Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

In müder Erwartung

Sie sitzen in Reih und Glied und warten. Zwei Offiziere haben ihr Käppi abgenommen, einer gähnt herzhaft, um sich auf­zumuntern. Einige wenden den Kopf erwartungsvoll nach rechts, andere blinzeln in die Sonne oder starren grimmig vor sich hin. Manchen sind die Augen zugefallen; sie dösen halbwach vor sich hin oder sind bereits eingenickt, darunter auch […]

Sie sitzen in Reih und Glied und warten. Zwei Offiziere haben ihr Käppi abgenommen, einer gähnt herzhaft, um sich auf­zumuntern. Einige wenden den Kopf erwartungsvoll nach rechts, andere blinzeln in die Sonne oder starren grimmig vor sich hin. Manchen sind die Augen zugefallen; sie dösen halbwach vor sich hin oder sind bereits eingenickt, darunter auch eine Offizierin in der oberen Reihe. Eine grosse Müdigkeit hat viele ergriffen, nach all den Aufmärschen, den Paraden im exakten Stechschritt, den Lobgesängen und Schlachtrufen. Nun sitzen sie im Stadion für einen weiteren Festakt zu Ehren des Staatsgründers.

Nordkorea gilt gemeinhin als Gesellschaft des Hungers und der formierten Despotie. Die meisten Bilder, die in den Westen gelangen, zeigen entweder den Tyrannen in enger Begleitung der Generalität, martialische Massenspektakel oder monströse Statuen, die huldvoll die Untertanen grüssen. Individuelle Gesichter sind ­selten. Bei den Grossveranstaltungen wirken Gefühle von Trauer oder Freude oft wie inszenierte Gesten; noch das Winken, Singen und Tanzen spricht von der Disziplin einer militarisierten Gesellschaft. Auf einen Soldaten kommen in Nordkorea ­lediglich zwanzig Zivilisten. Ob die Veteranen der Kriege, die Kadettinnen im Matrosenlook oder die Gardisten der Elite­regimenter, ob Schulkinder, blumenschwenkende Studenten oder kampfentschlossene Werktätige, stets wird die Gesellschaft zu Kolonnen geformt und zu Massenkörpern verdichtet. Der Traum von sozialer Gleichheit gewinnt in den Jubel- oder Trauerfeiern regelmässig physische Gestalt.

Umso aufschlussreicher ist ein Photo, das individuelle Gesichter inmitten der Masse zeigt. Jahrelangen Drill und fortwährende Indoktrination haben die Offiziere hinter sich. Sie sind die zentrale Säule der kommunistischen Macht. Nach Alter und Rang sitzen sie auf der Tribüne, unten die jüngeren Leutnants und Hauptleute, darüber die Majore und betagten Obristen mit ­Krawatte und Schirmmütze. Alle Abzeichen und Orden haben sie zur Feier des Tages angelegt. Die Uniformen sitzen perfekt, die Gesichter sind frisch rasiert, keiner trägt ein Bärtchen. Doch stehen sie nicht stramm, marschieren und exerzieren nicht, sondern sitzen nebeneinander, wie die Besucher eines Theaters oder Sportwettkampfs. Still warten sie, müde, erwartungsfroh, ­ungeduldig manche oder dankbar für die Pause. Ein Schauspiel ist angekündigt, aber noch ist nichts geschehen. Vielleicht werden sie auf Kommando aufspringen. Und klatschen werden sie nur, wenn alle klatschen. Doch trotz Uniform ist die Uniformität nur schwach ausgeprägt. Sie befinden sich in einer Situation ­passiver Gleichheit. Als Zuschauer müssen sie sich alle dasselbe Spektakel gefallen lassen. Für das Warten jedoch gibt es kein ­Reglement. Jeder ist sich seiner separaten Existenz bewusst. Jeder sitzt auf seinem Platz, und er weiss, wer neben ihm sitzt.

Was aus der Ferne wie ein uniformer Massenblock erscheint, erweist sich aus der Nahsicht als Ansammlung individueller Vielfalt. Manche machen gute Miene zum öden Vorspiel, andere können ­ihren ernsten Ärger nur schlecht verbergen. Zwei haben den Kopf aufgestützt, einer unterdrückt mühsam das Gähnen, ein paar ­Soldaten haben den Photographen bemerkt und notdürftig ein freundliches Gesicht aufgesetzt. Wer eingenickt ist, hat sich ganz aus der Situation verabschiedet. Sein Körper ist da, sein Geist nicht.

Totalitäre Machtsysteme sind darauf aus, die Menschen als ganze abzurichten, ihren Geist, ihren Körper, ihr Gemüt vollständig zu durchdringen. Jede mimische Gebärde, jeden Ausdruck suchen sie in eine kollektive Geste umzuformen. Offizielle Massen­veranstaltungen sind nicht nur dazu da, aller Welt die Macht der Nation vorzuführen. Sie sollen auch den Untertanen demonstrieren, wie weit das gigantische Projekt des neuen Menschen bereits ­gediehen ist. Das Photo der Offiziere zeigt, dass es damit nicht weit her ist. Sind die Jubellieder verklungen, zeigen die Menschen, dass sie wie alle ihre Artgenossen sind. Im Warten auf das grosse Ereignis löst sich die Masse von selbst auf.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!