In der Musse mit Leichtigkeit
Andrea Köhler: «Lange Weile. Über das Warten». Frankfurt a.M.: Insel, 2007.
Allen Anstrengungen einer ökonomischen Lebensplanung zum Trotz, gehört das Warten zu einer der Grunderfahrungen menschlichen Daseins. Wir warten ständig: auf den nächsten Zug, das Essen im Restaurant, den Beginn des Sommers oder die Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse. Selbst beim Anruf einer Service-Hotline empfängt uns statt der versprochenen schnellen Hilfe meist das vertraute Mantra: «Bitte warten Sie!» So vielfältig wie die Anlässe des Wartens sind die damit verbundenen Empfindungen. Es gibt das quälende und das bange Warten, aber auch die Zuversicht des Werdens und die Vorfreude auf kommende Ereignisse. Andrea Köhler hat sich in der bei Insel erscheinenden «Bibliothek der Lebenskunst» des Wartens angenommen, nicht mit der bleiernen Schwere eines philosophischen Essays, sondern in Form kurzer, leichtfüssiger Meditationen, die sich dem Thema auf höchst unterschiedlichen Wegen nähern.
Gleich zu Beginn verweist die Autorin auf die dem Warten innewohnende Ambivalenz. Warten ist niemals nur «vergeudete» oder «leere» Zeit, sondern gehört als Pause und Verzögerung zum natürlichen Rhythmus des Lebens. Wird dieser Puls von An- und Abwesenheit aufgehoben und einer chronischen Gleichzeitigkeit geopfert, gibt es auch kein Reifen und Werden mehr. Ein schlagendes Beispiel dafür ist der Reisende, der mit dem Flugzeug rund um den Globus jettet, den Weg von A nach B aber nur als ödes Dazwischen empfindet. Vom eigentlichen Sinn des Reisens, den Weg als Ziel zu erfahren, und der damit verbundenen Hoffnung, als ein anderer wiederzukommen, ist hier nichts mehr übrig.
Pausen und Übergangszeiten sind aber auch als Momente der Selbstvergewisserung wichtig. Wer immer nur von einer Höchstleistung zur nächsten eilt, verliert rasch den Blick für Sinn und Zweck seines Tuns. Nicht umsonst gibt es den Begriff der «Schaffenspause», die allen schöpferischen Leistungen vorangeht. «In der Latenz der Seelenflaute lauert die gute Idee», schreibt Andrea Köhler, und man kann getrost hinzusetzen, dass kein Willensakt und keine noch so grosse Anstrengung sie hervorlocken kann. Skeptisch zeigt sich die Autorin gegenüber dem verordneten Abschalten in Fitnessstudios und Wellness-Oasen, künstlichen Auszeiten, die hinterrücks doch wieder nur das Diktat eines streng reglementierten Zeitbudgets fortschreiben. Statt Ausspannen im Wohlfühlpaket macht Köhler sich für den fast vergessenen Begriff der Musse stark, das wirkliche Gegenstück zur umtriebigen Geschäftigkeit: «denn Musse ist kein Tun und kein Lassen, müssig kann man nur sein.» Zugleich scheint hier etwas von der Freiheit und Leichtigkeit auf, die sich einstellt, wenn nicht alle Zeit an Zwecke und Ziele vergeben ist.
Saumseliges Träumen, Selbstvergessenheit und Müssiggang mögen Gift für jede aufstrebende Volkswirtschaft sein, für den einzelnen sind sie Inseln der Freiheit im gleichförmigen Tagesgeschehen der Ökonomie. Lahme Tage nicht zu fürchten, sondern als geschenkte Zeit geniessen zu lernen, ist sicherlich eine der schwereren Übungen der Lebenskunst. Andrea Köhler hat dazu ein kluges, lesenswertes Buch geschrieben.
vorgestellt von Georg Deggerich, Krefeld