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In die Schelmerei mit vollem Mieder

Margrit Schriber: «Die falsche Herrin». Zürich: Nagel & Kimche, 2008. Haut wie Milch hat sie und ein volles Mieder. Beim Reden singt sie. Ihre Erscheinung lässt die Männer nicht kalt. Aber sie ist auch widerborstig, unbelehrbar, ohne Scham noch Reue. Diese Frau fällt aus der Norm. Die Muotatalerin Anna Maria Inderbitzin, die durch den Irrwitz […]

Margrit Schriber: «Die falsche Herrin». Zürich: Nagel & Kimche, 2008.

Haut wie Milch hat sie und ein volles Mieder. Beim Reden singt sie. Ihre Erscheinung lässt die Männer nicht kalt. Aber sie ist auch widerborstig, unbelehrbar, ohne Scham noch Reue. Diese Frau fällt aus der Norm. Die Muotatalerin Anna Maria Inderbitzin, die durch den Irrwitz der Zeiten und Menschen als Sechsjährige ihren Vater im Villmergerkrieg verliert, wird einem Vormund ausgeliefert. Zwischen steilen Flühen aufwachsend, hat die ungebildete Frühwaise Sehnsucht nach Weite und Schönheit und Glück, einen unstillbaren Hunger nach Teilhabe. Doch die Welt ist starr. Ein für allemal sind die Lebenschancen verteilt. Der Putz der Oberschicht, der Anna Marias Augen in der Kirche kitzelt, ist nicht für sie bestimmt. Nur bei den Waschfrauen, denen sie zugeteilt wird, findet sie Verständnis für ihr Streben nach einem andern Leben. Seit sie die biblischen Geschichten vom Garten Eden gehört hat, sucht die «Bitzenin», wie man sie nennt, nach dem Paradies mit all seiner Pracht. Auf einem Schlachtfeld, inmitten von Toten, setzt ihr ein Chinafahrer ins Ohr, dass es einen Garten gebe, dem kein andrer gleicht: Versailles. Versailles wird für sie zum gelobten Land.

Es ist gegen alle Regeln. Eine niedrig Geborene will sich mit ihrem Geschick nicht abfinden. Sie löst sich von dem Waschzuber, der ihr für immer zugedacht war, und schwindelt sich in einen besseren Stand. Erst schleicht sie sich als Waschfrau ins Haus des mächtigsten Mannes in Schwyz, des Landammanns Joseph Anton Reding. Dort beobachtet sie die höheren Sitten und Rituale. Dann macht sie sich auf nach Frankreich. Der Sprache nicht mächtig, nistet sie sich in der Seigneurie Montlau in der Dordogne unter falscher Flagge ein und gibt sich als Tochter Redings aus − eine vornehme Dame, dem vorbestimmten Leben als Nonne entflohen, verwirrt, in Lumpen, doch aus angesehenem Haus. Was sie bei Reding gelernt hat, gibt sie nun graziös zum besten. Von hier aus will sie nach Versailles. Kurz aber bevor sie das Ziel erreicht, wird ihr meisterliches Verkleidungsspiel entlarvt. Schwyz verurteilt die kaum zwanzigjährige Bitzenin, nachdem sie schon früher zweimal wegen Diebstahls der Peitsche zugeführt worden war, zum Tod. Und da begibt sich Unerhörtes: eben jener Chinafahrer vom Schlachtfeld heiratet sie vom Galgen weg, wie ein altes Gesetz es erlaubt.

Auch der Chinafahrer ist ein Niemand und Hochstapler, nämlich der junge deutsche Gerberssohn und vagierende Studiosus Magnus Weber. Lange hat der vornehm auftretende Fremde scheinbar der wirklichen Tochter Redings den Hof gemacht, und hat diese ihn zum Mann haben wollen, bis er sich als sozialer Niemand und unehelichbar erwies. Sie holt sich von ihm doch einmal noch, was ihr verzweifeltes Leben will, während einer langen Chaisefahrt im Kreis herum, bevor das gesellschaftliche Schicksal sie ins Kloster zwingt.

Die Geschichte ist eine Hymne auf die Eigenwilligkeit. Die Bitzenin hat Launen, sie lügt, stiehlt und betrügt. Sie ist schlau und zäh und stark, widerstands- und leidensfähig, gierig nach Neuem, hungrig nach Leben und verwehrter Welt. Ihr nicht zu brechender Selbstbestimmungswillen nimmt eine neue Zeit vorweg.

Margrit Schriber hat diese berührende Liebesgeschichte der Wäscherin und des fremden Chinafahrers aufgrund von Ratsprotokollen und anderen Archivalien der historischen Anna Maria Inderbitzin gestaltet, die Anfang des 18. Jahrhunderts dreimal wegen Schelmerei, Hochstapelei und Vagantentum im welschen Land verurteilt wurde. Der Grad geschichtlicher Genauigkeit, ja dass es diese Frau überhaupt gegeben hat, ist indes ohne Belang. Diese in sich stimmige Geschichte braucht keine aussernarrative Authentizität, keine Verbürgung durch Quellen. Anschaulich leuchtet die Zeit aus den zahlreichen, minutiös genauen, bildersatten, koloritversprühenden Beschreibungen heraus.

Erzähltechnisch gleicht das reich facettierte Arrangement, gleichen diese vielstimmigen Mitteilungen aus einer Welt des Jammers, einem Theaterstück. Die Schauplätze wechseln, historische Erzählzeit und Rückblenden fliessen ineinander. Augenzeugen geben belastende Auskunft vor einem Tribunal, das es zum letzten Gericht denn doch nicht bringt. Die Waschfrauen, die mit Anna gearbeitet haben, mischen sich ein mit ihren Meinungen, als kommentierender Chor; worauf ihre poetisch überhöhte Sprache hindeutet.

Ein Einwand zuletzt: das Buch erinnert in Machart, Thema und Tonalität aufs deutlichste an den − vielleicht noch stärkeren − Vorgänger «Das Lachen der Hexe», zu seinem Schaden, weil sich ein »Déja-lu»-Effekt einstellt. Künstler sollten sich nicht wiederholen.

vorgestellt von Thomas Sprecher, Zürich

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