INTRO
«Die Vermehrung unserer Annehmlichkeiten durch eine bessere Verteilung der Arbeit, indem jedes Land jene Waren produziert, für die es durch seine Lage, sein Klima sowie durch seine anderen natürlichen oder künstlichen Vorteile geeignet ist, und sie gegen die Waren anderer Länder eintauscht, ist für das Wohl der Menschheit genauso wichtig wie ihre Verwendung.»1
Die Idee des möglichst freien Handels, wie sie in diesem Eingangszitat David Ricardo skizziert, hat zurzeit einen ziemlich schweren Stand im urbanen europäischen Mittelstand. Stets ginge er – so die an gemütlichen Abendessen mit Freunden gerne geäusserte Überzeugung – zu Lasten der Schwächsten. Der Drogist in Kreuzlingen müsse seinen Laden schliessen, heisst es, weil die Thurgauer Familienväter ihre Markenwindeln nur noch zu «Dumpingpreisen» in Konstanz kauften. Das könne doch niemand wollen, wird bei feinem italienischem Wein und phantastischer, in Deutschland produzierter «Schweizer Schokolade» konstatiert.
Auf oberster politischer Ebene hat man die Signale gehört und gehandelt: Parteien von UKIP über Die Linke bis zum Front National gewinnen ihre Stimmen mit der Bewirtschaftung des neuen Unbehagens in der Globalisierung. Donald Trump, der die Welt in «Winner» und «Loser» einteilt, tourte mit seiner Anti-Freihandels-Erzählung durch den gesamten US-amerikanischen Mittleren Westen. Die Freihandelsverträge mit China ruinierten die heimische Wirtschaft, betonte er, ganze Industrien seien verschwunden, weil ihre Produktion ausgelagert und die Arbeitnehmer auf die Strasse gestellt worden seien. Diese Praxis gehöre verboten, ihre Agenten zur Rechenschaft gezogen und Freihandel-sabkommen gekündigt. Die Rhetorik ist eine simple: «Winner» sind in diesem Fall China und die Grosskonzerne. Die «Loser» seid ihr, das Volk.
Den Entrüstungsstürmen, ob in Schweizer Wohnzimmern oder auf amerikanischen Bühnen, liegt ein grobes Missverständnis zugrunde: die Vorstellung von Handel als statischem Nullsummenspiel. Der Kuchen, der Wohlstand ist, hat nach dieser Lesart eine feste und unveränderliche Grösse. Schneidet sich jemand ein Stück ab, haben andere weniger. Das ist eine intuitiv einleuchtende Erzählung. Und sie ist nachweislich falsch. Jeder Handel, egal, ob er zwischen zwei Individuen auf einem Flohmarkt oder zwischen zwei Unternehmen über die halbe Welt hinweg stattfindet, kommt nur zustande, weil beide Vertragspartner ihn als Gewinn betrachten. Vom Umzug der amerikanischen Firma nach China profitieren also zunächst der Standort China und die amerikanische Firma. Sonst käme der Entscheid nicht zustande. Auf lange Frist aber – und nicht ohne sinnvolle Institutionen – kann die Gesellschaft als Ganze profitieren: Wenn jede Person und jedes Unternehmen das tun, was sie besonders gut und günstig können, sich also spezialisieren, statt alles auch zu tun, wird die gesamte Produktion immer besser und effizienter. Wir verbrauchen weniger Ressourcen – weniger Geld, weniger Arbeit, im besten Fall auch weniger Energie und Landschaft – für dasselbe Ergebnis. Die frei werdenden Potenziale können dann woanders neu investiert werden. So bleibt der Kuchen eben nicht gleich, sondern wächst!
Thurgauer Drogisten, beispielsweise, mögen verschwinden oder Markenwindeln aus dem Sortiment nehmen, wenn den Kunden der Lokalbezug bei Pampers und Co. nicht so wichtig ist. Dafür haben die Bürger aber nun mehr Budget, das in die Arbeit einer lokalen Künstlerin, echten Thurgauer Apfelsaft oder die private Kinderkrippe investiert werden kann. Also für Dinge, wie sie die Damen und Herren der Tischrunde eigentlich sehr
sinnvoll finden.
Würde der grenzüberschreitende Handel übrigens eingestellt oder verboten, so hätten die reichsten Bewohner eines durchschnittlichen Landes eine schlagartige Kaufkrafteinbusse von 28 Prozent zu verkraften. Kann sein, dass sie das schaffen. Aber: die ärmsten 10 Prozent würden sage und schreibe 63 Prozent ihrer Kaufkraft einbüssen.2 Genau das kann nun tatsächlich niemand wollen.
Michael Wiederstein
Chefredaktor
1 David Ricardo: On the Principles of Political Economy and Taxation. London: John Murray, 1821. Deutsche Übersetzung: Gerhard Bondi.
2 The Economist, 1.10.2016.