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Intoleranz im Namen der Toleranz
Yascha Mounk, fotografiert von Beowulf Sheehan.

Intoleranz im Namen der Toleranz

Die Redefreiheit stösst bei «Progressiven» zunehmend auf Ablehnung. Die Saat für diese Entwicklung wurde im 20. Jahrhundert durch die Neue Linke gepflanzt.

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Die einflussreichsten linken Argumente gegen die Redefreiheit stammen von Herbert Marcuse. Als Hitler an die Macht kam, hätte der deutsche Jude Marcuse eigentlich gerade eine Stelle im angesehenen Institut für Sozialforschung der Frankfurter Schule antreten sollen. Stattdessen war er gezwungen, in die Vereinigten Staaten zu fliehen und sich dort als intellektueller Apostel der Neuen Linken neu zu erfinden. Laut Marcuse könnten Prinzipien wie die Redefreiheit für eine wirklich freie Gesellschaft geeignet sein. Aber wie er in seinem Aufsatz «Repressive Toleranz» behauptet, sind die westlichen Demokratien seiner Zeit durch Klassenherrschaft und Medienpropaganda gekennzeichnet. Unter diesen Umständen «wird die Freiheit (der Meinungsäusserung, Versammlung und Rede) zu einem Instrument, die Knechtschaft freizusprechen», und die Redefreiheit diene dann dazu, die Unterdrückung zu schützen.

Die Lösung besteht laut Marcuse darin, dass eine «umstürzende Mehrheit», wenn nötig auch mit gewaltsamen Mitteln, die Macht ergreift und «Gruppen und Bewegungen die Rede- und Versammlungsfreiheit entzieht, die eine aggressive Politik, Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassischen und religiösen Gründen befürworten oder sich der Ausweitung öffentlicher Dienste, sozialer Sicherheit, medizinischer Fürsorge usw. widersetzen». Es wäre dann die Aufgabe einer intellektuellen Avantgarde, die «politischen Praktiken, Meinungen und Bewegungen zu bestimmen, die [wahre Toleranz] befördern würden». (Tatsächlich hätten laut Marcuse mehrere wichtige Bewegungen, wie in jüngerer Zeit «die Chinesische und die Kubanische Revolution», bereits mit Erfolg «die demokratische erzieherische Diktatur freier Menschen» etabliert.)

Inhaltsleere Beschwörung

Ein Vierteljahrhundert später formulierte der prominente Literaturwissenschafter Stanley Fish eine weitere einflussreiche Absage an die Redefreiheit. Laut Fish ist allein schon die Idee der Redefreiheit logisch inkohärent. Da «abstrakte Vorstellungen wie die Redefreiheit keinen ‹natürlichen› Inhalt haben», so Fish in Anlehnung an Michel Foucault, seien sie stets «von den Inhalten und der Richtung geprägt», die ihnen die Sieger politischer Kämpfe verleihen. In der Tradition der von der Frankfurter Schule geprägten Critical Legal Studies vertritt Fish die Ansicht, dass es zwischen Äusserungen, die durch Bestimmungen zur Redefreiheit (wie etwa den ersten Zusatzartikel der US-Verfassung) geschützt sind, und Äusserungen, die legitimerweise eingeschränkt werden können, keinen prinzipiellen Unterschied gebe.

So sei etwa die Ansicht weit verbreitet, dass «Fighting Words» – Äusserungen, die geeignet sind, den Angesprochenen so zu beleidigen, dass sie verständlicherweise eine heftige Gegenreaktion provozieren – nicht durch den ersten Zusatzartikel geschützt sind. Doch das Problem besteht laut Fish darin, dass die Einschätzung, welche Äusserungen einen Durchschnittsbürger in einem solchen Ausmass in Rage versetzen würden, immer höchst subjektiv ist. Dies sei kein Einzelfall: Die Grenze zwischen dem, was erlaubt werden müsse, und dem, was verboten werden könne, sei immer ein politisches Problem. Deshalb sei die Redefreiheit bedeutungslos, eine inhaltsleere Beschwörung, welche die real wirksame Dynamik der Macht klug verschleiere. «Redefreiheit», schliesst Fish, «ist nur der Name, den wir einem verbalen Verhalten geben, das den Vorstellungen dient, die wir gern durchsetzen wollen.»

Die Debatte als «Fetisch»

Der Nachhall der Argumentationsstränge von Marcuse und Fish ist in den heutigen Angriffen auf die Redefreiheit deutlich erkennbar. Marcuses Gedanke, dass «wahre» Toleranz nur bei Intoleranz gegenüber verwerflichen Ansichten möglich sei, hat heute einen enormen kulturellen Einfluss. So twitterte etwa die britische Labour-Abgeordnete Nadia Whittome kürzlich: «Wir dürfen die Debatte nicht zum Fetisch machen, als wäre die Debatte selbst ein harmloser, neutraler Akt. Schon die blosse Debatte ist in diesen Fällen ein effektiver Angriff auf die Gleichheit und ein Fuss in der Tür für Zweifel und Hass.» Sogar noch offensichtlicher ist der Einfluss von Marcuse in der Arbeit des antirassistischen Bestsellerautors Ibram X. Kendi, etwa wenn dieser behauptet: «Rassistische Ideen sind sowohl falsch als auch gefährlich. Ich betrachte rassistische Ideen nicht als eine Form freier Rede. Ich betrachte sie als eine Form unfreier Rede.» Damit will Kendi sagen, dass er Rassisten das Wort verbieten möchte.

«Marcuses Gedanke, dass ‹wahre› Toleranz nur bei

Intoleranz gegenüber verwerflichen Ansichten möglich sei, hat

heute einen enormen kulturellen Einfluss.»

Auch Fishs Gedanke, die Befürworter der Redefreiheit hätten lediglich andere Präferenzen, was die Trennlinie zwischen erlaubter und nicht erlaubter Rede beträfe, und dass diese unbestimmte Trennlinie den Interessen der Mächtigen diene, ist schnell Mainstream geworden. «Wann wird die Redefreiheit der Unterdrückten geschützt?», fragte eine Studentengruppe, die eine Veranstaltung mit einem Sprecher der American Civil Liberties Union (ACLU) störte. «Wir wissen aus eigener Erfahrung», beantworteten die Studenten ihre eigene Frage, «dass Rechte, die wohlhabenden, weissen, männlichen, heterosexuellen Körpern gewährt werden, nicht an marginalisierte Gruppen durchsickern.»

Katastrophale Folgen

Insgesamt also ist im Laufe des letzten Jahrzehnts eine ablehnende Haltung gegenüber der Redefreiheit erstaunlich einflussreich geworden. Die Vertreter dieser Einstellung porträtieren jeden, der sich über formelle oder informelle Einschränkungen der Redefreiheit Sorgen macht, als rechten Reaktionär, der heimlich danach strebt, bestehende Hierarchien der Unterdrückung aufrechtzuerhalten. Manche bestreiten, dass sich die Fälle, in denen Menschen für unbedeutende oder eingebildete Vergehen mit schweren persönlichen und beruflichen Strafen sanktioniert werden, zu einer besorgniserregenden Form von Cancel Culture summieren. Andere feiern diese Fälle aktiv als Ausdruck einer gesunden «Consequence Culture». (So sagte etwa Denise Branch, eine prominente «Anti-Rassismus-Beraterin», in einem Interview mit Forbes: «Eine ‹Consequence Culture› ist notwendig, um Arbeitsplätze zu schaffen, die sich durch mehr Sicherheit, Inklusion, Gleichberechtigung und Verantwortlichkeit auszeichnen.») Weil keine formelle staatliche Macht ausgeübt wird, bestreiten beide Gruppen, dass es eine Bedrohung für die Redefreiheit darstelle, wenn etwa in den sozialen Medien bestimmte Inhalte zensiert werden, Privatfirmen Beschäftigte wegen ihrer Ansichten entlassen oder Verlage umstrittene Autoren ausbooten, weil ihre Bücher von Angestellten als unzumutbar empfunden werden.

«Manche bestreiten, dass sich die Fälle, in denen

Menschen für unbedeutende oder eingebildete

Vergehen mit schweren persönlichen und beruflichen Strafen

sanktioniert werden, zu einer besorgniserregenden Form

von Cancel Culture summieren. Andere feiern diese Fälle

aktiv als Ausdruck einer gesunden ‹Consequence Culture›.»

Können die Verteidiger der Redefreiheit die von ihren Kritikern vorgebrachten Argumente widerlegen? Ja. Die traditionellen Argumente für eine weitreichende Kultur der Redefreiheit, die sich auf die Vorteile dieses Ideals konzentrieren, haben bis heute kaum etwas an Relevanz verloren. Noch stärker jedoch sind meiner Ansicht nach die Argumente, die sich auf die katastrophalen Folgen konzentrieren, die eintreten, wenn die Redefreiheit abhandenkommt. Und diese Argumente sind in einer Zeit, in der die Gesellschaft zutiefst polarisiert ist und in der Politik gefährlich viel auf dem Spiel steht, sogar besonders relevant.

«Die traditionellen Argumente für eine weitreichende Kultur

der Redefreiheit, die sich auf die Vorteile dieses Ideals konzentrieren,

haben bis heute kaum etwas an Relevanz verloren.»

Dieser Text ist ein Auszug aus dem neu erschienenen Buch «Im Zeitalter der Identität» (Klett-Cotta, 2024).

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