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Der Beitrag von Friedrich Dürrenmatt in den «Schweizer Monatsheften» vom Mai 1977.

Ineinander statt nebeneinander

1977 unterzog Friedrich Dürrenmatt den Toleranzbegriff in unserer Zeitschrift einer kritischen Prüfung. Seine Gedanken sind heute noch erstaunlich aktuell.

Gelebte Toleranz scheitert an der Ausschliesslichkeitstendenz unseres Denkens. So liesse sich Friedrich Dürrenmatts im März 1977 in der Frankfurter Paulskirche gehaltene und kurz darauf in den «Schweizer Monatsheften» veröffentlichte Rede auf den Punkt bringen – eine «leider schwierige Rede», wie er bereits im Untertitel eingestand.

Die ansonsten allseits gerne geforderte Toleranz stand, als Dürrenmatt seine Rede hielt, seit Längerem auf dem Prüfstand und schien insbesondere im politischen Bereich mehr und mehr zu versagen, «auch in den Demokratien», wie der mit der Buber-Rosenzweig-Medaille Geehrte betont. Für Dürrenmatt hatte der Toleranzdiskurs klare politische Relevanz und war keineswegs eine allgemeine Floskel. Daher bezog er sich konkret auf Begebenheiten der damaligen Zeit.

«Für Dürrenmatt hatte der Toleranzdiskurs klare politische Relevanz und war keineswegs eine allgemeine Floskel.»

Das politische Klima war seit den Studentenrevolten der späten 1960er-Jahre, gelinde gesagt, angespannt, auch und gerade in der Bundesrepublik Deutschland. 1972 verabschiedete die sozialliberale Koalitionsregierung unter Willy Brandt den Radikalenerlass, der sich auf potentielle Radikale im öffentlichen Dienst bezog, auf angebliche Sympathisanten von Terroristenorganisationen wie der RAF; der «Polizeistaat» stellte seinen Bürgern nach, heimliche Nachforschungen sollten politisches Verhalten Einzelner und von Gruppen offenlegen, ein «Spitzelunwesen» machte sich breit, «Gesinnungsschnüffelei» war an der Tagesordnung, «wirtschaftliche Machenschaften» bestimmten das gesellschaftliche Miteinander. Was hierbei zum Problem wurde: Die ursprünglich zwecks Sicherheit implementierte Regulierungsmechanismen verselbständigten sich und führten vielfach zu konformistischem Verhalten. Zahlreiche Schriftsteller thematisierten dabei auch mediengesteuerte Verunglimpfungen; man denke etwa an Heinrich Bölls «Die verlorene Ehre der Katharina Blum». Die Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille nahm Dürrenmatt nun zum Anlass, dieses Problem weiter zu konkretisieren, indem er sich mit der Gründungsakte des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der ihm die Auszeichnung verlieh, kritisch auseinandersetzte.

Alle Aufforderungen zur Aufgeschlossenheit und zur «gegenseitige(n) Achtung aller Unterschiedlichkeiten», wie sie in der Satzung des Gremiums genannt werden, alle Appelle zur Offenheit «für Menschen auch anderer Weltanschauungen» – sie bleiben laut Dürrenmatt blosse moralisch-wohlklingende Lippenbekenntnisse, wenn man das eigene, als gesichert verstandene Wertesystem und die damit verbundene Perspektive auf die Welt für (gott)gegeben hält, sodass man keine Notwendigkeit mehr darin sieht, das einem selbst als «selbstverständlich wahr» geltende Weltbild ab und an kritisch zu überprüfen. Auf diese Weise entstehen in sich (ab)geschlossene Systeme, die «mit dem Anspruch belastet» sind, «wahr zu sein», sodass auch die Idee, von der sie ausgehen, «zur wahren Idee werden (muss), zur Ideologie», so Dürrenmatt. Was einem solchen System widerspricht, ist «notwendigerweise für dieses System falsch». Doch gerade an dieser «Kollision» zwischen jenen, die sich im Recht glauben, und den sogenannten Andersdenkenden zeigt sich letzten Endes, wie tolerant – mit anderen Worten: wie demokratisch – ein Gesellschaftssystem tatsächlich ist.

Andere zu tolerieren heisst im Wortsinn, sie als Abweichler von bestehenden Normen zu dulden, ohne sich selbst mit diesen «Abweichungen», welcher Art sie auch sein mögen, näher aus­einandersetzen zu müssen. Tolerieren bedeutet zunächst weder, «den anderen» oder sein Denken in das eigene «System» inte­grieren (assimilieren) zu wollen, noch verlangt Toleranz zwangsläufig eine Begegnung auf Augenhöhe beider Seiten: jenen, die aktiv Toleranz praktizieren, und jenen, die passiv toleriert werden. Diese einfache Form von Toleranz stellt zwar eine Grundvoraussetzung für ein halbwegs friedliches Nebeneinander dar, sie fördert jedoch kein produktives Miteinander. Verschiedene Denkrichtungen – politische Ansichten, religiöse Glaubenssätze, sozialstrukturelle Richtlinien etc. – können aber nur so lange gleichzeitig bestehen, solange die (tolerierten) Divergierenden nicht aufmüpfig werden und an den Grundfesten des «gesicherten Ideensystems» (der Tolerierenden) rütteln.

Ein solches Toleranzverständnis führt in Dürrenmatts Augen nicht zu echter Offenheit. Um die Freiheit des Einzelnen zu gewährleisten, genügt kein hierarchisch reguliertes Nebeneinander (das sich doch stets als ein «Wir» gegen «die anderen» gibt). Es brauche, so argumentiert Dürrenmatt weiter, ein wechselseitiges Ineinander, ganz im Sinne der Ringparabel in G. E. Lessings «Nathan der Weise». Der von Lessing gemachte «Vorschlag zu einer religiösen Koexistenz» heisst, in unsere Zeit übersetzt: Die Gleichzeitigkeit des Verschiedenartigen bedeutet vor allem, dass keine der drei Religionen (oder gedanklichen Ausrichtungen) mehr behaupten kann, sie sei die einzig wahre. Damit erhalten sie ein gleichwertiges Existenzrecht, das «die Gegensätze des Glaubens» nicht aufhebt, sie aber, wie Dürrenmatt betont, als solche nicht mehr in Frage stellt.

«Die Toleranz ist ein Vorschlag zu einer religiösen Koexistenz. Wie die

politische Koexistenz die ideologischen Gegensätze hebt jene

die Gegensätze des Glaubens nicht auf, sie stellt sie nur nicht mehr in Frage.»

Beständige Selbstprüfung

Dürrenmatt scheint sich einer Sache gewiss zu sein: Der gesamteuropäisch erhoffte Neubeginn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit Aussicht auf eine in jeder Hinsicht bessere, das heisst tolerantere – in unserem heutigen Sprachgebrauch wohl: inklusivere – Welt hat sich nicht verwirklicht. Zwar habe man die Demokratie wieder eingeführt, unverändert geblieben seien aber die polarisierenden Denkmuster, die, etwa in Not­standssituationen ins Extrem getrieben, eine insgesamt verheerende Illusion begünstigten: Man selbst sei stets im Recht oder auf der «moralisch guten Seite» der Weltgeschichte. Weder bei «den Besiegten» habe es einen solchen Neubeginn gegeben noch «bei den Siegern, die in ihrem Sieg den Beweis erblickten, ihre politischen Systeme seien die einzig wahren, sodass plötzlich Wahrheit gegen Wahrheit, System gegen System stand; und auch die Neutralen in der Meinung, die Prüfung bestanden zu haben, unterliessen es, sich selber zu prüfen». Die Losung lautet daher: beständige Selbstprüfung. Hierfür muss man jedoch von einem potenzierten Toleranzbegriff ausgehen: Den sogenannten Andersdenkenden zu tolerieren bedeutet nun, ihm auf Augenhöhe zu begegnen und sich in einen der eigenen Weltsicht womöglich widerstrebenden Standpunkt hineinversetzen zu können, um so im fortwährenden Austausch (auch) das eigene Wertesystem, nicht nur das des anderen, auf seine «Richtigkeit» oder Triftigkeit hin zu prüfen.

Was kann man also tun? «Welche Schlüsse haben wir als Einzelne politisch zu ziehen?», fragt Dürrenmatt. Seine Antwort ist klar. Es braucht ein neues Zeitalter der Aufklärung. Eine liberale Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie «den Anspruch auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit und Freiheit» in ihren politischen Systemen aufgibt «und ihn durch das Suchen nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit und nach Freiheit» ersetzt. Das heisst, dem Anspruch auf Absolutheit abschwören und stattdessen auf kritische Überprüfbarkeit setzen; jede neu erlangte Erkenntnis muss verifizierbar oder falsifizierbar sein, will man nicht in dogmatischen Strukturen erstarren. Nicht umsonst nennt Dürrenmatt unter den Denkern seiner Gegenwart Karl Popper als intellektuellen Gewährsmann. Wir sollten, so Dürrenmatt, den Staat, seine Institutionen und überhaupt «unsere Politik unter eine Vernunft» stellen, «die es wagt, die Fehler auszumerzen, die sie beging, die Fehler, die zu weltanschaulichem Fanatismus, religiöser Intoleranz, Rassendiskriminierung, sozialer Unterdrückung und politischer Unduldsamkeit führten». Was uns weiterbringt, ist die unablässige «Verbesserungsfähigkeit».

«Wer Furcht sät, erntet Waffen»

Nicht Ausschliesslichkeit, sondern Einschliesslichkeit lautet Dürrenmatts Antwort auf erstarrte Denkstrukturen. Damit ist aber nicht nur das (selbstverständliche) Miteinbeziehen von Minderheiten gemeint. Der Autor verweist hier vielmehr auf eine liberale Fähigkeit, die wir gerade heute mehr denn je nötig hätten: auch solchen Ansichten, die der eigenen Einstellung widerstreben, einen Resonanzraum zuzugestehen, ohne sie von vornherein bereits als nicht weiter beachtenswert zu stigmatisieren. Das ist ja auch die programmatische Vorgabe demokratischer Prozesse: alle vorurteilslos miteinzubeziehen, allen eine Stimme zu geben und aus diesem Zusammenwirken des Verschiedenartigen eine gemeinsame Vorgehensweise zu erarbeiten, die jedoch ihrerseits stets kritisierbar, überprüfbar, veränderbar bleiben muss. Dass die Mehrheit in einem Rechtsstaat das Sagen hat, ist nur ein sekundärer Aspekt demokratischer Selbstbestimmung.

Kaltërina Latifi, zvg.

Noch wesentlicher ist die Frage, wie diese «Mehrheit» zustande kommt. Nehmen wir uns daher Dürrenmatts mahnende Worte zu Herzen: «Wer Furcht sät, erntet Waffen», und das für den Einzelnen und die Gemeinschaft Verhängnisvolle und Perfide an der Furcht sei, «dass sie eine Wirklichkeit» erzeuge, «die jene nachträglich» legitimiere und keine Toleranz kenne.


Den Originalbeitrag «Über Toleranz» von Friedrich Dürrenmatt können Sie hier lesen.

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