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Ins Début mit 11 Geschichten

Anja Jardine: «Als der Mond vom Himmel fiel». Zürich: Kein & Aber, 2008.

Unter den Débuts des Frühjahrs 2008 sticht der Erzählband «Als der Mond vom Himmel fiel» von Anja Jardine hervor. Präzise, atmosphärisch dicht erzählt die Autorin in 11 Geschichten von Menschen, die auf ihr Glück warten. «Possibly maybe probably love» ist im Vorspann die Sängerin Björk zitiert: Es könnte sein, vielleicht wahrscheinlich.

Als Beobachterin besitzt Anja Jardine, Redaktorin beim NZZ-Folio in Zürich, ein scharfes Auge für abschüssige Details und sublime Signale. So in der Erzählung «Badnjars Augen». Unmittelbar nach Ende des Bosnienkrieges begleitet eine Reporterin den vertriebenen Bosnier Mevsud nach Sarajevo zurück. Die Behörden haben ihn ausgeschafft, kaum ist ein brüchiger Friede geschlossen worden. Seine alte Wohnung im Stadtteil Ilidja ist noch von den Serben besetzt, doch Mevsud möchte sie wiedersehen – und vor allem seinen serbischen Nachbarn und Freund besuchen, bevor er laut Friedensvertrag wegzugehen hat. Vor dem Haus begegnen sie Badnjar. Brutal und dumpf gefällt er sich in der Pose des bewaffneten Kriegers – wenn seine Augen nicht wären. «Es liegt etwas Bittendes darin, ein Flehen.» Während Badnjar sich gleich wieder fasst, verfolgt sein Blick die Erzählerin in ihre Träume.

Geduldig und behutsam forscht Anja Jardine ihren Figuren nach, die unglücklich, unstet, unbeholfen auf der Suche nach dem Glück sind. In der Liebe könnte sich dieses erfüllen, doch häufig weht es bloss wie ein flüchtiger Duft an ihnen vorüber. Ihre Protagonisten sind freundliche Menschen in Lebenslagen, die manchmal zum Verzweifeln sind. Beispielsweise in «Kreidehände», einer hinreissenden Reminiszenz an die Leiden der Gymnasialzeit. Die Dispute zwischen dem wunderlichen Physiklehrer Opitz und seinem gefährdeten Schüler Kalle drehen sich um die Freiheit: «Um die Frage, ob die Gesetzmässigkeiten, nach denen unsere kleinsten Bausteine agierten, überhaupt Raum für den freien Willen liessen.» In einem Anflug verzweifelten Aufbegehrens will Kalle seinem Lehrer beweisen, dass es einen Moment der Freiheit tatsächlich gibt: wenn zwei Menschen unabhängig voneinander aus unterschiedlichen Stockwerken von einem 75 Meter hohen Haus stürzen, können sie sich im Flug begegnen: dann sind sie «3,7 Sekunden lang nicht allein». Doch Opitz weist ihm kühl einen Rechenfehler nach. Der Mensch ist zur Freiheit geboren, vielleicht, aber es ist schwer, diese Freiheit zu erkennen und zu bewahren.

Anja Jardines Erzählband überzeugt durch seine Hingabe an die zwischen Beharrlichkeit und Selbstaufgabe schwankenden Figuren und durch ein beeindruckendes Feingefühl für deren Nichtverstehen, das den Geschichten jederzeit etwas unauflösbar Hintergründiges lässt.

vorgestellt von Beat Mazenauer, Luzern

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