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Inge Muntwyler

«Der Tumor», « De mortuis nil nisi bene» und «Vergesst das Lachen nicht» – mit diesen drei kurzen Texten über das Alter stellt sich Inge Muntwyler, die dieses Jahr ihren achtzigsten Geburtstag feiert, das erstemal der Öffentlichkeit vor.
Zu ihren Lesern gehörten bisher nur ihre Familie und ihre Freunde, von denen die Texte auch fast alle handeln. Das soll sich nun ändern. Lust auf mehr?
E-Mail an redaktion@schweizermonatshefte.ch

Der Tumor

Ich will warten, bis alle am Tisch ausgegessen haben. Es eilt nicht; was ich zu sagen habe, ist nichts Gutes. Wie üblich ist Frau Vogel im Rückstand – ihr Teller ist noch halb-

voll –, weil sie ununterbrochen redet – von Büchern, die sie gelesen und von Radiovorträgen, die sie gehört hat, von der Fahrt auf der Autobahn, eingeklemmt zwischen zwei Lastwagen, die so schnell fuhren, dass sie nicht überholen konnte. Ihr Hörapparat, durch zwei dünne Kabel mit den Kopfhörern verbunden, steht neben ihrem Teller und pfeift, wenn Metall in die Nähe kommt. Sie ist um die achtzig, hat während der Woche kaum Ansprechpartner, und so stürzt ihr angestautes Mitteilungsbedürfnis wie ein Wasserfall über unseren Tisch.

Oskar, über neunzig, isst schweigend. Auch er hat zunehmend Schwierigkeiten mit dem Gehör, nimmt nicht immer alles auf und wartet nur auf den Augenblick, wo er das Wort an die Runde richten kann. Etwa «Vroni lässt grüssen.» Vroni, die Schwiegertochter, lässt jeden Donnerstag grüssen. Oskar entledigt sich dieses Auftrags mit pointierter Gewissenhaftigkeit. Wir grüssen zurück, und Frau Vogel will wissen, ob Vroni auch unter Migräne gelitten habe in der vergangenen Woche.

Am Kopfende des Tisches sitzt Ingrid, die Powerfrau, Urologin im Ruhestand. Sie strahlt vor Optimismus, spricht schnell und laut, erzählt von ihrem Hund und den Katzen und von den letzten Wanderferien.

Merkt eigentlich niemand, dass es uns verdammt schlecht geht?

«Es gibt zwei Möglichkeiten», hatte der Lungenspezialist gesagt, «Operation oder Strahlentherapie; der Tumor sitzt dicht an der Aorta, ob er mit ihr verwachsen ist, zeigt sich erst beim Eingriff. Es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob er entfernt werden kann.»

«Was würden sie tun?», fragte ich den Arzt.

Er zögerte nicht mit der Antwort: «Ich würde die Operation riskieren, Professor Steinmann ist ein hervorragender Chirurg.»

«Ich will keine Bestrahlung», hatte Max gesagt.

Endlich hat Frau Vogel ihren Teller leergegessen, und Ingrid fischt mit der Gabel Salatreste aus der Schüssel. Max trägt die Gedecke in die Küche, ich stelle Kaffee und Konfekt auf den Tisch.

Bevor ich ansetze, atme ich tief durch: «Max muss nächsten Donnerstag ins Spital eintreten, er hat einen Lungentumor.»

Frau Vogel unterdrückt einen Schrei, hält beide Hände vor den Mund und schaut uns mit schreckgeweiteten Augen an. Oskar rührt in der Kaffeetasse, presst die Lippen zusammen und das Kinn in den Hals. Ingrid senkt betroffen den Blick.

«Keine Panik, Frau Vogel», sage ich, vorerst noch ruhig.

Und sie, immer noch hinter vorgehaltenen Händen: «Wo wird Max operiert? Doch nicht etwa im Kantonsspital!»

«Wo denn sonst?»

Mein Ton ist ungehalten, und Frau Vogel wird hysterisch: «Da würde ich nie hingehen, nie im Leben würde ich da hingehen!»

Sie sucht mit den Augen Unterstützung bei Ingrid, doch die schaut nicht auf. Und Oskar rührt noch immer schmallippig in der Tasse. Hat er überhaupt etwas mitbekommen? Ich fühle Zorn in mir aufsteigen, gleich werde ich schreien. Aber ich sage nur ungewöhnlich scharf: «Max ist im Kantonsspital angemeldet. Sie, Frau Vogel, haben vor zwanzig Jahren dort gearbeitet, die Zeiten haben sich geändert.»

Sie zieht den Kopf ein, lacht verlegen und meint: «Da muss ich halt wieder einmal umdenken.»

«Tun Sie das», sage ich kalt und fasse begütigend nach der Hand von Max.

«Ich war vor sechs Wochen beim Ohrenarzt», sagt Oskar unvermittelt in unsere Gefechtspause, «der hat mich zum Akustiker geschickt.» Oskar ist in den Startlöchern und möchte von seinen Ohren erzählen, doch Frau Vogel nimmt das nicht auf und fragt nach dem Chirurgen.

«Der Chefarzt, Professor Steinmann, wird operieren», sage ich, «er hat einen sehr guten Ruf.» Und zu Ingrid gewandt: «Das kannst du doch bestätigen, nicht wahr?»

Ingrid schaut an uns vorbei und sagt halblaut: «Ich überlege, wer an der Universitätsklinik operieren würde… vermutlich Professor Stocker.»

Wunderbar! Frau Vogel rät vom Kantonsspital ab, Ingrid empfiehlt einen andern Chirurgen, und Oskar hat es mit dem Ohrenarzt. Wie hilfreich langjährige Freunde doch sein können.

Max hat bisher wenig gesprochen. Jetzt sagt er: «Ich habe Vertrauen zu Professor Steinmann, der Hausarzt wie auch der Lungenspezialist haben ihn empfohlen.»

«Schon dreimal bin ich beim Akustiker gewesen», beklagt sich Oskar, «der lange Weg in die Stadt ist mühsam für mich.»

«Nimm ein Taxi», sage ich kühl und weiss genau, dass er es nicht tun wird, da er doch seiner Lebtag zu Fuss gegangen ist. Was hat Ingrid gegen Professor Steinmann? Ich ahne es: ihr Neffe hat vor einigen Jahren auf diesen Chefarztposten gehofft.

«Gestern sagte der Akustiker, es könne noch sechs Wochen dauern, bis das Hörgerät erhältlich sei, dabei hätte ich es schon vor vierzehn Tagen bekommen sollen.» Oskar benutzt unser Schweigen; endlich kommt er zu Wort, doch niemand hört recht hin, wie er ausführlich von seinen vergeblichen Gängen berichtet und wer was gesagt habe. «Es ist doch unglaublich, dass die Lieferfristen so lange dauern», entrüstet er sich und schaut uns gross an.

«Ja, ja, das ist halt manchmal so», sage ich.

Ingrid legt ihm die Hand auf die Schulter. Frau Vogels Tischgerät pfeift. Sie schrickt zusammen und legt den Löffel, mit dem sie nervös gespielt hat, beiseite. Dann schaut sie auf die Uhr. «Ich muss gehen», sagt sie, «die Nichte erwartet mich.»

Na endlich! Geht alle zum Teufel, wir kommen auch ohne euch zurecht, denke ich und ertrage das übliche Abschiedszeremoniell – Küsschen links, Küsschen rechts – nur mit Widerstreben. Mach’s gut, Max, wir denken an dich, es tut uns sehr leid, wir werden dich besuchen, wo parkiert man am besten beim Kantonsspital, alles Gute…

Und Oskar hält meine Hand fest, sagt in seiner betulichen Art: «Habe ich recht gehört, Max hat einen Lungentumor? Ich muss nämlich Vroni immer Bescheid sagen, wie es euch geht. Und nächsten Donnerstag gibt es kein Mittagessen?»

Warum eigentlich nicht? Ich könnte Max schnell zum Spital fahren, auf dem Heimweg einkaufen und für euch kochen. Übernächsten Donnerstag auch. Und alle folgenden Donnerstage, damit ihr euer Futter habt und alles so weitergeht, als wäre nichts geschehen. Das alles sage ich nicht, sondern nur: «Wir melden uns dann wieder.»

Max war erschöpft und legte sich hin. Ich liess das schmutzige Geschirr stehen und ging zur Nachbarin, wo ich meinem Zorn Luft machen konnte. Kaum war ich zurück, rief Ingrid an: «Es tut mir leid für euch. Es war grässlich, absolut grässlich, was alles gesagt worden ist. Kann ich etwas für euch tun?»

«Danke, im Augenblick nicht», sagte ich. Ich war müde. Anderntags ging ich zur Mutter ins Altersheim.

«Endlich kommst du», sagt sie, «ich habe so auf dich gewartet.» Das sagt sie immer. Drei Besuche wöchentlich genügen wohl nicht.

«Du wirst eine Weile länger warten müssen», sage ich, «Max hat einen Lungentumor, er wird operiert.»

«Was?» fragt sie. Auch sie hört nicht mehr gut, aber manchmal will sie mit ihrer Nachfrage nur Zeit gewinnen für die Antwort. Ich wiederhole den Satz. Meine Stimme dröhnt mir in den Ohren, Angst presst mir die Kehle zu. (Sag jetzt bitte nichts Falsches, Mutter, und bitte kein Lamento.)

Sie blickt vor sich hin: «Das tut mir leid.» Dann schaut sie auf und sagt mir ins Gesicht: «Ja, der Herr Donati ist auch daran gestorben.»

Wie tröstlich. Ich gebe keine Antwort.

Sie beginnt zu jammern: «Ich habe diese Nacht wieder so schlecht geschlafen, um vier bin ich aufgewacht, das sieht man mir heute leider an, der Rücken tat weh und der Bauch, ich musste im Zimmer umhergehen, und jetzt spüre ich es in den Beinen.»

Und als ich schon bei der Tür stehe, ruft sie mir nach: «Bring wieder eine neue Nachtcrème, der Topf ist beinahe leer, und lass Max grüssen!»

Natürlich, die Nachtcrème! Wie konnte ich das nur vergessen.

Professor Steinmann erläutert behutsam den Verlauf des Eingriffs, und obwohl auch er darauf hinweist, dass er ein Gelingen nicht zusichern könne – «man hat Sie doch aufgeklärt?» –, stärkt er unser Vertrauen.

«Sie werden morgen früh operiert», sagt er abschliessend zu Max, und zu mir: «Wir werden Sie so bald wie möglich anrufen.»

Die leere Wohnung ist bedrückend. Ich nehme ausnahmsweise ein Schlafmittel, gehe früh zu Bett und merke kaum noch, wie sich die Katze neben mir einrollt. Am Morgen hole ich «Die Zeit» am Kiosk, das schwierige Kreuzworträtsel im Magazin wird meine unruhigen Gedanken in andere Bahnen lenken.

«Wie geht es ihrem Mann?» fragt die Kioskfrau.

«Ich weiss es nicht, er ist jetzt unter dem Messer.»

Sie wiegt bekümmert den Kopf. «Ja, ja, das ist ein sehr aggressiver Krebs, mein Mann hat nach der Operation nur noch drei Wochen gelebt.»

Was könnte ich antworten? Ich bin mittlerweile unempfindlich geworden.

Um neun Uhr läutet das Telefon. Mit Herzklopfen hebe ich den Hörer ab. Jemand will mir ein Abonnement für eine Zeitschrift aufschwatzen. Beinah übermütig wimmle ich ihn ab.

Ein Topf mit blassrosa Georginen steht vor der Wohnungstür. Was soll das, wir haben doch keinen Todesfall! Ich will die Blumen in den Container werfen, dann aber stelle ich sie vor das Fenster. Es ist ja gut gemeint.

Wieder schreckt mich das Telefon auf. Falsch verbunden.

Nach einer Stunde ist es Heilwig, die fragt, ob sie vorbeikommen könne. Sie darf. Von ihr sind keine unpassenden Worte zu befürchten. Ich lade sie zum Mittagessen ein. «Die Söhne werden auch da sein», sage ich.

Es wird Mittag. Kein Anruf mehr. Allmählich ängstigt mich die tote Leitung. So lange kann doch eine Operation nicht dauern. Ich bringe kaum einen Bissen hinunter.

Um halb eins unterbricht das schrille Läuten die gedämpften Gespräche bei Tisch. Eine muntere Frauenstimme meldet sich: «Ich bin die Assistentin von Professor Steinmann. Ich darf Ihnen sagen, dass alles gut gegangen ist. Der Tumor konnte problemlos entfernt werden. Sie dürfen Ihren Mann in der Intensivstation besuchen.»

Ich verspüre Heisshunger und fülle meinen Teller bis zum Rand.

(Ende 1997)

De mortuis nil nisi bene

Ich habe eine Amaryllis-Phobie. Ich mag Amaryllen nicht. Die letzte habe ich vor wenigen Wochen bekommen und Freude geheuchelt, mich geflissentlich auf der Packung informiert, wie die Zwiebel zu behandeln sei, damit sie gedeihe (wöchentlich giessen bis sie treibt, dann öfter), und ich war entschlossen, diese Amaryllis zu lieben.

Warum habe ich nicht gleich meine Amaryllisgeschichte erzählt und das Geschenk dankend zurückgegeben? In keiner andern Runde wäre das besser möglich gewesen. Sowohl Elsbeth, wie Agathe, wie Helen hätten Spass gehabt, und eine von ihnen hätte sich der Verschmähten erbarmt.

Heute habe ich sie schliesslich entsorgt. Sie hat nicht getrieben. Das hat mich nun doch ein wenig gekränkt.

«Du hast halt nicht mit ihr geredet», sagte Roswitha.

«Doch, habe ich, aber vielleicht nicht nett genug; denn Oskar straft mich über seinen Tod hinaus.»

Gut fünfundzwanzig Jahre lang hat er mir vor Weihnachten eine Amarylliszwiebel gebracht. Ich habe noch immer im Ohr, wie er im Eingang mit dem Blumenpapier raschelt, Max hilft ihm aus dem Mantel, das Gebinde ist im Weg, muss auf die Kommode gestellt werden, dann wickelt Oskar den Topf vollends aus, faltet mit aller Akribie das Papier zusammen (man könnte es ja wieder verwenden) und trägt seine Gabe mit beiden Händen vor sich her – gemessenen Schrittes, den Oberkörper leicht vorgeneigt, wiederholt die Luft durch die Zähne ziehend –, als wäre er einer der Magier aus dem Morgenland auf dem Weg zu Maria in der Küche.

Ich habe all dem nie zugesehen, aber meine Ohren waren sensibilisiert auf diese Geräusche, während ich verbittert in den Kochtöpfen rührte und Oskar herannahen fühlte, bis er in meinem Rücken stand. Dann erst drehte ich mich überrascht um.

«Ach, du bist es, grüss dich, oh, eine Amaryllis, danke vielmals.» Ich nahm ihm den Topf ab und stellte ihn ans Fenster. Und jedesmal ging Oskar mir nach, erklärte, wie ich die Pflanze behandeln müsse.

«Wenn sie dann verblüht ist, die Blätter welk sind, kannst du die Zwiebel in den Blumentrog setzen, damit sie im nächsten Jahr wieder treibt.»

Fünfundzwanzig Jahre lang hat er versucht, mich zu erziehen, mein ehemaliger Lehrer. Es hat nichts gefruchtet, ich war störrisch wie ein kleines Kind. Meine Ausreden waren fadenscheinig: «Ich habe die Zwiebel meiner Schwägerin gegeben.» Oder: «Ich habe sie eingesetzt, aber die Katze hat sie verpisst.»

Mit den Jahren fragte Oskar nicht mehr danach, brachte nur unermüdlich eine neue Amaryllis. Er war nicht nur störrisch, er war stur. Und ich wurde zum Gespött von Freunden und Familie.

Die Söhne: «Aber Mami, warum sagst du nicht endlich, dass du keine Amaryllis magst?»

«Das kann ich nicht, nach so vielen Jahren, der Zeitpunkt ist verpasst.»

Freund Paul am Telefon: «Ist sie schon da?»

«Wer?»

«Du weißt schon.»

Er ist perfid. Auf seinem Fensterbrett blühen prächtige Amaryllen, umgeben von viel Grün. Wie macht er das nur?

Und eine Freundin lächelt schadenfroh: «Wie schön!»

Was soll daran schön sein: ein langer nackter Stengel, aus dem blutrote, überdimensionierte Blütentrichter quellen? Das hat doch etwas Provokantes, Schamloses.

Woche für Woche musste die Amaryllis beim Fenster neben dem Esstisch stehen, damit Oskar, wenn er donnerstags zum Essen kam, Wachstum und Entfaltung bewundern konnte. Frau Vogel und Ingrid bewunderten mit, sagten ah und oh, so fiel meine Zurückhaltung nicht auf. Max schwieg diskret. Ihn störte die Amaryllis nicht, er hatte sie ja im Rücken.

Einmal stellte ich die Amaryllis in das hinterste Zimmer. Oskar äugte beim nächsten Mittagessen in jeden von seinem Platz aus erreichbaren Winkel der Wohnung.

«Sie steht im hintern Zimmer», sagte ich.

«Hat sie dort auch genügend Licht?»

Der Vorwurf war nicht zu überhören. Die Woche drauf hatte die Amaryllis wieder ihren angestammten Platz.

Ein andermal entsorgte ich die Pflanze vorzeitig. Zwei Stengel waren gewachsen und drohten unter ihrer schweren Pracht einzuknicken.

«Ich habe einen Topf gefunden mit zwei Trieben», hatte Oskar gesagt und dabei die Luft lüstern durch die Zähne gezogen. Ich hätte ihn umbringen können. Er empfahl mir zwei Stützhölzer für später.

Auf fünfundzwanzig Winter mit Amaryllen folgten drei Winter mit Azaleen. Wieder das befürchtete Rascheln von Blumenpapier nach dem Mantelabnehmen. Ich fluchte leise in meine Kochtöpfe, drehte mich wie zufällig um: «Ach, du bist es, grüss dich…»

Oskar hielt mir einen zartrosa Azaleenstock hin, schaute mich bekümmert an: «Ich habe keine Amaryllis mehr gefunden.»

Das war meine Stunde, ich bedankte mich überschwenglich: «Macht nichts, Oskar, Azaleen habe ich lieber, besonders in dieser Farbe.»

Oskar ist mit dreiundneunzig Jahren im vergangenen Herbst gestorben. Einen Tag später bringt mir Elsbeth eine Amaryllis als Gastgeschenk. Ich finde das geradezu unheimlich. «Lass es gut sein, Oskar», möchte ich sagen, «bitte keine Amaryllen mehr!»

(für Elsbeth, Ende Januar 2000)

Vergesst das Lachen nicht

Es kommt der Tag, da werdet Ihr Euch fragen: Was machen wir mit unserer alten Mutter? Und Ihr werdet ein mulmiges Gefühl haben, weil Ihr mir beibringen müsst, dass ich ins Altersheim übersiedeln sollte. Ihr werdet Euch zusammensetzen und beraten, wer mit mir sprechen könnte. Wirst Du es sein, Andreas? Du kannst gut mit alten Leuten umgehen, aber Du hast ein zu weiches Herz und könntest mein allfälliges Jammern schlecht ertragen. Oder Du, Georg? Aber nein, Du bist wie Dein Vater, dem Spital- und Krankenbesuche wie auch das Schreiben von Kondolenzbriefen immer zugesetzt haben. Vielleicht kommt Ihr gar zu viert, um Euch gegenseitig zu stützen. Ich bitte Euch, macht nicht so ein Theater!

Möglicherweise, ich hoffe es, sehe ich die Notwendigkeit der Übersiedlung ein. Doch vielleicht gehöre ich dann bereits zu den «Gezeichneten», wie Max Frisch es einmal in sein Tagebuch notierte, und wehre mich mit Altersstarrsinn dagegen. Daher sage ich Euch heute im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte: Nehmt keine Rücksicht, und vor allem – habt kein schlechtes Gewissen. Ich weiss aus Erfahrung, welch unsanften Druck alte Leute in ihrem Egoismus auf ihre Nachkommen ausüben können. Gott bewahre, dass ich Euch das antun werde.

Ich denke etwa an Tante Paula; was hat es mich Nerven und Kräfte gekostet, bis ich sie im Altersheim St. Anton untergebracht hatte. Sie war wiederholt in ihrer Wohnung gestürzt – ich bin gestolpert, sagte sie dann, doch sie leidet an Kreislaufstörungen und vergisst immer wieder, ihre Medikamente zu nehmen – und hatte sich so erst ein Bein und dann den rechten Arm gebrochen. Es hat jeweils Wochen gedauert, bis sie sich wieder einigermassen selbst versorgen konnte. Kusine Frieda ist Abend für Abend zu ihr gegangen und hat Brote gestrichen.

«Ich würde lieber hingehen», sagte Frieda, «wenn man mit Paula besser reden könnte, aber sie erzählt nur von Leuten, die viel Geld, grosse Häuser und schöne Autos haben, das interessiert mich nicht.»

«Warum gehst du dann hin?», fragte ich.

«Ich mache es dir zuliebe, um dich zu entlasten.»

Ich mag es nicht, wenn man sich für mich aufopfert. Hört Ihr! Hilfe, ja, die kann ich annehmen.

Wenn ich Tante Paula im Heim besuche, sagt sie zur Begrüssung: «Ich habe so auf dich gewartet!» Sollte ich diesen Satz je zu Euch sagen, verbietet ihn mir, ich will ihn nicht gesagt haben.

Tante Paula liegt im Bett. Sie hat sich bei einem Sturz zwei Rippen gebrochen. Sie lässt sich das Essen aufs Zimmer bringen, weigert sich, im Rollstuhl in den Speisesaal geführt zu werden.

«Ich will erst zum Friseur, so kann ich mich nicht zeigen.»

Aber zum Friseur will sie nicht, solange sie noch Schmerzen hat. Also bleibt sie liegen und sagt: «Lieber ess’ ich nichts, als mit dem Rollstuhl herumgefahren zu werden.»

Tante Klara, ihre Schwester, sagte neulich am Telefon: «Päule, du bist krankhaft eitel mit deinen achtundachtzig Jahren.» Ich gebe ihr recht.

Zwar sagte die Heimleiterin: «Es ist immer noch besser, wenn alte Frauen eitel sind, als wenn sie sich gehen lassen.» Auch dem stimme ich zu; aber wenn das Äussere beinah der einzige Lebenszweck ist, ja immer schon war, werde ich ungehalten.

«Pack mir den Lippenstift ein und die Puderdose», sagte Tante Paula, als sie mit gebrochenem Oberschenkel am Boden lag. Oder: «Schwester Margrit hat gesagt, dass ich einen neuen Büstenhalter brauche, weiss, mit Spitzen und wattiert.»

«Wo ist Schwester Margrit?»

«Du findest sie nicht, sie hat heute ihren freien Tag.»

Ich treffe die Pflegerin schliesslich auf dem Flur an, sie weiss von nichts. Ich renne trotzdem einen halben Nachmittag in der Stadt herum auf der Suche nach dem gewünschten BH. Am Abend fasst Tante Paula meine Trophäe mit spitzen Fingern an – die Nägel tadellos lackiert – und sagt: «Der geht mir bestimmt nicht, er sieht auch so billig aus, bring ihn zurück.»

Solche Spielchen mag ich nicht. Ich ärgere mich. Dann verfluche ich die Söhne von Tante Paula, die im Ausland leben, gelegentlich telefonieren oder schreiben.

«Sie ist alt, wir müssen Geduld haben mit ihr», schrieb Vetter Werner. Lasst mich nie spüren, dass Ihr Geduld haben müsst, ich könnte es schlecht ertragen, wenn ich es noch wahrnähme.

Elsa etwa nimmt es schon lange nicht mehr wahr. Sie ist über neunzig und wohnt im Pflegeheim Klostertal. Ich schiebe sie im Rollstuhl durch den Park.

«Ist das ein Spital?», fragt sie.

«Etwas in der Art», sage ich, «ein Pflegeheim.»

«Kann man da wohnen?»

«Ja.»

«Auch essen?»

«Ja.»

«Wird für einen gesorgt?»

«Ja, den ganzen Tag, das Pflegepersonal ist sehr nett.»

«So möchte ich es auch mal haben», sagt Elsa abschliessend.

Ich muss lachen. Sie dreht den Kopf nach mir, schaut mich listig an und stellt zufrieden fest: «Ich bin lustig.»

Dann fängt das Spiel von vorne an: Was ist das für ein Haus… kann man da wohnen… und essen… wird für einen gesorgt… wie heisst dieser Ort?

«Du kannst es bei der Bushaltestelle lesen», sage ich.

Sie liest, schreit begeistert: «Klostertal!»

Ich staune über ihre plötzliche Präsenz, und das gefällt ihr.

«Ich bin gut», sagt sie.

«Ja, du bist heute in Form.»

«Und du?» fragt sie, «gibst du immer noch Schule, du bist doch über das Alter hinaus?»

«Ja, das bin ich», sage ich. Wieder dreht sie den Kopf, schaut mich prüfend an und tröstet: «So alt siehst du nun auch nicht aus, die Haare sind tiptop». Sie unterstreicht dies Kompliment mit einer anerkennenden Handbewegung. Dann philosophiert sie: «Es gibt Frauen, die werden immer älter, andere immer jünger.»

«So, kennst du denn welche, die immer jünger werden?»

Sie überlegt, zwinkert mir zu und sagt: «Elsa Hirt.»

Ich lache schallend. Sie ist zufrieden, mit sich, mit mir, mit ihrem guten Tag.

«Ich bin lustig, und ich bin gut», sagt sie.

Mit Elsa kann ich geduldig sein; sie stellt immer die gleichen Fragen, und ich gebe ihr immer die gleichen Antworten – früher habe ich noch variiert – , und wenn ich gegangen bin, wird sie mich vergessen haben. Sollte ein nächster Besuch sich nach mir erkundigen, weil er meinen Namen in ihrer Besucheragenda liest, so wird sie behaupten, dass ich nicht da war. Ihre Tochter war am Vortag bei ihr und hat sie durch den Park gefahren. Doch den Park hat Elsa noch nie gesehen, so sagt sie mir, die Tochter schon eine Ewigkeit nicht mehr.

Lasst mich noch von Carlotta erzählen. Sie ist wenig älter als ich, leidet an Alzheimer und lebt im Pflegeheim Hiltiberg. Das Namenkästchen neben ihrer Zimmernummer ist leer. Carlotta schiebt das Aluminiumplättchen immer wieder aus der Fassung, steckt es umgekehrt hinein oder lässt es verschwinden. Sie hat sich verloren. So steht sie auch da, mitten im Zimmer: verloren. Alles hängt an ihr, die strähnigen Haare, der Pullover, die Arme in den zu langen Ärmeln, der zipflige Rock, die Socken über den Schuhrändern. Sie sieht mich reglos an, taucht in die Tiefen ihrer Erinnerungen und lacht plötzlich: «Da schau, die Muntene.» Jetzt ist die Brücke geschlagen, und ich nehme Carlotta mit in die Cafeteria.

Wir schauen aus dem Fenster auf die Siedlung am Waldrand. «Dort wohnt mein Freund», sagt sie.

«Hast du einen Freund?», frage ich.

«Natürlich, wir fahren jeden Tag aus.»

«Wer fährt denn?»

Sie wirft den Kopf hoch, schiebt ihr herrisches Kinn vor, schaut ins Leere und behauptet: «Ich fahre.»

Dann entspannt sie sich, lehnt sich in den Sessel zurück und schaut mich überlegen an, als bezweifelte ich ihre Aussage.

«Ich mache oft den Chauffeur hier im Haus», sagt sie, «und glaub ja nicht, dass ich nicht mehr drauskomme, wir sind auch noch jemand.»

Augenzwinkernd deutet sie auf mein Feuerzeug, das auf dem Tisch liegt – «make love» steht drauf – und schmunzelt anzüglich. Ach so ist das! Wir lachen beide, laut, unbekümmert. Die Zitherspielerin am Nebentisch gerät aus dem Konzept und packt ihr Instrument ein.

«In Ordnung», sagt Carlotta, «das ewige Gedudel geht mir auf die Nerven.»

Sie sagt es laut, sie will beleidigen. Sie hat schon immer laut gesagt, was sie dachte. Unvermittelt ist ihre gute Laune dahin. Düster sitzt sie da und nestelt an ihrem Pullover.

«Er wird nicht kommen an Weihnachten», sagt sie.

«Wer wird nicht kommen?»

«Pedro.»

Ihre Mundwinkel zittern. Pedro ist ihr Ex-Mann, von dem sie seit einem Vierteljahrhundert geschieden ist. Ich habe immer gedacht, sie hätte die Scheidung längst überwunden, aber nun taucht er in ihrem gemarterten Hirn wieder auf.

«Nein», sage ich, «er wird nicht kommen, dafür die Söhne mit ihren Kindern.»

«Habe ich Kinder?» fragt sie.

Ich bringe sie auf ihr Zimmer zurück, sie würde es allein nicht finden. Über ihrem Kanapee hängt ein Bild eines gemeinsamen Malerfreundes. Ich spreche sie darauf an. Sie reagiert gleichgültig, kann sich nicht erinnern und betrachtet es, als sähe sie es zum erstenmal. Dann wirft sie das Kinn hoch und sagt trocken: «Das muss ich gelegentlich wieder übermalen.»

Ich pruste los – die Vorstellung ist absurd – , fasse mich wieder und frage: «Was willst du darübermalen?»

«Weiss nicht, es fällt mir dann schon etwas ein.»

«Komm bald wieder, dann fahre ich dich aus und lade dich zum Essen ein», sagt sie beim Abschied.

Meine Söhne und Schwiegertöchter, ich habe Euch von Elsa und Carlotta erzählt. Beiden ist die Realität entglitten, der einen im hohen Alter, der andern schon früh. Aber mit beiden kann ich lachen. Ich lache, wenn sie mir Unsinn auftischen, doch ich lache sie nicht aus. Von Euch erwarte ich, dass auch Ihr lacht, sollte ich dereinst Abwegiges reden. Es ist nicht nötig, dass Ihr taktvoll schweigt oder mitleidig auf mich eingeht. Ich würde es ja nicht mehr wahrnehmen, hoffe ich. Aber Euer herzliches Lachen werde ich wahrnehmen. Ich habe immer gern gelacht.

Ihr wisst, dass ich ein Blaues Zimmer möchte. Ein paar von meinen Möbeln würde ich gern mitnehmen: den Louis-Philippe-Sekretär, an dem ich immer geschrieben habe, die blaue Liege, den blauen Korbstuhl von der Galerie, Vaters Fernsehsessel, das Jugendstil-Vertiko und Tante Paulas Wanduhr, sie schlägt die Stunden so angenehm. Und Bilder, jede Menge Bilder. Hängt nicht so sparsam, wie Ihr es vorzieht, damit ein Bild zur Geltung kommt. Ich liebe volle Wände; neben- und übereinander, dicht an dicht sollen mich meine Erinnerungen umgeben. Wenn ich Glück habe, kann ich Euch beim Einrichten beraten. Ich habe immer gern eingerichtet.

Morgen fahre ich nach Stuttgart zu Tante Klara, Paulas Schwester. Auch sie ist schon über achtzig, lebt allein in ihrer kleinen Wohnung im vierten Stockwerk eines Hauses ohne Lift. Sie ist seit zwanzig Jahren kaum mehr ausser Haus gewesen. Ihre Beine sind schwer wie Blei. Polyneuritis. Sie hängt schief in ihrem Stuhl, der Rollen hat, jedoch keinen Motor, auch keine Handräder, die sie ohnehin nicht antreiben könnte mit ihren deformierten Händen. Ich muss ihren Hosenbund anpacken und den schweren Körper etwas hoch und nach hinten ziehen, damit sie bequemer sitzt.

«Wie machst du es, wenn niemand nach dir schaut?», frage ich.

Sie lacht: «Dann sitze ich eben den ganzen Tag schief; doch meistens kommt jemand und hilft mir.»

«Hast du Schmerzen?»

«Immer, aber ich habe mich daran gewöhnt.»

Dann und wann bin ich einen Halbtag bei Tante Klara und komme jedesmal bereichert heim. Ihr Lebensmut ist vorbildlich, ihr scharfer Geist ungebrochen, ihr bissiger Humor unverwüstlich. Eine erstaunliche Frau. Ich kann nur hoffen, dass etwas von ihrer Kraft in mir steckt.

Ist nun alles gesagt?

Das noch: ich habe ein gutes Leben. Es war nicht immer einfach, aber es ist gut. Ihr tragt wesentlich dazu bei. Dafür danke ich. Und ich liebe Euch. Aber ich habe mich von Euch abgenabelt. Ihr seid mir nichts schuldig. Auch keine sonntäglichen Pflichtbesuche.

Im vergangenen Sommer, als wir wochenlang weg waren im Haus am Meer, sagte ich zu Eurem Vater: «Ich habe keine Langezeit nach den Jungen. Ich freue mich herzlich auf sie, aber ich habe keine Langezeit, nach niemandem. Nur nach der Katze. Wie kommt dir das vor?»

«Das ist gut so», sagte er, «die Jungen haben ihr eigenes Leben, die Katze gehört in unseren Alltag.»

Euer Vater. Ich liebe ihn sehr. Nicht wie am ersten Tag, sondern wie nach fünfzig Jahren. Und je älter wir werden, desto unentbehrlicher ist uns das Lachen. Über unsere Schwächen, Missverständnisse, Fehlleistungen. Ich möchte ihn nicht allein zurücklassen. Sollte das aber eintreten: seid gut zu ihm. Er hat es verdient. Wem sage ich das! Ich kenne Euch doch.

(An die Söhne und ihre Frauen, Oktober 1996)

Inge Muntwyler wurde am 20. Juli 1929 geboren. Nach dem Abschluss der Bezirksschule Baden im Kanton Aargau besuchte sie das Lehrerinnenseminar in Aarau und arbeitete danach zwei Jahre als Lehrerin an einer Primarschule. Ab 1968 führte sie die Mittelstufe am Seminar Wettingen und unterrichtete im Rahmen der Lehrerausbildung. Nach der Umwandlung des Seminars in ein Gymnasium im Jahre 1997 betreute sie bis zur Pensionierung eine Mittelstufe in Gebensdorf.

1950 heiratete sie einen Arbeitskollegen. Ein Mädchen und zwei Buben kamen zur Welt. Als ihre Tochter, erst neunzehnjährig, durch einen Vespaunfall das Leben verlor, begann Inge Muntwyler Tagebuch zu führen und in Erinnerungen und Rückblenden den Verlust zu verarbeiten. Seit ihrer Pensionierung 1993 schreibt sie regelmässig. Erst vom Hand, neuerdings mit einem kleinen Laptop. «Ich denke mir nichts aus», sagt sie, «ich kann nur schreiben, was ich erlebe.» Über ihre Leidenschaft für ausgefallene Schuhe, über wahre und eingebildete Krankheiten, freiwillige und weniger freiwillige Abendeinladungen, leere Mägen und Hammerzehen, die Gebete ihrer langjährigen Putzfrau, mehrere Generationen von Katzen, über ihren Mann, der 2001 gestorben ist, ihre Kinder, ihre beiden Enkel, über ihre Freunde und eine Reihe von Tanten.

Bald wird sie 80, und mit ihr sind ihre Verwandten und Bekannten gealtert. Viele sind nahezu gehörlos, andere ohne Gedächtnis, dritte in Selbstbezogenheit verstrickt. Von den letzten Jahren mit Oskar, Frau Vogel, den Tanten Paula, Elsa, Klara und anderen erzählen die drei hier vorgestellten Geschichten.

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