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«In den USA hat die Mehrheit zu wenig Macht»

Die amerikanische Demokratie drohe zu einer Tyrannei der Minderheit zu werden, warnt Daniel Ziblatt. Er fordert eine Reform des Wahlsystems und prophezeit, was Trump in einer zweiten Amtszeit tun würde.

«In den USA hat die Mehrheit zu wenig Macht»
Ein Unterstützer von Donald Trump an einer Wahlkampfveranstaltung in Maryland, USA, im Februar 2024. Bild: Keystone/DPA/Annabelle Gordon.

Read the English version here.

Wann immer ich ein Buch von Ihnen lese, habe ich den Eindruck, dass die amerikanische Demokratie kurz vor dem Zusammenbruch stehe. 2018 haben Sie und Steven Levitsky vor dem «Tod der Demokratie» in den USA gewarnt, der bisher nicht eingetreten ist. In Ihrem neuen Buch sprechen Sie von der Gefahr der «Tyrannei der Minderheit». Weshalb sollten wir dieses Mal besorgt sein?

Nun, ich habe nicht erwartet, dass die amerikanische Demokratie sterben wird. Das Ziel unseres Buches «Wie Demokratien sterben» war es, eine Reihe von Warnsignalen zu identifizieren; wir haben dafür Länder betrachtet, in denen die Demokratie in Schwierigkeiten geraten ist, und darauf hingewiesen, dass einige dieser Warnzeichen in den USA sichtbar seien. Seit 2016 haben die USA nach allen internationalen Demokratieindizes einen demokratischen Rückschritt erlebt. Es gibt Quellen der Widerstandsfähigkeit und Stärke, daher glaube ich nicht, dass es unvermeidlich ist, dass die amerikanische Demokratie stirbt.

 

Was ist Ihre grösste Sorge mit Blick auf 2024?

Ein Wahlsieg Donald Trumps wäre natürlich schlecht.

 

Wieso?

In seiner ersten Amtszeit hatte er nicht viel Erfahrung; er hatte eine Agenda aufgestellt, die er nicht wirklich umsetzen konnte. Dieses Mal ist jedoch ziemlich klar, was er tun würde. Er hat in seinen Reden angekündigt, dass er seine politischen Gegner verfolgen wolledo, und das ist eine klassische Strategie von Demokratiefeinden. Er hat auch gezeigt, dass er nicht bereit ist, eine Wahlniederlage zu akzeptieren. Selbst wenn er also verliert, könnte die Wahl destabilisierend wirken.

 

Warum glauben Sie, dass Trump dieses Mal die Dinge tun wird, die er 2016 versprochen und nicht umgesetzt hat?

Er hat sich beim ersten Mal nicht als besonders effektive Führungspersönlichkeit erwiesen. Das lag zum Teil daran, dass er bei seinem Amtsantritt nur sehr wenig Erfahrung hatte. So verliess er sich in Schlüsselpositionen auf etablierte Republikaner. Infolge seiner Rolle beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 haben sich jedoch viele dieser etablierten Republikaner von ihm abgewendet. Er ist auch weniger daran interessiert, sich auf sie zu verlassen, sondern vielmehr daran, sich auf Leute zu verlassen, die ihre persönliche Loyalität zu ihm bewiesen haben. Das ist keine gute Grundlage, um ein rechtsstaatliches System zu führen.

 

Was ich daran kritisieren würde, ist das zugrunde liegende Narrativ, das wir auch in einigen Medien immer wieder sehen: Alles, was Trump tut, ist schlecht. Immer wenn er jemanden ernannte, zum Beispiel Rex Tillerson oder John Bolton, wurden sie als sehr problematische Figuren dargestellt, aber wenn dieselben Leute gefeuert wurden, wurden sie als die letzten vernünftigen Leute im Kabinett gefeiert. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die Menschen aufhören, dieses Narrativ zu glauben, wenn es ständig wiederholt wird?

Ich verstehe Ihren Punkt, dass Menschen manchmal als Helden behandelt werden, wenn sie gehen und Trump kritisieren. Aber ich denke, es gibt wirklich einen Unterschied zwischen der Ernennung von Leuten auf der Grundlage von Fachwissen und jener auf der Grundlage persönlicher Loyalität. Es ist übrigens nicht ungewöhnlich, dass politische Aussenseiter, die in ein Amt kommen, sich in den ersten Jahren auf Insider verlassen, weil sie das Terrain nicht kennen, und dann mit der Zeit ihre eigenen persönlichen Netzwerke aufbauen; das sind dann die Leute, auf die sie sich verlassen. Die Frage ist: Sind das die Leute, die gut für die Vereinigten Staaten sind oder nicht? Ich würde sagen: wahrscheinlich nicht.

 

In Ihrem neuen Buch kritisieren Sie die «Tyrannei der Minderheit», womit Sie die Republikaner meinen. Doch ist der Schutz von Minderheiten nicht ein wichtiger Aspekt der Demokratie?

Ja, Checks and Balances sind ein geniales System. Es ist wirklich wichtig, dass wir eine Bill of Rights haben, um Rechte und bürgerliche Freiheiten zu schützen, dass wir eine unabhängige Justiz haben, dass Demokratie nicht nur die Herrschaft der Mehrheit, sondern auch Minderheitenrechte beinhaltet. In Ländern wie Ungarn oder Venezuela hat die Mehrheit zu viel Macht, und das ist gefährlich. In den USA befinden wir uns im anderen Ex­trem. In unserem System ist es möglich, eine Minderheit der Stimmen zu holen und trotzdem Präsident zu werden. Und ich glaube nicht, dass es besonders parteiisch ist, dies zu sagen. Das Problem betrifft nicht nur die Republikaner.

 

Dennoch kritisieren Sie jene Institutionen des Minderheitenschutzes wie das Electoral College – das Gremium der Wahlmänner, die den Präsidenten wählen – oder die Überrepräsentation kleiner Staaten, die eine bestimmte Partei begünstigen, und das sind die Republikaner.

Das ist richtig. Im Laufe der amerikanischen Geschichte haben diese Institutionen manchmal die Demokraten und manchmal die Republikaner begünstigt. Das Besondere an der gegenwärtigen Situation ist, dass sie sich zugunsten einer Partei auswirken. Aber das ist nicht unser Punkt – unser Punkt ist, dass das System ungerecht ist.

 

Sie kritisieren auch, dass die Republikaner, zumindest die meisten von ihnen, das Wahlergebnis von 2020 nicht akzeptiert hätten. Sie erwähnen jedoch nicht, dass auch die Demokraten Probleme hatten, das Ergebnis von 2016 zu akzeptieren, und behaupteten, es habe geheime Absprachen zwischen den Republikanern und Russland gegeben.

Um es klar zu sagen: Hillary Clinton hat die Niederlage in der Wahlnacht eingeräumt.

 

Ja, aber sie sagte später trotzdem, dass die Wahl «nicht ehrlich war». Ausserdem sagte sie 2020, dass Joe Biden die Präsidentschaftswahlen «unter keinen Umständen» für verloren erklären sollte.

Nun, es ist offensichtlich falsch, so etwas zu sagen. Wenn man als Partei oder Politiker der Demokratie verpflichtet ist, muss man Wahlergebnisse akzeptieren, egal ob man gewinnt oder verliert. Das gilt sowohl für Demokraten als auch für Republikaner, und wenn beide Seiten Wahlniederlagen nicht immer akzeptieren, ist das ein Problem. Aber es ist ziemlich klar, dass in den letzten Jahren die Republikaner bei diesem Test häufiger durchgefallen sind als die Demokraten.

 

Sie fordern «loyale Demokraten» auf, nicht mit «antidemokratischen Extremisten» zusammenzuarbeiten. Besteht bei dieser Strategie nicht die Gefahr, dass Extremisten gestärkt statt geschwächt werden? In Deutschland gibt es einen Konsens unter den etablierten Parteien, nicht mit der AfD zu kooperieren. Aber diese Strategie scheint nicht zu funktionieren, denn die AfD ist stärker denn je.

Ich weiss nicht, ob das wirklich der Grund für den Erfolg der AfD ist. Ihre Kernthemen wie Einwanderung stehen auf der politischen Agenda ganz oben. Die AfD hat die politische Agenda sehr effektiv geprägt. Den etablierten Parteien ist es nicht so gut gelungen, die Themen, über die sie sprechen wollen, in den Vordergrund zu rücken. Wenn das Ziel darin besteht, die AfD von der Macht fernzuhalten, dann war ihre Strategie sehr effektiv, aber ich glaube nicht, dass dies eine nachhaltige Strategie ist. Demokratie erfordert auf lange Sicht Wettbewerb, man kann Parteien nicht für immer ausschliessen. Also müssen die eta­blierten Parteien herausfinden, wie sie die Wähler für sich gewinnen können.

«Demokratie erfordert auf lange Sicht Wettbewerb, man kann Parteien nicht für immer ausschliessen.»

 

Ein wiederkehrendes Thema in Ihrem Buch ist die Frage, wie eine friedliche Machtübergabe gewährleistet werden kann. Sie schreiben, dass «wenn zu viel auf dem Spiel steht und die unterlegenen Parteien befürchten, alles zu verlieren, sie nur widerwillig die Macht abgeben». Welche Rolle spielt dabei die Polarisierung? Ist sie nicht das Kernproblem, wenn Parteien den Machtverlust fürchten?

In den USA haben beide grossen Parteien das Gefühl, dass die andere Partei das System zerstören werde, wenn sie an die Macht komme. Wenn beide Seiten einander fürchten, steht viel mehr auf dem Spiel, und die Parteien werden immer grössere Anstrengungen unternehmen, die jeweils andere von der Macht fernzuhalten. Das ist sicherlich gefährlich. Es muss einen Ausweg geben, denn die Polarisierung ist zu einem wunden Punkt in den USA geworden.

 

Wäre dann aber nicht der Schutz von Minderheiten ein Weg, um dem Verlierer zu garantieren, dass er nicht alles verlieren wird?

Das stimmt. Das Paradoxe ist, dass einige dieser gegen die Mehrheit gerichteten Institutionen in gewisser Weise die Radikalisierung der Republikanischen Partei verstärken. Denn es ist die Parteibasis, die sie zur Radikalisierung drängt. Normalerweise müssen Parteien, um Mehrheiten zu gewinnen, in die Mitte rücken. Aber Institutionen wie das Electoral College haben den gegenteiligen Effekt: Sie ermöglichen es Parteien, an die Macht zu kommen, ohne Mehrheiten zu gewinnen. Das Electoral College trägt wirklich nicht zur Mässigung bei.

«Das Paradoxe ist, dass einige dieser gegen die Mehrheit gerichteten

Institutionen in gewisser Weise die Radikalisierung der Republikanischen Partei verstärken.»

 

Ein Instrument, das Sie in Ihrem Buch nicht erwähnen, ist die direkte Demokratie. In der Schweiz gibt es so viele Abstimmungen und Wahlen, dass jede Partei von Zeit zu Zeit verliert und eine einzelne Niederlage nicht so dramatisch ist. Könnte die direkte Demokratie ein sinnvolles Instrument für die USA sein?

In unserem Buch schlagen wir 15 verschiedene Reformen vor; die direkte Demokratie gehört nicht dazu. Es stimmt zwar, dass sie im Sinne unserer Idee ist, mehr Mehrheitselemente einzuführen, und viele Gliedstaaten in den USA kennen das Referendum bereits. Aber nationale Volksabstimmungen sind vielleicht keine gute Idee.

 

Wieso nicht?

Sie haben keine Tradition. Zudem sind die USA ein riesiges Land; es ist schwer vorstellbar, dass 300 Millionen Menschen über eine einzige Frage abstimmen. Im Prinzip ist die direkte Demokratie ein Thema, das ich in Betracht ziehen würde. Aber es gibt eine Menge anderer Reformen, die ich vorher in Angriff nehmen würde.

 

Sie sind ein Experte für konservative Parteien. Warum sind Sie von ihnen fasziniert, obwohl Sie selbst kein Konservativer sind?

Bei meinen Forschungen zur Geschichte der konservativen Parteien in Deutschland und Grossbritannien stellte ich fest, dass sich die Leute, die sich mit der Demokratisierung in Europa befassten, in der Regel auf die politischen Akteure konzentrierten, mit denen sie am meisten sympathisierten. Und da viele Akademiker linksorientiert sind, konzentrierten sie sich auf sozialdemokratische und liberale Parteien. Aber es ist ziemlich klar, dass eine Demokratie mehr als eine oder zwei Parteien braucht, um lebensfähig zu sein. Deshalb habe ich begonnen, mich auf konservative Parteien zu konzentrieren. Konservative Parteien können eine Quelle der Stärke für Demokratien sein, wenn sie sich für eine demokratische Ordnung einsetzen, aber sie können auch eine Quelle der Schwäche sein, wenn sie sich von der Demokratie abwenden. Sie sind also ein wichtiger Akteur im demokratischen Spiel.

 

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der Aufbau und die Aufrechterhaltung einer multiethnischen Demokratie heute die zentrale Herausforderung in Amerika sei. Was meinen Sie damit?

Die USA waren schon immer eine sehr vielfältige Gesellschaft. Aber in den letzten 20 Jahren hat sich ein demografischer Wandel vollzogen, der dazu geführt hat, dass keine ethnische Gruppe mehr die Mehrheit bildet. Dass es keine dominante weisse Mehrheit gibt, ist ein Novum in der amerikanischen Geschichte. Das ist natürlich eine Chance, aber auch eine Herausforderung, denn wenn Menschen merken, dass ihre Lebensweise die Mehrheit und ihren dominanten sozialen Status verloren hat, kann das sehr bedrohlich werden.

 

Sehen Sie in der Identitätspolitik eine Gefahr für die Demokratie?

Wenn politische Parteien ihre Kampagnen auf rassische und ethnische Kriterien ausrichten, ist das eindeutig gefährlich. Im Idealfall sind Parteien auf beiden Seiten des politischen Spek­trums multiethnische Parteien, und Mehrheiten sollten nicht auf Identität, sondern auf politischen Fragen beruhen. Dies würde die amerikanische Demokratie wesentlich stabiler machen. Eine der Schwachstellen unserer Demokratie ist heute, dass nur eine Partei wirklich vielfältig ist. Wenn die Republikaner weiterhin eine überwiegend weisse Partei in einer extrem vielfältigen Gesellschaft sind, dann wird es sehr verlockend sein, Identitätspolitik zu betreiben.

Daniel Ziblatt, zvg.

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