«Irgendwann läuft dir das WC über, und du brauchst dringend einen Sanitärinstallateur – dann bist du bereit, 200 Franken die Stunde zu zahlen»
Eltern und Lehrer bestimmen mit, ob künftig noch ausreichend Handwerker verfügbar sind. Ein Gespräch über den Fachkräftemangel zwischen Gartenbauunternehmer Christian Erni und RAV-Berater Reto Moser.
Christian, du hast Erni Gartenbau 1986 gegründet, vor bald 40 Jahren. Was hat sich in dieser Zeit im Handwerk verändert?
Christian Erni: Heute haben wir im Gartenbau für fast jede Tätigkeit irgendeine maschinelle Unterstützung. Mehr verändert hat sich aber bei den Mitarbeitern. Vor 40 Jahren wurde das Handwerk als eine wertvolle Tätigkeit angesehen; zwei Drittel der jungen Leute sind in einem Handwerksberuf untergekommen. Heute ist es wohl noch ein Drittel. Lehrlinge zu finden, ist schwierig geworden.
Reto, kannst du das als RAV-Berater bestätigen?
Reto Moser: Die Arbeitgeber und Verbände bestätigen uns das. Um Lehrlinge zu finden, muss ein enormer Aufwand betrieben werden.
Erni: Bis vor zwanzig Jahren hatten wir ein Auswahlverfahren. Jeder, der sich für eine Lehrstelle bewarb, war eine Woche zum Schnuppern bei uns, musste sich danach nochmals schriftlich bewerben und dann nochmals eine Woche bei uns arbeiten. Es gab eine Prüfung und danach entschieden wir uns, welchen der zehn Anwärter wir nehmen. Heute gehen wir an Berufsmessen, präsentieren uns dort als wertvollen und interessanten Arbeitgeber und inserieren entsprechend. Wenn wir Glück haben, meldet sich ein Bewerber. Wenn wir noch mehr Glück haben, bekommen wir zwei. Aber das ist schon so eine Seltenheit.
Handwerk ist also ein Arbeitnehmermarkt, insbesondere bei der Lehre.
Moser: Ja, es ist ein Arbeitnehmermarkt. Wir merken das auch bei den Anmeldungen für die Arbeitslosenversicherung. Im Thurgau sind derzeit etwa 6700 Stellensuchende gemeldet. Davon sind relativ konstant immer etwa 11 Prozent aus dem Bauhaupt- und Nebengewerbe. Das sind aber nicht die gelernten Handwerker, sondern vor allem ungelernte Allrounder und Hilfsarbeiter aus dem niedrigen Lohnsegment. Gelernte Handwerker kommen selten zu uns und wenn, dann allenfalls direkt aus der Berufsschule, aus dem Militär, von einer Weltreise, nach einer Krankheit oder einem Unfall. Gelernte Handwerker finden in aller Regel umgehend eine neue Stelle.
Erni: Es stimmt, Hilfskräfte bekommen wir problemlos. Der Mangel besteht im Bereich der ausgebildeten Fachkräfte. Die sind wirklich sehr, sehr rar geworden.
«Gelernte Handwerker finden in aller Regel umgehend eine neue Stelle.» – Moser
Die Schweiz kann über die EU-Personenfreizügigkeit auf einen Arbeitsmarkt mit 450 Millionen Menschen zugreifen, von denen 250 Millionen erwerbstätig sind. Gerade in Deutschland müsste es doch viele fähige gelernte Mitarbeiter geben. Kriegt man die auch nicht?
Erni: Noch etwa vor zehn Jahren haben wir Mitarbeiter aus Ostdeutschland bekommen, die dort eine Berufslehre gemacht haben. Die sind über Temporärbüros zu uns gekommen, und wir konnten sie anschliessend übernehmen. Dieses Angebot besteht heute leider nicht mehr.
«Hilfskräfte bekommen wir problemlos. Der Mangel besteht im Bereich der ausgebildeten Fachkräfte. Die sind wirklich sehr, sehr rar geworden.» – Erni
Warum?
Erni: Die sind jetzt alle schon hier (lacht).

Bald kommt die SVP-Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» zur Abstimmung. Eine Annahme hätte die Kündigung der Personenfreizügigkeit zur Folge. Wie würde sich das auswirken?
Erni: Es ist nun bald 35 Jahre her, seit der Status der Saisonniers aufgehoben wurde. Damals dachten alle: Wir können nicht leben ohne Saisonniers! Wir mussten uns anpassen, was auch zu höheren Personalkosten und dementsprechend zu höheren Endpreisen geführt hat. Auch die SVP-Initiative würde sich am Ende im Preis für die Konsumenten auswirken.
Woher bekommt ihr neue Mitarbeiter?
Erni: Bis noch vor wenigen Jahren wanderte uns Personal zu, heute bilden wir es selber aus. In unserer Firma arbeiten Personen, die schon seit 35 Jahren bei uns sind. Das sind jedoch meistens Ausländer. Sie bleiben treu, weil sie gar keine Veränderung suchen. Bei den Schweizern ist es etwas anders. Sie wollen mit der Zeit umdisponieren und in einen Job mit höherem Lohn und einfacheren Arbeitsbedingungen wechseln.
Moser: Wir haben lange – das kann ich bestätigen – Zuzug aus Deutschland erhalten. Doch heute finden viele von ihnen Arbeit im süddeutschen Raum, wo inzwischen ebenfalls gute Löhne bezahlt werden. Vergessen wir nicht, dass es einiges an Willen braucht, damit jemand mit der ganzen Familie umsiedelt. Neue Mitarbeiter kommen heute eher aus Polen oder aus der Slowakei. Das Problem dabei: Die fehlen dann dort.
Die Polen gehen nach Deutschland, die Deutschen gehen in die Schweiz. Irgendwann geht es nicht mehr auf. Bilden wir also falsch aus, wenn es zu wenig Fachkräfte gibt, um die Nachfrage der Wirtschaft zu decken?
Moser: Das Problem ist vielleicht, dass der Königsweg, unser duales Bildungssystem, nicht überall gleich mitgetragen wird. Und dies, obwohl es ein zentraler Punkt unseres wirtschaftlichen Erfolgs ist.
Liegt’s an den Jungen?
Moser: Ich stelle fest, dass die Generation Z weiss, was sie will – und was sie nicht will.
Erni: Heute wird bei jedem Gespräch mit einem Lehrling der Wunsch nach Freizeit und Freiheit diskutiert. Wir wurden schon gefragt, ob man eine Lehre in einem 80-Prozent-Pensum machen könne. Hätte ich das zu meinem Lehrbeginn gefragt, der Vater hätte mir eins geschmiert … (lacht). Das grosse Problem sind die Lohnunterschiede zwischen einem handwerklichen Beruf und einem Büroberuf. Doch wenn wir Handwerker Glück haben, löst die Zeit das Problem: Irgendwann läuft dir das WC über, und du brauchst dringend einen Sanitärinstallateur. Weil du aber keinen findest, der das Problem lösen kann, bist du bereit, 200 Franken die Stunde zu zahlen. Aktuell wirst du als Handwerker nicht zum Millionär.
Als Unternehmer auch nicht?
Erni: Als Unternehmer ist es möglich, aber dann spielen noch andere Faktoren mit. Mit dem Handwerk allein geht es nicht. Früher wurde der Berufslehrgang aus dem Elternhaus mitbestimmt, heute entscheiden die Jugendlichen frei. Vielfach kennen sie die handwerklichen Berufslehren gar nicht. Frag mal in der Schule, was ein Bauer macht – die Schüler haben keine Ahnung, vor allem in der städtischen Agglomeration. Irgendwann werden sie merken: Ohne den Bauer bekomme ich keine Milch, ohne Schreiner fehlt die Tür im Haus. Das Bewusstsein der jungen Leute wird sich wandeln. Für mich ist klar, dass die Zahl der Handwerker zunehmen wird. Alle handwerklichen Berufe werden an Achtung gewinnen. Ob wir das noch erleben, weiss ich aber nicht.
«Ich stelle fest, dass die Generation Z weiss, was sie will – und was sie nicht will.» – Moser
Das kann ich aus dem Journalismus bestätigen: Journalisten haben oft keine Ahnung, mit was für Herausforderungen Handwerker, Bauern, Unternehmer zu kämpfen haben. Weil sie selbst nie so was gemacht haben.
Erni: Es wird auch in Zukunft unterschiedliche Menschen geben: handwerklich begabte und solche, die lieber mit dem Computer arbeiten. Das sehen wir bei den Jungen, die sich bei uns vorstellen. Viele von ihnen wollen nicht mehr in die Schule gehen, sondern anpacken und etwas machen. Solche Jugendliche wird es auch in Zukunft geben. Nur ist der Markt unterdessen so gross, dass wir das Arbeitskräfteangebot, das wir brauchen, nicht mehr selber generieren können.
Künstliche Intelligenz wird bald viele Akademiker ersetzen; dennoch verdienen sie nach wie vor sehr viel mehr als zum Beispiel Elektroinstallateure oder Pflegefachkräfte, nach denen eine riesige Nachfrage besteht. Warum spielt der Markt nicht? Braucht es noch mehr Akademiker?
Moser: Ja, natürlich! Die ETH Zürich ist nicht umsonst die ETH Zürich. Solche Institutionen ziehen die Spitzenfachkräfte und auch internationale Unternehmen wie etwa Google in die Schweiz; das darf man nicht vergessen. Diese Unternehmen bieten wiederum Chancen für unsere Fachkräfte wie auch Ausbildungsplätze auf Stufe Berufslehre.

Gibt es ausreichend Nachwuchs von Unternehmern und Unternehmerinnen in der Schweiz?
Erni: Im Handwerk sehe ich viele Neugründungen, vor allem durch Personen aus der zweiten Generation der Zugewanderten. Secondos machen wohl 80 Prozent der Neugründungen im Handwerksgewerbe aus. Ihre Eltern sind vor 30 bis 40 Jahren in die Schweiz gekommen und wurden hier ausgebildet. Ihre Kinder führen das Handwerk weiter, weil ihr Vater das mit Stolz gemacht hat.
Gibt es auch langweilige Arbeiten, die repetitiv sind und die in Zukunft von Robotern übernommen werden können?
Erni: Sicher, zum Beispiel der Rasenroboter. Beim Erstellen von Planierungen werden die Maschinen heute über Laser gesteuert. Es gibt viel, das man automatisieren kann – Unkraut jäten ist leider noch nicht dabei. Aber vielleicht gibt’s auch das einmal.
«Secondos machen wohl 80 Prozent der Neugründungen im Handwerksgewerbe aus.» – Erni
Die Schweiz bildet hervorragende Fachkräfte aus und gewinnt oft die Berufsmeisterschaften – wir empfangen selbst Delegationen aus den USA und aus China, die sich anschauen, wie das duale Bildungssystem funktioniert. Und doch will jeder Akademiker sein Kind an die Universität schicken. Wie kriegt man das Bild aus den Köpfen, dass Handwerk etwas Minderwertiges ist?
Moser: Da sind wir natürlich alle als Gesellschaft gefordert. Wir müssen bereits in den Schulen und auch bei den Eltern ansetzen, und zwar frühzeitig. Es reicht nicht, wenn wir die Leute abholen, wenn sie 16 oder 17 sind, denn dann haben sie bereits ein Bild, eine Vorstellung entwickelt. Wir müssen aufzeigen, dass ein Hochschul- oder Fachhochschulabschluss nicht der einzig richtige oder erfolgreiche Weg ist. Die Berufslehre ist in der Schweiz ein sehr guter Start ins Berufsleben, und mit dem dualen System steht einer späteren Weiterbildung bis hin zum Studium nichts im Wege.
Und wie geschieht das konkret?
Moser: Wir haben nicht nur gute Berufsmessen, Schuleinladungen und Zukunftstage, an denen alle mitwirken können. Es gibt auch den Tag der offenen Türe bei grossen Unternehmen und KMUs. So machen wir potentielle Fachkräfte bereits in jüngeren Jahren neugierig auf diese Berufe. Ich sehe, dass die Schülerinnen und Schüler in der zweiten und dritten Sekundarstufe von den Lehrkräften sehr gut begleitet werden. Sie werden informiert und unterstützt. Es braucht nur noch etwas mehr Überzeugungsarbeit von uns allen.
Wenn du einen Jugendlichen bei dir im Büro hast, der eine Lehrstelle im handwerklichen Bereich sucht, was rätst du ihm?
Moser: Wir können nur aufzeigen, welche Möglichkeiten es gibt, und die Person bestärken, damit sie eine eigenständige Entscheidung für sich fällen kann. Junge Leute müssen lernen, ihre intrinsische Motivation zu entdecken – ohne die geht‘s nicht.
In welchen handwerklichen Bereichen mangelt es am meisten an Fachkräften?
Moser: Von den aktuell 25 meistinserierten Stellenanzeigen kommen 10 aus dem Gewerbe; dort fehlen beispielsweise Elektroinstallateure, Gartenbauer, Sanitärinstallateure, Haustechniker, Spengler oder Dachdecker. Diese Fachrichtungen sind aktuell ganz schwierig zu besetzen.
Erni: Als Prüfungsexperte und Lehrmeister sehe ich, wie sich die Ausbildung in den letzten Jahren entwickelt hat. Diese ist in den Handwerksberufen heute wirklich hervorragend, nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch. Wenn ich die Ansprüche sehe, die an den Abschlussprüfungen gestellt werden im Vergleich zu vor 30 Jahren, sind das Welten. Besuche ich das Ausland und sehe, wie dort gearbeitet wird, dann darf ich stolz auf unsere Ausbildung und unser Handwerk sein.