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In der Medizin führt Innovation zu Mehrkosten
Peter Werder, zvg.

In der Medizin führt Innovation zu Mehrkosten

In den letzten Jahrzehnten ist ein regelrechter Ideen-Tsunami über das Schweizer Gesundheitswesen hereingebrochen. Das liess Regulierung, Bürokratie und die Kosten weiter munter wachsen.

Wir werden immer älter und fühlen uns dabei auch noch gesünder. Somit gewinnen wir nicht nur mehr Quantität an Lebensjahren, sondern auch mehr Qualität. Die Krebssterblichkeit ist praktisch bei ­allen Organen rückläufig, Bluthochdruck oder Diabetes schränken die Lebensqualität massiv weniger ein als noch vor 50 Jahren. Und die jüngsten Forschungsergebnisse nähren die Hoffnung, dass bald auch Alzheimer etwas Wirksames entgegengesetzt werden kann. Wir dürfen im Schweizer Gesundheits­wesen auf eine weltweit einzigartig hohe Versorgungszugänglichkeit und -­geschwindigkeit stolz sein, gepaart mit einer umfassenden Wahlfreiheit bei Fachärztinnen und Fachärzten. Im Normalfall können innert 20 Minuten weit über 90 Prozent aller Notfälle erreicht werden. Kurz: Die Angebotsqualität ist enorm. Aber eben: Die Kosten sind sehr hoch.

Um die Qualität im Gesundheitswesen zu messen, wird oft die Lebenserwartung oder die Säuglingssterblichkeit beigezogen. Neuere Ansätze stellen diese Grössen in ein Verhältnis zu den Kosten – ein Indikator, der vom Legatum Institute in London jährlich ausgewiesen und von PricewaterhouseCoopers (PwC) als Messgrösse regelmässig vorgeschlagen wird. Während beispielsweise bei der reinen Lebenserwartung die Schweiz zu den Top 3 gehört, fällt sie beim Verhältnis zwischen Lebenserwartung und Kosten auf Rang 13 zurück. Wir geben sehr viel Geld aus für die zusätzlichen Lebensjahre – das Verhältnis ist schlechter als in zwölf anderen Ländern. Berücksichtigt man zusätzlich, wie viele Menschen das in der Schweiz nicht mehr selber bezahlen können oder wollen, wird das Bild nicht besser: Je nach Kanton und Region beanspruchen zwischen 30 und 40 Prozent der Bevölkerung die individuelle Prämienverbilligung (IPV), was der öffentlichen Hand Kosten von über 6 Milliarden Franken verursacht. Dahinter steckt eine grosse Umverteilung, werden doch dafür allgemeine Steuermittel eingesetzt. Dem feinen und wichtigen Unterschied zwischen der Zahlungsfähigkeit und dem Zahlungswillen ist dabei hohe Bedeutung zuzumessen: Die Schwelle für den Bezug der IPV ist tief.

Die Politik will theoretisch die Kosten beeinflussen, konzentriert sich praktisch aber meist auf die Finanzierung. Doch eine Veränderung der Finanzierung hat nur in bestimmten Punkten einen Einfluss auf die Kosten. Zwei Beispiele: Die Idee, die Prämien der Kinder weiter zu senken oder zu erlassen, ist auf den ersten Blick genauso nachvollziehbar wie eine nationale oder kantonale Einheitskasse. Aber in beiden Fällen wird nur an der Finanzierung, nicht an den Kosten geschraubt. Änderungen bei der Finanzierung haben nur dann einen Einfluss auf die Kosten, wenn die Patienten einen höheren Teil der bezogenen Leistungen selber bezahlen müssen und daraus ein Anreiz entsteht, die persönlichen Kosten zu senken, indem weniger Leistungen bezogen werden. In den Situationen, in denen man eine gewisse Wahlfreiheit hat, also kaum in Notfällen, bestehen solche Anreize. Der gegenteilige Effekt zeigt sich jeweils im November und Dezember, wenn viele Versicherte ihren Selbstbehalt aufgebraucht haben und noch «gratis» von den Leistungen der Versicherung profitieren wollen. Das nennt man «Moral Hazard».

Die Menschen werden heute älter. Und das bedeutet, dass mit jeder lebensverlängernden Innovation die Kosten im Gesamtsystem steigen, denn mit höherem Alter steigen die Risiken für weitere Erkrankungen. Wenn eine Population im Schnitt mit 60 Jahren stirbt, besteht noch kaum ein ­Risiko, an Demenz zu erkranken. In der Schweiz liegt die ­Lebenserwartung knapp 25 Jahre höher. Es gab im Jahr 2018 in der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen knapp 6000 Demenzkranke, in der Altersgruppe ab 90 Jahren waren es 35 000. Die medizinische Innovation, die uns älter werden lässt, verhindert also nicht das Sterben, sie schiebt es hinaus. Das gibt uns mehr Zeit, um an allem Möglichen zu erkranken. Nicht einfach das hohe Alter wird medizinisch teurer, es sind die letzten zwei Lebensjahre in fast jedem Alter. ­Gestorben wird in den seltensten Fällen ohne Kostenfolge.

«Die Politik will theoretisch die Kosten beeinflussen, konzentriert sich praktisch aber meist auf die Finanzierung.»

Steigende Lebenserwartung führt zu höheren Kosten

Aber auch das ganze Leben wird medizinisch teurer. Neue Medikamente, neue Eingriffsarten, neue Therapien erhöhen generell die Heilungschancen häufiger Krankheiten. Das erhöht die Lebenserwartung signifikant und macht die Überlebenden oft zu chronisch Kranken.

In vielen Branchen ist eindrücklich zu beobachten, wie Innovation die Kosten senkt und langfristig die Qualität erhöht – man vergleiche nur die Ausstattung und den Preis eines Autos aus dem Jahr 1990 und von heute. Oder man zähle zusammen, wie viel im Jahr 2000 ein Fotoapparat, eine Agenda, ein Handy und ein Faxgerät gekostet haben, und vergleiche dies mit dem Preis eines mittelmässigen Smartphones von heute. In der Medizin führt die Innovation aber meist zuerst zu Mehrkosten.

Dabei sind die direkten Kosten durch neue Behandlungsmethoden und die indirekten Kosten durch demografischen Wandel zu betrachten. Die bessere und teurere Behandlungsmethode kann sich über die Jahre hinweg zwar wieder verbilligen, Medikamentenkosten sinken langfristig, unter anderem wegen des auslaufenden Patentschutzes und des Marktzugangs von Generika. Das ändert aber nichts daran, dass die indirekten Kosten über die Erhöhung der Lebenserwartung steigen. Zudem – und das ist erneut der Politik zu verdanken – werden neue Leistungen sehr schnell in den Grundversicherungskatalog aufgenommen, was das System weiter verteuert. Dieser Katalog wird politisch gesteuert, weil die Versicherung obligatorisch ist.

Wieso senkt also Innovation die Kosten nicht? Ganz einfach: Weil die Forschung ausschliesslich auf die medizinische Qualität wirkt und die Personal- und Materialkosten – anders als in weniger regulierten Branchen wie der IT – kaum sinken. Die Kosten steigen zudem, weil im medizinischen Kernangebot nur wenige Synergieeffekte genutzt werden können. Es ist wie bei der Schule oder beim Sinfonieorchester: Es braucht immer einen Lehrer oder eine Lehrerin, es braucht immer eine Dirigentin und 100 Musiker. Natürlich kann man gewisse Servicedienstleistungen zentralisieren, gemeinsam einkaufen oder mit Telemedizin die Fachkräfte besser auslasten. Aber dieser Nutzen wird von den Mehrkosten der Innovation gleich wieder aufgefressen. Aus Sicht des Ökonomen ist das Gesundheitswesen ein schöner Anwendungsfall für die «Baumol’sche Kostenkrankheit».

Höhere Kosten, weniger Leistungen

Die Ambulantisierung («ambulant vor stationär», AVOS) muss – obgleich medizinisch sinnvoll – in zweifacher Hinsicht als Negativbeispiel für einen politischen Eingriff herhalten: Sie hat viel Regulierung mit sich gebracht, aber die Bürger spüren den Einspareffekt nicht. Die Kosteneinsparungen werden nicht weitergegeben oder ausgewiesen. Die Kantone haben ein Interesse an der Ambulantisierung, weil ihre direkte Kostenbeteiligung an den Eingriffen wegfällt, sie zahlen ja nur im stationären Bereich gut die Hälfte. Wird der Eingriff ambulant durchgeführt, bezahlt der Kanton gar nichts. Somit spart der Kanton pro Eingriff im Durchschnitt in etwa 5000 Franken. Den Versicherten ent­gehen aber direkt Leistungen, denn sie können für ihren Eingriff nicht mehr stationär ins Spital. Für die Zusatzversicherten ist die Reduktion doppelt, denn sie verzichten dabei auch noch auf die privaten oder halbprivaten Leistungen gemäss dem Versicherungsvertragsgesetz. Die Prämien sinken aber weder im obligatorischen noch im privaten Bereich. Ebenso wenig sinken die Steuern, weil die Kantone die Einsparungen nicht direkt an die Steuerzahler weitergeben.

Wenn die Politik etwas tut, dann interveniert und reguliert sie. All die Ideen aus dem Bundesamt für Gesundheit oder aus den Parlamenten zielen zwar auf Kostensenkungen, bringen aber meist mehr Regulierung und damit Bürokratie. Seit 2004 gab es 35 Revisionen des KVG. Während die Seitenzahl im Jahr 2000 noch 40 Seiten betrug, sind es heute deren 100. Die Anzahl der Geschäfte im Bundesparlament ist mittlerweile im Gesundheitswesen viel höher als in der Bildung, pro Jahr sind es über 500, vor zehn Jahren waren es noch um die 300.

Die Ambulantisierung erzeugte einen Bürokratiekoloss. In der Einführungszeit gab es unterschiedliche kantonale ­Listen mit Eingriffsarten, die ambulant durchgeführt werden mussten, und unterschiedliche Ausschlusskriterien, die es den Spitälern erlaubten, einen bestimmten Eingriff trotzdem stationär durchzuführen. Kostengutsprachen konnten vom Kanton und der Kasse ebenso unterschiedlich ausfallen. Ein administrativer Albtraum!

Die Kostenbeteiligungen über Franchise und Selbstbehalt sind seit 2004 nicht erhöht worden. Diesen Punkt, bei dem die Patienten direkt an den Kosten beteiligt werden und wo die Finanzierung einen Einfluss auf die Kosten haben kann, weil bei höherer Kostenbeteiligung weniger Leistungen bezogen werden, fasst die Politik also nicht an. Dabei beziehen 80 Prozent der Personen nur 20 Prozent der Leistungen. Wir befinden uns also in einem moralischen Dilemma: Einerseits wollen wir die unverschuldet Erkrankten oder Menschen mit tiefen Einkommen mit direkten Kostenbeteiligungen nicht stärker belasten, andererseits sollten wir aber unser Gesundheitswesen für alle Beteiligten retten und finanzierbarer machen.

Und wie lösen wir nun das Problem?

Das Gesundheitswesen ist ein komplexes System. Ein solches definiert sich vor allem über die Gesetzmässigkeit, dass Ursache und Wirkung nicht eins zu eins kausal aus­einandergehalten werden können. Dem trägt die Politik meist kaum Rechnung.

Anregung 1: Würde man die Prämienverbilligung ähnlich wie die Sozialhilfe gestalten und die Hürden dafür erhöhen, könnten die Kosten sinken. Konkret: Man muss die IPV selber und jährlich neu beantragen, die Gelder fliessen direkt an die Krankenkassen, die Einkommensgrenze muss tief genug sein und das Verfahren muss ähnlich jenem der Sozialhilfe sein – idealerweise stärker automatisiert. Damit fokussieren wir auf fehlende Zahlungsfähigkeit und schliessen fehlenden Zahlungswillen aus.

Anregung 2: Mehr Kostenwahrheit im Gesundheitswesen: Bei der Finanzierung müssen wir da ansetzen, wo sie ­einen Einfluss auf die Kosten hat. Wer weniger Leistungen bezieht, weil er sie nicht unbedingt braucht, soll effektiv Geld sparen können.

Anregung 3: Was bei den Sachversicherungen funktioniert, wird auch bei der Krankenversicherung die Kosten senken: Wenn wir schon über immer mehr Innovation verfügen, müssen wir die Grobfahrlässigkeit einführen. Wer sich gesundheitsschädigend verhält, bezahlt höhere Prämien. Es ist dabei keine eindeutige Kausalität nötig, wenn der Schaden eintritt. Die klare Inkaufnahme des Risikos allein reicht für höhere Selbstbehalte oder Prämien – genauso, wie es auch bei den Sachversicherungen funktioniert. Und wie bei den Sachversicherungen braucht es dafür nicht den Staat, die Vereinbarung wird zwischen Versicherung und Versicherten getroffen. Dabei werden automatisch nicht einfach alle ungesunden Verhaltensmuster sanktioniert, sondern diejenigen, die das Leben wirklich verteuern.

Anregung 4: Die im KVG geregelte Krankenpflegeversicherung muss vom Obligatorium befreit werden. Die Frage, ob dann vermehrt Kosten über die Sozialhilfe anfallen, wenn Patientinnen oder Patienten ohne Versicherung auf dem Notfall landen, ist dabei nebensächlich, denn schon bei der Einführung des Obligatoriums 1996 waren praktisch alle Einwohnerinnen und Einwohner (freiwillig!) versichert, ganz im Gegensatz etwa zu den USA, die oft als Negativbeispiel genannt werden. Das Obligatorium hat enorme politische Regulierung mit sich gebracht, nur mit der Abschaffung kann der Leistungsumfang entpolitisiert werden, was Kosten sparen wird. Ein Grundauftrag des Bundes regelt das Notwendige nach den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation.

Optimale statt maximale Versorgung

Wir brauchen eine optimale, keine maximale Versorgung. Der Zugang soll schnell sein, aber nicht so schnell wie möglich; er soll direkt sein, aber nicht so direkt, als dass er zu einem All-inclusive-Buffet wird. Die medizinische Innovation – ein Grundpfeiler unseres Wohlstands – verhindert das Sterben nicht, sie schiebt es nur hinaus und erhöht die Behandlungs- und Lebensqualität bei gleichzeitig höheren Kosten. Kosteneinsparungen müssen uns transparent gemacht werden. Grobfahrlässigkeit ist zu bestrafen, das Gesundheitswesen von Regulierung und Bürokratie zu befreien und die Versorgungs­geschwindigkeit oder -qualität zu optimieren – nicht zu maximieren. Und wir müssen uns der Diskussion stellen, ob wir für unsere Gesundheit und für unsere mittlerweile gemäss den einschlägigen Statistiken weltweit sehr hohe Lebenserwartung wirklich nicht mehr Geld ausgeben können – oder es einfach nicht wollen.

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