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In Marokko kämpft die Jugend nicht für Sozialismus – sie will nur, dass der verdammte Staat endlich funktioniert

In vielen Ländern Afrikas und Asiens geht die Generation Z auf die Strasse. Die «Revolutionäre» entsprechen allerdings nicht den Vorstellungen linker Intellektueller.

In Marokko kämpft die Jugend nicht für Sozialismus – sie will nur, dass der verdammte Staat endlich funktioniert
Proteste gegen überhöhte Ausgaben für die Fussball-Weltmeisterschaft 2030 und für Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen. Bild: Keystone-SDA

Seit Wochen gehen junge Menschen in Marokko auf die Strasse. Und nicht nur dort: Von Kenia bis Bangladesch, von Nigeria bis Sri Lanka protestiert die Generation Z – geboren zwischen 1995 und 2010 – gegen ihre Regierungen. Doch die Proteste unterscheiden sich fundamental von allem, was wir bisher kannten.

Die Revolutionäre der Gen Z in den genannten Ländern wollen keine Revolution. Sie wollen nur, dass der verdammte Staat endlich funktioniert. Es ist dies die unbequeme Wahrheit, die linke Intellektuelle partout nicht hören wollen: Während sie von einem Systemwandel träumen und Marx zitieren, skandieren junge Marokkaner auf der Strasse nicht «Nieder mit dem Kapitalismus!», sondern: «Wir wollen arbeiten können.» Sie fordern keine Umverteilung, sondern ein Ende der Korruption. Sie wollen keine sozialistische Revolution, sondern eine transparente Marktwirtschaft.

Zwei Welten der Gen Z

Dabei ist die Gen Z in Ländern wie Marokko selbst tief gespalten. Da ist einerseits die urbane Mittelschicht: Sie chattet auf Discord (einer digitalen Plattform, die junge Menschen vernetzt), spricht drei Sprachen fliessend, programmiert nebenbei und postet auf TikTok. Sie hat Zugang zu allem: Information, Bildung, globale Netzwerke.

Und dann gibt es die andere Gen Z: Ihre Vertreter sind auf dem Land aufgewachsen, ohne Smartphone, und verrichten körperliche Arbeit, seit sie denken können. Sie waren es, die in den ruralen, nicht Instagram-tauglichen Teilen Marokkos auf die Strasse gingen, verhaftet wurden und Gewalt erlebten.

Hier wird es interessant. Bei aller Verschiedenheit eint diese beiden Gruppen etwas Verblüffendes: Sie wollen keine ideologische Revolution, keine Umverteilung, keinen Sozialismus und keine Theokratie. Was Sie wollen, ist lediglich ein Staat, der funktioniert.

«Der Staat ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug. Und wenn das Werkzeug nicht funktioniert, ist es egal, welche Ideologie draufsteht.»

Politische Akteure sind unerwünscht

Als Nabila Mounib, Parlamentsabgeordnete und Generalsekretärin der Sozialistischen Partei Marokkos, versuchte, sich den Demonstranten anzuschliessen, wurde sie zurückgewiesen. Die Bewegung GenZ212 distanzierte sich über ihre offizielle Facebook-Seite öffentlich von der Sozialistin. Dies markiert einen zentralen Wandel. Die Gen Z ist unideologisch. Während beim Arabischen Frühling politische Parteien von Linken bis Islamisten zentrale Akteure der Bewegung waren, sind sie bei den gegenwärtigen Protesten explizit unerwünscht.

Was wir hier beobachten, ist nicht weniger als das Ende der postmodernen Skepsis. Während der französische Philosoph Jean-François Lyotard vom Ende der grossen Erzählungen sprach, erleben wir jetzt deren Wiederkehr – nur anders als erwartet. Die neue grosse Erzählung ist die Sehnsucht nach Verlässlichkeit, nach dem, was Hegel den «sittlichen Staat» nannte: nicht als ideologisches Projekt, sondern als funktionierende Infrastruktur des Zusammenlebens. Die Gen Z hat verstanden, was Philosophen jahrhundertelang diskutierten. Der Staat ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug. Und wenn das Werkzeug nicht funktioniert, ist es egal, welche Ideologie draufsteht.

Als jemand, der aus Marokko kommt und heute in der Schweiz lebt, beobachte ich fasziniert, wie unterschiedlich dieselbe Generation in beiden Ländern agiert. In Marokko kämpft die Jugend um Grundsätzliches. In der Schweiz diskutiert sie über Gendersternchen und Sinnfragen. Ich lese Schlagzeilen wie «Gen-Z-Vertreter kündigen schon im ersten Jahr» oder «Generation Z: Zu faul, um wahr zu sein». Das ist kein Vorwurf, sondern ein Symptom des Wohlstands. Ideologie wird zum Zeitvertreib. Man muss satt sein, um über das Gendern zu streiten. Vielleicht zeigt sich darin die grösste Ironie dieser globalen Generation: Während im Süden der Staat zu funktionieren lernen muss, beginnt er im Norden an seiner eigenen Selbstzufriedenheit zu ersticken.

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