
In der Medizin führt Innovation zu Mehrkosten
In den letzten Jahrzehnten ist ein regelrechter Ideen-Tsunami über das Schweizer Gesundheitswesen hereingebrochen. Das liess Regulierung, Bürokratie und die Kosten weiter munter wachsen.
Wir werden immer älter und fühlen uns dabei auch noch gesünder. Somit gewinnen wir nicht nur mehr Quantität an Lebensjahren, sondern auch mehr Qualität. Die Krebssterblichkeit ist praktisch bei allen Organen rückläufig, Bluthochdruck oder Diabetes schränken die Lebensqualität massiv weniger ein als noch vor 50 Jahren. Und die jüngsten Forschungsergebnisse nähren die Hoffnung, dass bald auch Alzheimer etwas Wirksames entgegengesetzt werden kann. Wir dürfen im Schweizer Gesundheitswesen auf eine weltweit einzigartig hohe Versorgungszugänglichkeit und -geschwindigkeit stolz sein, gepaart mit einer umfassenden Wahlfreiheit bei Fachärztinnen und Fachärzten. Im Normalfall können innert 20 Minuten weit über 90 Prozent aller Notfälle erreicht werden. Kurz: Die Angebotsqualität ist enorm. Aber eben: Die Kosten sind sehr hoch.
Um die Qualität im Gesundheitswesen zu messen, wird oft die Lebenserwartung oder die Säuglingssterblichkeit beigezogen. Neuere Ansätze stellen diese Grössen in ein Verhältnis zu den Kosten – ein Indikator, der vom Legatum Institute in London jährlich ausgewiesen und von PricewaterhouseCoopers (PwC) als Messgrösse regelmässig vorgeschlagen wird. Während beispielsweise bei der reinen Lebenserwartung die Schweiz zu den Top 3 gehört, fällt sie beim Verhältnis zwischen Lebenserwartung und Kosten auf Rang 13 zurück. Wir geben sehr viel Geld aus für die zusätzlichen Lebensjahre – das Verhältnis ist schlechter als in zwölf anderen Ländern. Berücksichtigt man zusätzlich, wie viele Menschen das in der Schweiz nicht mehr selber bezahlen können oder wollen, wird das Bild nicht besser: Je nach Kanton und Region beanspruchen zwischen 30 und 40 Prozent der Bevölkerung die individuelle Prämienverbilligung (IPV), was der öffentlichen Hand Kosten von über 6 Milliarden Franken verursacht. Dahinter steckt eine grosse Umverteilung, werden doch dafür allgemeine Steuermittel eingesetzt. Dem feinen und wichtigen Unterschied zwischen der Zahlungsfähigkeit und dem Zahlungswillen ist dabei hohe Bedeutung zuzumessen: Die Schwelle für den Bezug der IPV ist tief.
Die Politik will theoretisch die Kosten beeinflussen, konzentriert sich praktisch aber meist auf die Finanzierung. Doch eine Veränderung der Finanzierung hat nur in bestimmten Punkten einen Einfluss auf die Kosten. Zwei Beispiele: Die Idee, die Prämien der Kinder weiter zu senken oder zu erlassen, ist auf den ersten Blick genauso nachvollziehbar wie eine nationale oder kantonale Einheitskasse. Aber in beiden Fällen wird nur an der Finanzierung, nicht an den Kosten geschraubt. Änderungen bei der Finanzierung haben nur dann einen Einfluss auf die Kosten, wenn die Patienten einen höheren Teil der bezogenen Leistungen selber bezahlen müssen und daraus ein Anreiz entsteht, die persönlichen Kosten zu senken, indem weniger Leistungen bezogen werden. In den Situationen, in denen man eine gewisse Wahlfreiheit hat, also kaum in Notfällen, bestehen solche Anreize. Der gegenteilige Effekt zeigt sich jeweils im November und Dezember, wenn viele Versicherte ihren Selbstbehalt aufgebraucht haben und noch «gratis» von den Leistungen der Versicherung profitieren wollen. Das nennt man «Moral Hazard».
Die Menschen werden heute älter. Und das bedeutet, dass mit jeder lebensverlängernden Innovation die Kosten im Gesamtsystem steigen, denn mit höherem Alter steigen die Risiken für weitere Erkrankungen. Wenn eine Population im Schnitt mit 60 Jahren stirbt, besteht noch kaum ein Risiko, an Demenz zu erkranken. In der Schweiz liegt die Lebenserwartung knapp 25 Jahre höher. Es gab im Jahr 2018 in der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen knapp 6000 Demenzkranke, in der Altersgruppe ab 90 Jahren waren es 35 000. Die medizinische Innovation, die uns älter werden lässt, verhindert also nicht das Sterben, sie schiebt es hinaus. Das gibt uns mehr Zeit, um an allem Möglichen zu erkranken. Nicht einfach das hohe Alter wird medizinisch teurer, es sind die letzten zwei Lebensjahre in fast jedem Alter. Gestorben wird in den seltensten Fällen ohne Kostenfolge.
«Die Politik will theoretisch die Kosten beeinflussen, konzentriert sich praktisch aber meist auf die Finanzierung.»
Steigende Lebenserwartung führt zu höheren Kosten
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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1104 - März 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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