In eigener Sache
Zum Abschied von Michael Wiederstein und Thomas Sprecher
Michael Wiederstein: ein ästhetischer Kapitalist (oder umgekehrt)
Irgendwann im Spätfrühling des Jahres 2010, dem Jahr der Gründung der SMH Verlag AG, meldete sich bei mir ein Herr Wiederstein aus Gummersbach am Telefon. Der junge Mann hatte eine einprägsame Stimme, er war beharrlich, fast schon besessen, und er liess nicht mehr los. Michael Wiederstein war mein erster Stalker – und er ist mein liebster Stalker, bis heute.
Sein Anliegen, das er im Brustton der Überzeugung vorbrachte: Er wolle ein Praktikum bei der altehrwürdigen Zeitschrift absolvieren. Während seines Germanistikstudiums war er in den Untiefen der Universitätsbibliothek in Siegen auf die «Schweizer Monatshefte» gestossen, und es entstand da wohl so etwas wie eine intellektuelle Erotik.
Dazu muss man wissen, dass Michael schon damals eine Art Heimwehschweizer war, und zwar einer der besonderen Art, weil er nicht etwa in der Deutschschweiz das bessere Deutschland erkannte, sondern – Achtung, Skandal! – in der Südschweiz das bessere Italien. Das Tessin war seine Terra promessa, auf dem Zeltplatz, auf dem Monte Verità oder auf irgendwelchen Tessiner Bergspitzen, die bis heute ausser ihm kein Nichttessiner kennt.
Michael doppelte mit einem Bewerbungsschreiben nach, darin ging es – so sagt es wiederum mein unzuverlässiges Gedächtnis – um Ascona, den Monte Verità, Max Frisch und natürlich den Liberalismus. Ja, Michael war das seltsame Produkt einer linkshegemonialen Erziehung an der Universität Siegen, gegen die er zugleich aufbegehrte: ein literaturbegeisterter Libertärer mit dem nötigen Beharrungs- und Starrsinn.
Dies hat er auch seinem Vater zu verdanken, einem Ingenieur und Unternehmer aus Gummersbach. Dieser Vater hat ihm zum 21. Geburtstag ein Exemplar von Ayan Rands «Atlas Shrugged» geschenkt – libertärer geht’s nicht. Es ist ein Roman über das äusserste Mittel, zu dem die Unternehmer in einer kollektivierten Gesellschaft greifen: Sie versagen ihren Dienst – und das ganze gesellschaftliche Leben kommt zum Stillstand.
Die These gefiel Michael, aber diese Art von Gesinnungsliteratur war ihm zugleich ein Graus – und er verteidigte in einem seiner Textbeiträge für den «Monat» einmal gute Literatur gegen libertäre Vereinnahmung. Hier zeigt sich, worin eine Spezialdisziplin des Michael Wiederstein besteht: die Gegenposition einzunehmen. Er war ein einsamer und mutiger Verfechter der freien Marktwirtschaft unter Kulturleuten. Unter selbstgerechten Libertären blieb er hingegen ein einsamer Mahner, der auf einwandfreie Ästhetik und geistige Weite pochte. Und so wandelte er sich vom Libertären zum Liberalen.
Michael liebte den Start-up-Groove des frühen «Monats» und war ein hilfsbereiter Chrampfer von Kapitalismus’ Gnaden. Eine Episode ist mir in besonderer Erinnerung geblieben. Wir arbeiteten in der heissen Phase die Wochenenden durch, und einmal, als ich etwas überarbeitet aussah, fragten mich Michael und Florian Rittmeyer: Chef, wie können wir helfen? – Ich: Nun ja, ich muss zu Hause den grossen Garten bestellen, das kostet mich mindestens einen halben Tag, den ich nicht habe, darum fehlt es mir an Schlaf. – Sie: Kein Problem, wir helfen dir, und du investierst die gewonnenen Stunden ins Magazin. Am nächsten Morgen standen sie um sechs Uhr in der Früh vor meiner Haustür in Langnau – und unter Verschleiss zweier Umstechgabeln verrichteten wir schwitzend und lachend die harte körperliche Arbeit.
Anpacken konnte er gut – und er war jederzeit zu Abenteuern aufgelegt. 2011 half er den «Literarischen Monat» mitgründen und lebte fortan seine literarische Leidenschaft aus, die eine eigene Kraft entfaltete und ihm schliesslich die Ehre einbrachte, als eloquentes Jurymitglied des Ingeborg-Bachmann-Preises seines Richteramtes zu walten. Aber auch der Kapitalist, der in Michael schlummert, kam zu seinem Recht. Der «Monat» ermöglichte ihm jene Tellerwäscherkarriere, die er sich insgeheim immer wünschte: Er begann 2010 als Praktikant, wurde dann 2011 redaktioneller Mitarbeiter, später Redaktor, unter Florian Rittmeyer wurde er stellvertretender Chefredaktor, im Spätsommer 2016 dann trat er das Amt des Chefredaktors an, das er bis Ende Juli 2019 innehatte.
Lieber Michael, nun ziehst du nach fast zehn Jahren von dannen. Du hast tolle Arbeit geleistet, du warst stets mit vollem Einsatz unterwegs, du bist ein Gentleman, du hast uns und dich weitergebracht. Für all das sind wir dir sehr dankbar. Und klar – wir wünschen dir tolles Familienglück und viel Erfolg im Beruf. Deine Tellerwäscherkarriere hat eben erst begonnen.
Thomas Sprecher: der geborene Präsident
Thomas Sprecher ist der geborene Präsident, daran kann es keinen Zweifel geben. Die Berufung liegt in seinem Namen: Sprecher. Das ist einerseits der Vertreter einer Gruppe, der von ihr berufen wurde, für sie zu sprechen. Aber es ist eben auch und vor allem der Vorsitzende eines leitenden Gremiums, in diesem Fall: des Verwaltungsrats. Seit der Gründung der SMH Verlag AG im Jahre 2010 ist Thomas Sprecher deren Sprecher.
Thomas Sprecher ist aber nicht nur der geborene, sondern auch der perfekte Präsident: Er strahlt die Würde des Amtes aus – und das wiederum liegt nicht nur an seiner grauen Haarpracht und der dazu passenden Brille, die in der Gesamtkomposition unverfälschte Intellektualität verströmt. Nein, er hat auch die nötige Ruhe – er traf so manche wichtige Entscheidung in grösster Gelassenheit und Geistesgegenwart; er verfügt über ein unerschütterliches Beharrungsvermögen – über 20 Jahre lang ist er mit von der Partie und war doch keine einzige Sekunde verkrampft. Wenn es ein Wort gibt, das seinen Habitus prägt, dann ist es: Souveränität.
Thomas Sprecher wurde 1996 Mitglied des Vorstands der Gesellschaft Schweizer Monatshefte und amtete von 2000 bis zur Auflösung im Jahre 2011 als Vizepräsident. Mit grösster Geduld liess er in jenen Jahren eine Krisensitzung nach der anderen über sich ergehen, stets gefasst, stets cool, stets lebenszugewandt, frei nach dem Motto: Nicht alles wird so heiss gekocht, wie es gegessen wird. Und er sollte recht behalten. Es gibt uns noch. Es geht uns gut – natürlich nie gut genug: aber gut. Wir sind solide unterwegs. Und wir können für die Geschichtsbücher festhalten: Ohne Thomas Sprecher wären wir nicht, wo wir heute stehen.
Als ich ihn in der heissen Gründungsphase 2009 fragte, ob er bereit sei, das hohe Amt des Präsidenten zu übernehmen, sagte er sogleich zu. Er unterstützte mich ab der ersten Sekunde tatkräftig, vorbildlich, meisterhaft: Immer hatte er Zeit für mich, wenn ich sein Urteil brauchte; immer baute er mich auf, wenn ich an irgendwelchen Formalitäten verzweifelte; immer stand er juristisch mit Rat und Tat zur Seite, als es darum ging, die SMH Verlag AG zu gründen und die Gesellschaft in die neue Aktiengesellschaft zu integrieren, und ich mich fühlte, als lebten wir in der Schweiz im real existierenden Bürostalinismus. Auf Thomas Sprecher ist Verlass, so viel ist klar, unter allen Umständen. Und so wurde aus der Partnerschaft eine Freundschaft, die uns heute (und darüber hinaus) verbindet.
Wir hielten manche Sitzung an Wochenenden ab, vorzugsweise an Samstagen bei NKF an der Bahnhofstrasse. Thomas nannte sein Büro dortselbst den Stollen. Der Präsident sieht sich also selbst als Stollenarbeiter, man könnte auch sagen: als Arbeitstier. Das ist tatsächlich eine Frage, die alle beschäftigt, die mit Thomas Sprecher zusammenarbeiten: Woher nimmt dieser Mann die Zeit für all seine Engagements? Wie um Himmels
willen schafft er es, beruflich so viel zu leisten und daneben einen Wälzer nach dem anderen zu verfassen, einen über Literatur und Verbrechen, einen über Karl Schmid – und einen über die Geschichte der «Schweizer Monatshefte»?
Verfügt der Präsident, der zugleich ein Stollenarbeiter ist, über eine eigene Factory wie einst Andy Warhol und heute Ai Weiwei? Unterhält er irgendwo ein Recherchier- und Schreibheer? Kommt er womöglich ohne Schlaf aus? Irgendwann fanden wir die Antwort: Thomas Sprecher ist selbst die Factory – er ist einfach gut organisiert und ein Schaffer von Zwinglis Gnaden, also die Verkörperung des protestantischen Geistes mit kapitalistischem Arbeitsethos, frei nach Max Weber: Praktiziere die innerweltliche Askese und gebe dich deinem Beruf, ja deiner Berufung hin, dann macht die Arbeit richtig krass Spass.
Lieber Thomas, ich danke dir für alles, was du gedacht, geschrieben, geleistet, kurzum, für alles, was du getan hast. Der «Monat», wie er heute leibt und lebt, ist massgebend auch dein Werk.
Der «Monat», schreibst du in deiner Geschichte der Zeitschrift, solle Wirkung erzielen, er solle Freude bereiten, er solle sich vom publizistischen Mainstream nicht beeindrucken lassen, sondern den eigenen Weg gehen, er solle sich unternehmerisch tragen und die Zukunft so selber sichern. Deine Worte in Gottes Ohr – diesen Weg werden wir weitergehen!
Und du bleibst uns erhalten, als Jurist, als Leser, als Aktionär – und, ganz wichtig, als Haushistoriker. 2021 feiern wir den 100. Geburtstag – bis dann muss die nächste, ergänzte Geschichte der «Schweizer Monatshefte» erscheinen, verfasst von dir, dem ersten Sprecher der SMH Verlag AG.