INTRO
«Es gehört mit zum Wesen der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln aufgebauten Gesellschaft, dass jeder dort arbeiten und dort verzehren darf, wo es ihm am besten dünkt.» Ludwig von Mises: «Liberalismus»
Am Thema Migration scheiden sich auch im liberalen Lager die Geister: Die einen verstehen offene Grenzen als Pendant zu offenen Märkten, als Konkurrenz begünstigendes Mittel zur Wohlstandssteigerung oder als Möglichkeit zur legitimen «Abstimmung mit den Füssen». Die anderen betonen – ebenso richtig – die Wichtigkeit von Grenzen im Hinblick auf den Clubcharakter der National- und Sozialstaaten und ihrer künftigen Finanzierbarkeit. Es geht also um die realpolitische Annäherung an zwei sehr verschiedene liberale Ideale: die (Bewegungs-)Freiheit des Individuums und die vernünftige Ordnungspolitik des Staates. Interessanterweise ist es in der jüngeren Vergangenheit gerade der Schweiz gelungen, beide Ideale realpolitisch trefflich zu kombinieren – was ob der aktuell aufgeheizten Stimmung nicht oft genug betont werden kann.
Migration ist ja zunächst einmal eine menschheitsgeschichtliche Tatsache, ein Treiber von Innovation, Wohlstand und gesellschaftlichem Wandel, von Vernetzung und in jüngerer Zeit auch von anhaltendem Frieden einerseits. Andererseits ist sie aber auch stets eine Ursache für kulturelle, wirtschaftliche und politische Konflikte, historisch nicht selten kriegerische. Mit dem Aufkommen der Nationalstaaten – und erst recht mit dem der Wohlfahrts- und Sozialstaaten – haben sich diese Konfliktpotenziale stark erhöht, wenngleich auch langsamer als die Berge unseres Wohlstands. Letzterem Umstand trägt die öffentliche Meinung immer weniger Rechnung, was mitunter daran liegen dürfte, dass einerseits nur wenigen wirklich bekannt ist, wie immens und schnell unser Wohlstand tatsächlich gewachsen ist, gleichwohl aber jedem deutlich geworden sein dürfte, dass auf dem Kontinent aktuell viele migrationspolitische Fehler gemacht werden, deren Folgen (auch für den Wohlstand) selbst für Experten kaum absehbar sind.
Der Schwerpunkt dieser Ausgabe stellt deshalb die provokante Frage: Was kostet die Migration? – und er stellt sie vor allem Schweiz-spezifisch, da kaum bestreitbar ist, dass die Schweiz anders gelagerte Probleme hat als viele Länder der Europäischen Union, namentlich Italien und Griechenland, aber auch Deutschland und Frankreich. George Sheldon, emeritierter Volkswirtschaftsprofessor an der Universität Basel, liefert deshalb eine detaillierte Fiskalbilanz der Einwanderung, die nicht nur einen guten Überblick über die finanziellen Folgen der Migration gibt, sondern auch zu brisanten Ergebnissen im Hinblick auf die künftige Migrationspolitik führt (hier). Tobias Schlegel plädiert – wie Ludwig von Mises mit seinem Eingangszitat – für die Rückkehr des Arbeitsmarkts als effizientestes und fairstes Regulativ der Einwanderung (hier), gerade im Hinblick auf die Wettbewerbsverzerrungen, die hierzulande mit planwirtschaftlichen Quotensystemen und «flankierenden Massnahmen» längst Realität sind. Und Paul Collier, der wohl bekannteste Migrationsforscher unserer Tage, steuert die exklusive Titelgeschichte bei, in der er veranschaulicht, warum zunächst saubere Unterscheidungen zwischen Migration und Flucht vorzunehmen wären, damit endlich die europäische Politik und ihr Grenzregime grundlegend reformiert werden können (hier).
Klar ist: das Thema Migration wird den Kontinent immer stärker beschäftigen, er muss möglichst rasch neue Strategien in der Bewältigung finden, die moralisch und finanziell tragbar sind. Klar ist ebenso: ohne Einwanderung geht es in industrialisierten Gesellschaften, die ihr Niveau halten wollen, nicht. Es ist also höchste Eisenbahn, eine sachliche Diskussion zu führen, die das Ziel verfolgt, Ordnungspolitik und Freizügigkeit praktischer und effizienter miteinander zu verzahnen. Das ist alles andere als unmöglich. Aber es gilt manch ausgeblendete, unbequeme Wahrheit zuerst zu benennen, bevor aus und mit ihr zu lernen ist.
Michael Wiederstein
Chefredaktor