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Irrationale Reflexe

Neue Höchststände in Aktienbörsen nähren Ängste vor Übertreibungen und angeblich entkoppelten Finanzmärkten. Zu Unrecht. Was es braucht, ist mehr Gelassenheit. Eine Anleitung.

Irrationale Reflexe
Thomas Hauser, photographiert von Philipp Baer.

«Aktienbörsen auf neuen Höchstständen; Korrektur voraus» titelte jüngst eine Zeitung, während ein bekannter Volkswirt meinte: «Viele alte Grundannahmen der Ökonomie erweisen sich heute als trügerisch; die Finanzmärkte entkoppeln sich von der Realwirtschaft.» Ende Oktober 2013 hielt ein Wirtschaftsmagazin fest: «Irrationale Reaktionen an den Finanzmärkten halten mehr denn je Anleger in ihrem Bann. Und lassen selbst Profis zuweilen verzweifeln.» Neben einer allgemeinen Skepsis gegenüber den Finanzmärkten liegt all diesen Äusserungen Unwissen, Selbstüberschätzung und ein latenter Pessimismus zugrunde. Läuft es an den Börsen schlecht, sehen viele selbsternannte Finanzgurus das Ende der Welt nahen, läuft es gut, dann weisen sie auf den sich angeblich abzeichnenden Absturz hin. Statt Sensationslust ist jedoch für den dauerhaften Vermögensaufbau eine nüchterne und langfristige Sicht angezeigt. Nur so kann man mit einer gewissen Gelassenheit von der ertragreichsten Anlage, der Aktie, profitieren und Anlagefehler vermeiden.

Beginnen wir beim Unwissen. Inspiriert durch die Finanzkrise glauben zahlreiche Ökonomen, Belege für die Entkoppelung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft zu finden. Oft zitiert und trotzdem falsch ist die Schlussfolgerung, dass auf Übertreibungen schliessen lasse, wenn ein Aktienmarkt stärker wachse als die Realwirtschaft. Die Schweizer Wirtschaftsleistung, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), ist seit 1925 im Mittel um 2,4 Prozent gewachsen, der Aktienmarkt hingegen um jährlich 7,8 Prozent. Diese unplausible Differenz von 5,4 Prozentpunkten soll auf eine Entkoppelung hinweisen? Nein. Erstens werden üblicherweise die Marktrenditen nominal, also vor Abzug der Inflation, angegeben, die Veränderung des BIP hingegen real. Nimmt man das Mittel der nominalen Veränderung des BIP von 4,8 Prozent, so wuchs der Aktienmarkt noch um 3 Prozentpunkte mehr als die heimische Wirtschaft. Drei Fakten plausibilisieren diese Diskrepanz und entkräften die Entkoppelungsthese: Erstens investieren viele Unternehmen im Ausland und profitieren vom höheren Wachstum in anderen Märkten. Zweitens können Unternehmen auch Gewinn erzielen, wenn die Wirtschaft nicht wächst, denn die Umsatzmarge ist eine Frage der betrieblichen Produktivität und Effizienz. Oder anders gesagt: der Gewinn von Unternehmen und somit ihr Wert kann zunehmen, auch wenn der Umsatz respektive die Wirtschaft als Ganzes stagniert. Drittens setzen Unternehmen üblicherweise auch Fremdkapital ein. Durch diesen Leverage kann – auch nach Abzug der Fremdkapitalkosten – die Rendite auf dem eingesetzten Eigenkapital, was der Gesamtrendite von Aktien entspricht, höher sein als das volkswirtschaftliche Wachstum.

Der Markt spiegelt Erwartungen wider, nicht News

Eine weitere Mär, die auf weit verbreitetem Unwissen beruht, ist das angeblich extrem irrationale Verhalten an den liquiden Finanzmärkten – oft fälschlicherweise gleichgesetzt mit Markt­ineffizienz. Auf den ersten Blick mutet es seltsam oder geradezu sarkastisch an, wenn der Markt bei der Verkündung schlechter Neuigkeiten, zum Beispiel eines Rückgangs des Betriebsergebnisses, freudig ansteigt, um dann beim nächsten Mal nach guten Neuigkeiten, einem Gewinnsprung, missmutig nach unten nachzugeben. Leider fehlt vielen das Verständnis für die Institution des Marktes: Millionen von Marktteilnehmern bilden sich (teils unterschiedliche) Erwartungen über den wahrscheinlichen Lauf der Dinge, schätzen somit den Einfluss von Neuigkeiten auf die Preise ab und gehen auf dieser Basis freiwillige Transaktionen ein. Es steht folglich jederzeit jedem Verkäufer ein Käufer gegenüber! Dank heutigen Kommunikationsmitteln und dem Gewinnstreben jedes einzelnen Marktteilnehmers sind liquide Märkte informationseffizient. Das heisst, alle öffentlich verfügbaren Informationen fliessen in Sekundenbruchteilen in die Preise ein. Wenn das Ausnutzen nichtöffentlicher Informationen wie bei diversen inzwischen verurteilten Hedge Funds zu hohen Renditen führte, ist dies weder ein Beleg für die Marktineffizienz noch für eine gute Anlagestrategie. Das Verhalten ist nach der Insidernorm schlicht und einfach kriminell. Irrational scheinen die Marktbewegungen für manchen, weil sie sich nicht danach richten, ob Neuigkeiten gut oder schlecht sind, sondern ob die Erwartungen insgesamt übertroffen, erfüllt oder enttäuscht werden. Wenn im Beispiel zuvor der Aktienmarkt auf die positive Neuigkeit eines Sprunges im Unternehmensergebnis von 20 Prozent mit Verlusten reagiert, liegt das daran, dass die aggregierte Erwartung aller Marktteilnehmer enttäuscht worden ist. Der Markt hat einen markanteren Anstieg in der Höhe von 30 Prozent bereits erwartet und in den Preisen verarbeitet. Trifft diese Erwartung nicht so ein, ist es rational, dass die Preise umgehend an den schlechteren Zustand angepasst werden und fallen.

Übertreibungen der Finanzmärkte nach oben in Form von Blasen und nach unten in Form von Crashs sind oft zitierte Belege für Irrationalität. Ob es Übertreibungen oder berechtigte Marktbewegungen sind, lässt sich nur schwer und erst im nachhinein feststellen – oft fehlen in der Ökonomie als Sozialwissenschaft anders als in den Naturwissenschaften fixe Ankerpunkte und Gesetzmässigkeiten. Wer in den letzten 13 Jahren am Schweizer Aktienmarkt investiert war, weiss aus leidvoller Erfahrung, dass es zwei Phasen mit fundamental kaum nachvollziehbaren Verlusten von jeweils über 50 Prozent gab. Dies muss indes nicht irrational sein. Denn bei kreditfinanzierten Investoren gibt es nach erlittenen Verlusten plötzlich einen Verkaufszwang, wenn der Kreditgeber den (Rest-)Wert des Kredits durch Liquidierung sichern will. So entsteht zusätzlicher Druck auf den Markt. Die Hartgesottenen, die dann kaufen, gehen zwar davon aus, dass sich der Markt wieder erholen wird, wissen aber nicht, wie lange es dauert und wie gross der zwischenzeitlich zu tragende Verlust sein wird. Für diese Unsicherheit wollen sie entschädigt werden; die Entschädigung muss umso grösser sein, je undurchsichtiger und unberechenbarer die Lage ist. Diese sogenannte Risikoprämie sichern sich die Käufer, indem sie zu Preisen kaufen, die deutlich unter den beispielsweise aus Firmenanalysen abgeleiteten Fundamentalwerten liegen. Jeder Autohändler folgt derselben Logik: Je ungewisser der Wiederverkaufswert und die Dauer, für welche das Fahrzeug auf dem Platz unverkauft stehen bleibt, sind, umso deutlicher liegt der gebotene Ankaufspreis unter dem fundamental hergeleiteten Eurotax-Wert.

An all jene, die beim Erreichen neuer Höchststände an den Aktienbörsen reflexartig vor dem Entstehen neuer Blasen warnen, sei der Hinweis erlaubt, dass das Erklimmen neuer Höchststände in Aktienmärkten, die langfristig einen klar steigenden Trend aufweisen, naturgemäss ein Stück Normalität darstellt. Ebenso normal und unüberraschend muss sein, dass man jedes Jahr wieder durch die Entwicklung überrascht wird. Legt man die jährliche Rendite des Schweizer Aktienmarktes seit 1925 von 7,8 Prozent zugrunde, so entsprach nur im Jahr 1937 die Rendite dem langfristigen Mittel, in 15 von knapp 90 Jahren war die Rendite geringer als –10 Prozent und in 26 Jahren war sie grösser als 20 Prozent. Das jährliche Schwankungsrisiko hat entgegen vielen Berichten im historischen Vergleich nicht zugenommen. Vor diesem Hintergrund verkommt die oft gehörte Aussage, das Anlegen sei heute schwieriger als früher, zur falschen Banalität. Überraschende Neuigkeiten traten und treten stets unerwartet auf. Sehr erstaunlich ist, wenn trotz dieser Fakten viele Finanzberater in gefährlicher Selbstüberschätzung Punktprognosen wagen und selbst sogar daran glauben. Leider ist die Treffsicherheit von kurzfristigen Finanzprognosen nicht wesentlich vom Zufall zu unterscheiden. Darüber hinaus unterliegen viele Laien und Profis gleichermassen einem prozyklischen Verhalten. Das heisst, sie drängen wie die Lemminge der Herde nach. Bei gutem Börsenwetter sehen sie den ewigen Sommer und bei Marktturbulenzen den nahenden Weltuntergang. Untergangsapologeten, wie es sie unter den Finanzgurus viele gibt, empfinden ohnehin jede Art von Zuversicht als Existenzbedrohung. Denn Zuversicht und Weitsicht lassen sich medial weniger gut vermarkten. Dies führt dazu, dass jene, die sich im emotionalen Spannungsfeld aus Angst und Gier von der Herde mitziehen lassen, im Mittel zu teuer kaufen und zu günstig verkaufen: Viele haben sich in der Krise unter Inkaufnahme grosser Verluste enttäuscht vom Markt abgewandt, den anschliessenden Aufschwung grösstenteils verpasst und lassen sich erst nach erfolgtem Anstieg wieder für Käufe motivieren.

Diversifikation als einziger «Free Lunch»

Was sind die Schlussfolgerungen? Erstens kommt man für den langfristigen Vermögensaufbau an liquiden Aktien nicht vorbei. Deren Anteil am Vermögen soll langfristig festgelegt sein anhand der eigenen Fähigkeit, finanzielle Risiken zu tragen und zu ertragen. Deshalb braucht man, zweitens, Geduld, um zeitlich gestaffelt und antizyklisch, also entgegen der Herde, in Krisen Positionen aufbauen zu können. Die ungarische Börsenlegende Kostolany wusste: «Aktiengewinne sind Schmerzensgeld – erst kommen die Schmerzen, dann das Geld.» Das Anlegen anhand kurzfristiger Prognosen mit dem Ziel, diese Schmerzen zu vermeiden, führt langfristig am Ziel vorbei. Drittens sind alle Anlageformen, die wenig liquide oder intransparent sind, wie beispielsweise Private Equity, Immobilien, Infrastrukturanlagen oder gewisse Hedge Funds, mit Vorsicht zu betrachten. Denn illiquide Märkte verarbeiten Neuigkeiten nur sehr langsam, gaukeln damit eine Scheinstabilität vor, bis sie unter grossem Druck massiv nachgeben. Die Anlage mit hohem Gewinn und geringem Risiko gibt es nur in den Broschüren der Finanzdienstleister. Und viertens soll der einzige «Free Lunch», den es gibt, genutzt werden: die Diversifikation. Innerhalb der Aktien soll das Risiko über genügend Titel gestreut sein; Klumpenrisiken sind zu vermeiden. Jene, die im Gesamtvermögen das Aktienrisiko reduzieren möchten, sollen dies mit liquiden Mitteln und Obligationen bester Qualität tun. Stattdessen zeichnen Hasardeure derzeit wie wild Schrottanleihen von maroden Staaten oder Firmen. Wenn das nur gut geht!

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