniert, die industriellen Demokratien ins Chaos zu stürzen. Ist auf Deutschland in alledem zu zählen für Intervention, Prävention und notfalls Präemption? Wohl kaum. Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand wird man lieber anderen den Vortritt lassen und mit gutem Rat nicht sparen, noch weniger mit Kritik. Vielleicht ist ja auch gerade wieder Wahlkampf und es gilt, einmal mehr den Frieden zu retten.

Das Ergebnis solcher Politik? Die Europäische Union ist bis heute nicht ernstfallfest. Dass die NATO es noch sei, ist gegenwärtig eine Hoffnung, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Gelingt es nicht, die Nuklearwaffen und die Raketenrüstung düsterer Regimes zu verhindern – und wie soll das ohne oder gar gegen Amerika gehen? – dann ist der Ernstfall nicht mehr eine Frage des Ob, sondern nur noch des Wie; dann werden auf Nordkoreas Atomwaffen jene Südkoreas und Japans folgen, und auf den atomar bewaffneten Iran Ägypten, Saudi-Arabien, Syrien und die Türkei. Israel wird nicht mit verschränkten Armen zusehen, wie unter den iranischen Mullahs Armageddon vorbereitet wird, Amerika schwerlich abwarten, bis das grosse Ölfass der Welt in Flammen aufgeht.

Solche Szenarien sind, wenn man die Dinge zu Ende denkt, nicht ausgeschlossen. Sollten sie Wirklichkeit werden, wird sich die Frage mit bitterem Ernst stellen, ob Deutschland in den sieben Jahren der rot-grünen Koalition eine Kraft der Stabilität oder der Instabilität war. Vieles spricht dafür, dass die deutsche Rolle dann sehr kritisch gesehen wird, vielleicht sogar selbstkritisch. Allein, dann ist es nach gegenwärtigem Erkenntnisstand zu spät.

Michael Stürmer, geboren 1938 in Kassel, studierte Geschichte, Philosophie und Sprachen an der London School of Economics, der Freien Universität Berlin und in Marburg. Seit 1973 ist er Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

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