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INTRO

«Wenn etwas nicht funktioniert oder nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen, dann, so glauben wir, hat jemand – die Eltern, die Gesellschaft, die Politik, der Staat – seine Aufgabe nicht richtig erledigt, weshalb er, bitte schön, für Ersatz sorgen müsse. Der Gedanke, dass wir die Gesellschaft sind, dass die Demokratie nicht nur eine Angelegenheit der Politiker, sondern auch der Bürger ist, scheint immer mehr auf dem Rückzug zu sein.»

Der Schweizer Psychoanalytiker und Philosoph Carlo Strenger hat zum Jahresbeginn ein sehr erhellendes Büchlein – «Abenteuer Freiheit. Ein Wegweiser für unsichere Zeiten» (Suhrkamp); daraus das Zitat – vorgelegt, das auf wenigen Seiten viel Essenzielles zum Umgang des westlichen Individuums mit seiner Freiheit versammelt. Letztere, so Strenger, sei kein Naturgesetz, und einzig mit möglichst viel staatlich garantierter negativer Freiheit (Freiheit von) sei es im liberalen Sinne auch nicht getan. Der in Tel Aviv lehrende Professor skizziert Freiheit – in Anlehnung an Isaiah Berlin – denn auch nicht als Zustand, sondern eher als Zuständigkeit. Genauer: als Zuständigkeit jedes einzelnen. Wer, so Strenger, nämlich von seinen zugestandenen negativen Freiheiten keinen Gebrauch macht, indem er sie produktiv nutzt (Freiheit zu), der wird ihren Wert und ihre Potenziale weder nachvollziehen noch gegen Kräfte, die sie einschränken wollen, verteidigen können. Immer weniger Mitbürger fassten Freiheit als Chance auf, so Strenger, weshalb sie auch im Politischen eine immer geringere Rolle spiele.

Der enorme, demokratisch legitimierte Abbau von Freiheiten, dem wir gegenwärtig beiwohnen, resultiert demnach aus einem darbenden Freiheitsverständnis im sogenannten Westen. Nachweise dafür finden sich zuhauf, quer durch alle sozialen Schichten. Egal, ob es um innere Sicherheit, um Wirtschafts- oder Medienfreiheit (Stichwort «Wahrheitsministerium»; hier) oder um Soziales geht: nach Jahrzehnten der Freiheitsgewinne (Stichwort «Fortschritt»; hier) scheinen sich die Bürger heute wieder nach mehr Berechenbarkeit durch zentrale Planung zu sehnen. Allenthalben heisst es: Jemand soll es richten! Die Schweiz bildet hier keine Ausnahme. Der Staat «rettet» deshalb – mal mehr, mal weniger offensichtlich – Banken, Bauern und Bilaterale, «Inländer» vor Ausländern, Mütter vor dem Arbeiten, Schweizer Käse (Stichwort «Swissness»; hier) vor fremden Richtern (Stichwort «Selbstbestimmungsinitiative»; hier). Gleichzeitig bieten sich Politiker und Gruppierungen mit allerlei Initiativen, Protesten und Aufrufen als Identitätsstifter für das überforderte Individuum an.

Diese demokratische Konfettikanone mag ja hin und wieder unterhaltsam, in der Schweiz manchmal sogar produktiv sein. Auf der Strecke bleibt aber nicht selten, was wirklich wichtig, bloss nicht für jeden erkennbar ist – oder schlicht ein zu geringes demokratisches Erregungspotenzial hat. Ein Beispiel? Die gefährliche Expansionspolitik, mit der die grossen Notenbanken seit Jahren die lahmenden Volkswirtschaften am Leben erhalten, dabei aber die Ersparnisse ihrer Bürger entwerten. Während der Sparer so zum Fall für die Geschichtsbücher wird (Stichwort «Negativzins und Umverteilung»; hier), die ökonomischen Verwerfungen und ihre politischen Radikalisierungspotenziale längst dramatisch sind, eiert die Politik – auf demokratisches Geheiss hin! – um neue plakative Ober- und Untergrenzen bei Einwanderung, Lebensmittelherkunft und Mineralölsteuerzuschlag herum, schottet Märkte ab und gaukelt Sicherheiten in alternativen Realitäten vor. Noch schlimmer in den USA: hier ist der neugewählte, ökonomisch offensichtlich weitgehend unbedarfte Präsident de facto schon für die Öffnung und Schliessung von Automobilwerken, auch in Mexiko, verantwortlich. Mehr Delegation geht nicht.

Wir halten auch im neuen Jahr dagegen. Nüchtern, lösungsorientiert, mit Freude am Disput.

Viel Vergnügen!


Michael Wiederstein
Chefredaktor

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