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(4) Indien und China – setzt Europa die richtigen Prioritäten?

Europas Asienbild ist immer noch von Vorurteilen, Wunschvorstellungen und Modetrends geprägt. Indien ist als Rechtsstaat mit freiheitlicher Information und Kommunikation offener und berechenbarer als China. Beide Giganten bieten nicht nur attraktive Märkte und Produktionsstandorte, sondern sind vermehrt als die Führungsmächte des 21. Jahrhunderts wahrzunehmen, mit denen sich ein intensiverer Austausch für Europa in jeder Beziehung lohnen dürfte.

Es gibt heute immer weniger Zweifel daran, dass die Welt mit dem Beginn des dritten Millenniums auch in ein neues Zeitalter, nämlich in das asiatische Jahrhundert, eingetreten ist. China und, mit etwas Verspätung, Indien haben sich aufgemacht, auf der Weltbühne und in der Weltwirtschaft wieder jene Rolle zu spielen, die sie bis zum 18. Jahrhundert, vor dem Abstieg in eine beinahe zweihundertjährige Dekadenz, wahrgenommen hatten. Für Europa bietet diese Entwicklung neue Chancen und neue Risiken.

Im Bezug auf Kultur, Geschichte und Politik sind China und Indien höchst verschieden. Dieser Tatsache ist bei einer realistischen Beurteilung der Entwicklungsperspektiven der beiden asiatischen Giganten Rechnung zu tragen. Was die technologischen Mittel betrifft, war die Welt noch nie so umfassend und so durchdringend vernetzt wie heute. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Regel die Kenntnis fremder Kulturen und fremder Länder nach wie vor sehr rudimentär ist. Noch immer bestimmen Modetrends die Meinungsbildung. Kaum ein Unternehmen kann es sich leisten, in seinen Geschäftsberichten nicht auf China einzugehen, mit China im Geschäft zu sein oder gar in China zu produzieren. Stets steht vor den glänzenden Augen der auswärtigen Beobachter die magische Zahl von 1,3 Milliarden. Welch ein Riesenprofit, so denkt man sich, wenn diese 1,3 Milliarden Chinesen – oder auch nur ein Bruchteil davon – mein Produkt kaufen!

Lange Zeit vermochte Indien bei diesem Spiel nicht mitzuhalten. Im Gegensatz zu China kann es sich nicht hinter einer geheimnisvollen Sprache verbergen. Im Gegensatz zum Reich der Mitte waren es im Falle Indiens auch häufig Spiritualisten wie die Hippies, die im Westen das Image prägten. Mit der IT-Revolution hat sich jedoch auch Indiens Ansehen in der Welt etabliert, und plötzlich nehmen viele Investoren und Unternehmensleitungen, die zuvor ausschliesslich auf China fokussiert waren, Indien als Produktionsstandort und Anlagedestination ernst.

In der sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts abzeichnenden Weltordnung sind für Europa die Beziehungen zu den beiden aufstrebenden asiatischen Mächten von grosser geopolitischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Es ist offenkundig, dass die islamische Welt, insbesondere auch der Mittlere Osten, grosse Schwierigkeiten mit der Modernisierung und Globalisierung hat. Die nichtislamischen asiatischen Gesellschaften sind von ihrer kulturellen und religiösen Entwicklung her erheblich besser in der Lage, sich der neuen zivilisatorischen Errungenschaften zu bedienen. Sehr stark ausgeprägt ist dies im chinesischen Pragmatismus. Hier gibt es keine Träume von einem Paradies nach dem Tode, für das es sich lohnen würde, das eigene Leben einzusetzen. Wie die Menschen in den säkularisierten westlichen Industriegesellschaften wollen es die Chinesen in diesem Leben zu etwas bringen. Eine ähnliche Fähigkeit zur Anpassung prägt die urbanisierten Hindus in Indien. Sowohl Indien als auch China streben eine stabile Weltordnung an, da beide Länder ein grosses Interesse an einer funktionierenden Weltwirtschaft, an einer effizienten internationalen Finanzordnung und an der reibungslosen Versorgung mit Energieträgern und Rohstoffen haben.

In seinem eigenen Interesse sollte Europa diesen fundamentalen Wandel in beiden asiatischen Grossmächten würdigen und für intensivere Kooperation auch in sicherheitspolitischen Belangen nutzen. Viele Europäer pflegen mit Herablassung auf den amerikanischen Präsidenten zu schauen. Tatsache ist, dass sowohl im Falle Chinas als auch im Falle Indiens die USA in den letzten Jahren viel geschickter agiert haben als die Europäer. Vor allem unter dem Einfluss der Briten und der Franzosen sowie der kleineren EU-Mitglieder begeht Europa noch immer den Fehler, Indien und Pakistan als gleichwertig zu behandeln, obschon die Indische Union die eindeutig dominante Macht in Südasien ist und dort auch besondere sicherheitspolitische Aufgaben wahrzunehmen hat. Schliesslich haben auch die Europäer ein vitales Interesse daran, dass die internationalen Seewege im Indischen Ozean offengehalten werden. Dies zu gewährleisten, ist neben den Amerikanern allein die indische Flotte in der Lage. Im Falle Chinas wiederum muss sich Europa ernsthaft überlegen, ob es sinnvoll sei, das Waffenembargo, das nach der blutigen Unterdrückung der chinesischen Demokratiebewegung im Frühsommer 1989 erlassen worden war, weiterhin aufrechtzuerhalten. China wird dadurch auf die Stufe von rogue states gesetzt und mit einem Gesichtsverlust bestraft, den es nach all den Erniedrigungen, die dem Reich der Mitte von den Engländern, Franzosen und Deutschen seit dem 19. Jahrhundert zugefügt worden sind, am allerwenigsten von den Europäern hinzunehmen gewillt ist.

Europas wirtschaftliche Kooperation mit den beiden asiatischen Giganten muss den politischen Realitäten Rechnung tragen. Chinas Führung hat, wenn man die vor rund einem Vierteljahrhundert lancierten Wirtschaftsreformen betrachtet, nur Bestnoten verdient, um so mehr als sie, wie die jüngsten Reformbestrebungen im Finanzbereich deutlich zeigen, nicht auf den Lorbeeren des einmal Erreichten ausruht. Auch im Bereich der urbanen sozialen Modernisierung ist Chinas Leistungsausweis bemerkenswert.

Ganz anders sieht es jedoch an der politischen Front aus. Der wirtschaftlichen und sozialen Dynamik steht politische Stagnation gegenüber. Noch immer werden in China politisch und religiös unliebsame Personen verfolgt, noch immer übt die Zensurbehörde eine strikte Überwachung über das aus, was die Chinesen lesen, sehen und hören dürfen. Gerade auch die Zensur des Internets hat dieses Erbe des Totalitarismus einmal mehr in Erinnerung gerufen.

Indien verfügt über eine Tagespresse, die in ihrer Vielfalt und Kritiklust auch der amerikanischen oder britischen in nichts nachsteht, derweil in China noch immer in allen sensiblen Bereichen ein geschmackloser Einheitsbrei aufgetischt wird. Ohne Zweifel schadet sich China mit der Zensur selbst am meisten. In einem Zeitalter, da Wissen Macht ist und immer mehr über den ökonomischen Erfolg entscheidet, ist jede zensurierte Information ein Nachteil. Noch problematischer ist allerdings, dass es in China keine Ventile gibt, über die sozialer und politischer Druck in einigermassen geordneter Form abgelassen werden könnte. Die Regierung selbst hat erkannt, dass die soziale Unrast im Lande, die durch weitverbreitete Korruption und ein rasch wachsendes Reichtumsgefälle noch zusätzlich angeheizt wird, das System bedroht.

Im Gegensatz zu China hat Indien nicht nur eine erprobte Demokratie, es hat auch einen funktionierenden Rechtsstaat. Beides ist nicht nur für die Menschen im Lande, sondern auch für die ausländischen Unternehmer und Investoren von Bedeutung. Nachdem einmal die Zügel des Sozialismus abgeworfen worden waren und sich die unternehmerische Initiative in immer mehr Bereichen entfalten konnte, ist die künftige Entwicklung in Indien viel berechenbarer geworden als in China, wo die beiden Quantensprünge zur Demokratie und zum Rechtsstaat erst noch vollzogen werden müssen. Es wäre verfehlt, wenn die Europäer diese unterschiedlichen Voraussetzungen zum Anlass nähmen, nun den Chinesen eine Standpauke zu halten und sie vor aller Weltöffentlichkeit zur Demokratie und zum Schutz der Menschenrechte zu ermahnen. Solche Schritte können nie die erwünschte Wirkung zeitigen, da sie auf der chinesischen Seite einen enormen Gesichtsverlust mit sich bringen. Vielmehr geht es darum, in einem intensiven Fachdialog mit den Angehörigen der chinesischen Eliten, von der Partei über die Universitäten bis zu den Think Tanks, einen Erfahrungsaustausch zu betreiben. Die Chinesen sind lernfähig und lernbegierig und es ist dies einer der wichtigsten Garanten dafür, dass unter allen Szenarien, die es für die Zukunft Chinas in Erwägung zu ziehen gilt, die Möglichkeit eines friedlichen politischen Übergangs nicht von vornherein ausgeschlossen werden darf. Die USA haben aus den verschiedensten Gründen in den letzten Jahren für Studierende und Führungskräfte aus China und Indien viel von ihrer früheren Attraktivität verloren. Es könnte sich als gute Anlage erweisen, wenn Europa vermehrt in analoge Beziehungen investieren würde, wobei im Falle Indiens vor allem die Naturwissenschaften und das Management profitieren würden, derweil im Falle Chinas die Gesellschaftswissenschaften ein besonders wichtiges Element wären.

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