Innovative EU
Gegen die EU zu wettern ist einfach. Vor allem, wenn man sie nicht kennt. Dabei ist die europäische Governance gar nicht so verschieden von der helvetischen.
Dass Europa in der Krise sei, ist in aller Munde. Natürlich müsste man gleich differenzieren: es gibt keine Eurokrise, sondern eine Staatsschuldenkrise, und es gibt in der EU auch vieles, was von aussen als Krise bezeichnet wird, aber in Tat und Wahrheit politischer Alltag ist. Der französische Staatspräsident beispielsweise spielte aus innenpolitischen Gründen den starken Mann auf Kosten der ethnisch Schwachen (Roma) und liess seine Minister faustdick gegenüber der EU-Kommissarin lügen. Diese vergriff sich (bewusst?) im Ton und drohte mit der Keule des Vertragsverletzungsverfahrens. Klammheimlich wurden diese Differenzen – hinter dem Getöse von Grossdemonstrationen und sozialer Unrast in Frankreich – bereinigt. Continuer comme si de rien n’était.
Die EU meistert seit über 50 Jahren solche Krisen – ja, NZZ-Redaktor Eric Gujer hat unlängst treffend bemerkt, dass Krisen «das Lebenselixier der EU» seien. Ich würde noch weiter gehen und feststellen, dass die EU aus jeder ihrer Krisen gestärkt hervorgegangen ist, was derzeit wenige politische Gemeinwesen von sich behaupten können.
Dieser alerte und flexible Umgang mit Krisen und die damit verbundene Lernbereitschaft hängen wesentlich mit dem zusammen, was ich «europäische Governance» nenne. Mangels vertiefter Kenntnis der EU spielen diese und die Bereitschaft, die EU gewissermassen von innen heraus zu verstehen, in der schweizerischen Diskussion praktisch keine Rolle. Sie sind aber einerseits sachlich unerlässlich, andererseits nicht zuletzt auch deshalb geboten, weil wir anderen (vielleicht zu Recht) vorwerfen, dass sie die Eigenheiten der Schweiz nicht genügend berücksichtigen. Doch nicht selten begnügt man sich hierzulande im Verhältnis zur EU bestenfalls mit Teilwahrheiten, oft auch nur mit ideologischen Versatzstücken, die man auf sie projiziert. Dabei huldigt man dem deutschen, aber in der Schweiz lehrenden Politikwissenschafter Joachim Blatter zufolge einem «traditionell sehr introvertierten Verständnis von demokratischer Selbstbestimmung».
Die EU hat – und dies durchaus ohne grand design, sondern pragmatisch – eine Regierungsstruktur und -praxis entwickelt, die es ihr erlaubt, höchst kreativ auf Schwierigkeiten unterschiedlichster Art zu reagieren. Sie ist ein Experimentierfeld von grosser Innovationskraft. Der deutsche Rechtswissenschafter Ulrich Haltern, mitnichten ein glühender EU-Verfechter, meint sogar, sie sei «als Experiment [zu] begreifen, politische Herrschaft jenseits des Nationalstaates stabil zu institutionalisieren und damit die Hypertrophien von Staatlichkeit zu zähmen».
Spezifisch, entscheidend und prägend ist dabei – wie überall – das Zusammenspiel der Institutionen:
• der Kommission mit kollegialer (!) Entscheidfindung und mit dem (fast) alleinigen Initiativmonopol als genialem Instrument (und 1. Innovation), um als wichtige Verhandlungsinstanz und Hüterin des Gemeinschaftsinteresses auf dem Verhandlungswege vor allem legislativen Konsens herbeizuführen, und dies in engerer Verzahnung mit
• dem Rat als genuin intergouvernementalem Element in der institutionellen Struktur der EU, halb Tagsatzung, halb Parlament und in einem bisher unbekannten Zweikammersystem (2. Innovation) mit
• dem Europäischen Parlament, das heute (v.a. auch dank dem Vertrag von Lissabon) durchaus im Rechtsetzungsverfahren zum gleichwertigen Partner der beiden anderen Akteure geworden ist. Zu betonen ist auch dessen heilsame Kompetenz zur Prüfung und Bestätigung der Kommissionsmitglieder, die nicht zuletzt 1999 in der Demission der Kommission Santer vollauf gespielt hat.
Schliesslich ist in diesem Viergespann zu nennen:
• der Europäische Gerichtshof (EuGH). Er hat im wesentlichen mit Richterrecht die «Gemeinschaft des Rechts» (Walter Hallstein) geschaffen, die in ihrer Qualität keinen Vergleich mit nationaler Rechtsstaatlichkeit zu scheuen braucht. Die geniale Erfindung (und 3. Innovation) war dabei das Vorabentscheidungsverfahren, das den Dialog mit den nationalen Gerichten begründet und entwickelt hat.
In der Alltagsrealität mündet die europäische Governance in eine keinesfalls überdimensionierte oder -bürokratisierte Verhandlungsmaschinerie, die in unzähligen Verhandlungsrunden leidliche und leidlich effiziente Lösungen produziert. Der tendenziell unterbesetzte Brüsseler «Apparat» arbeitet mithin im Schnitt mehr und effizienter als viele seiner Mitgliedstaaten.
Die EU ist heute aber nicht nur Alltag, sie ist vor allem auch eine völkerrechtliche internationale Ordnung, die sich durch Regierungskonferenzen gebildet und weiterentwickelt hat, und eine Verfassungsstruktur sui generis darstellt. Sie schafft, wie John Adams es im Continental Congress 1776 formulierte, «eine bislang unbekannte Regierungsform, die den Forderungen ihrer Zeit Genüge tut». Diskussionen, ob sie jetzt mehr Staatenbund oder Bundesstaat sei, oder gar der Vorwurf, sie entwickle sich von einem zum andern und sei deshalb illegitim, sind steril, und vorschnelle Pauschalurteile wie «Fehlkonstruk-tion» u.ä. sind arrogant. Wer heute so gegen die EU argumentiert, müsste ehrlicherweise auch den USA und dem schweizerischen Bundesstaat von 1848 Legitimität und innere Logik absprechen. So zeigt etwa das neueste Buch des amerikanischen Historikers Gordon S. Wood «Empire of Liberty: A History of the Early Republic, 1789–1815» auf, dass die jungen USA viel gravierendere politische, ideologische, wirtschaftliche, kulturelle und moralische Trennungsfaktoren kannten als Europa nach dem 2. Weltkrieg oder gar heute.
Neben der politischen Union ist die EU auch längst eine funktionierende Rechtsgemeinschaft. Die sich bereits am «Katastrophenszenario» der Desintegration der EU ergötzenden Gegner der EU sollten einmal erklären, wie man eine derart funktionierende Rechtsgemeinschaft zurückentwickeln soll. Und die schweizerischen EU-Kritiker müssten dann noch aufzeigen, wie sie sich konkret die Wahrung der Wohltaten der bilateralen sektoriellen Abkommen (Freihandel, Marktöffnung, Personenfreizügigkeit, Sicherheit u.a.m.) vorstellen, wenn die EU einmal, wie EU-Gegner es sich so sehnlich wünschen, abtritt und ihre Rechtspersönlichkeit verliert.
Unbestreitbar existiert allerdings in der EU ein Demokratiedefizit. Damit meine ich nicht, dass die EU nicht über direktdemokratische Elemente wie die Schweiz verfügt. Man kann mit guten Gründen argumentieren – und die Verfechter der amerikanischen Verfassung im Federalist haben es getan –, dass eine repräsentative Demokratie die bessere Demokratie für moderne, auf entwickelter Arbeitsteilung beruhende Verfassungsgesellschaften darstelle.
Das Demokratiedefizit der EU besteht im wesentlichen darin, dass mitgliedstaatliche Regierungen in Brüssel im Rat zur Legislative werden und sich dort der parlamentarischen Kontrolle und Verantwortlichkeit zuhause entziehen. Das ist ein Strukturproblem der EU, das sie nicht direkt, sondern nur indirekt und offensichtlich mit dem beschriebenen Innovationspotential lösen kann. Im Vertrag von Lissabon wird mit der Stärkung des Europäischen und der nationalen Parlamente ein wesentlicher Schritt in diese Richtung getan.
Mit Lissabon hat sich die EU mit dem Hohen Vertreter der Union für Aussen- und Sicherheitspolitik und dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) neue Strukturen und eine neue Orientierung in den Aussenbeziehungen gegeben. Natürlich ist es noch zu früh, über deren Tauglichkeit und Wirksamkeit zu befinden, auch wenn darüber schon eifrig geschrieben und gewitzelt wird. Einmal mehr kurzschlüssig ist aber die vorschnelle Kritik an deren Grösse: die anvisierten 5’000 Personen im Vollbetrieb (inkl. Diplomaten) wären klar weniger als die Hälfte dessen, was heute Deutschland dafür beschäftigt.
Unzweifelhaft wird das auch Veränderungen für die Schweiz bringen. Man darf ihr attestieren, dass sie sich bisher verhandlungstechnisch, d.h. diplomatisch, sehr gut auf ihr Gegenüber eingestellt und sich deutlich über ihrer Grösse verkauft hat. Absehbar ist aber auch, dass in der EU die Bereitschaft für Sonderlösungen für Drittstaaten – und damit für vorteilhaftere Regelungen als für Mitgliedstaaten! – noch mehr sinkt. Spätestens seit dem Beschluss des Ministerrates vom 8. Dezember 2008 gilt für die EU – aus Sorge für Kohärenz, Einheitlichkeit und Rechtssicherheit im europäischen Raum –, dass der Acquis communautaire in allen Verträgen grundsätzlich zu übernehmen ist.