Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

In den Fängen der
Drittfinanzierer: Die tragische
Mengenausweitung im Schweizer Gesundheitssystem

Die obligatorische Krankenversicherung basiert auf dem Dogma, dass im Gesundheitswesen der Markt versage. Als abschreckendes Beispiel werden gerne die USA genannt – dabei gibt es gerade dort Ansätze, die das Dogma in Frage stellen.

In den Fängen der Drittfinanzierer: Die tragische Mengenausweitung im Schweizer Gesundheitssystem
Arztpraxis, Wartezimmer, Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv.

Wie jedes Jahr ging auch diesen Herbst der Schrecken steigender Krankenkassenprämien durch die Medien. Wie einem Gesetz folgend steigen die Prämien seit Jahrzehnten jährlich um 4 bis 6 Prozent.

Angesichts dieses rasanten Wachstums dürfte es die meisten Leute überraschen, dass das aktuell geltende Tarifsystem (Tarmed) der Praxisärzte seit der Einführung 2004 kaum der Teuerung angepasst worden ist. Sage und schreibe zwei Jahrzehnte lieferten sich die Tarifpartner (Ärzte-, Spital- und Krankenkassenverbände) ergebnislose Grabenkämpfe, während einzig der Bundesrat einige wenige direkte Eingriffe vornahm. Die Frustration darüber unter den Ärzten ist gewaltig, zumal die Tarife den Arbeitsalltag der Ärzte bestimmen.

Dieses Jahr hat sich der Bundesrat nun zur Genehmigung des neuen Tarifsystems Tardoc mit Einführung 2026 durchgerungen. Ob dies den längst fälligen Teuerungsausgleich und eine angemessenere Honorierung der Grundversorger bringen wird, ist jedoch fraglich. Schliesslich gilt das politische Gebot der «Kostenneutralität», was bedeutet, dass der neue Tarif nicht zu Kostensteigerungen führen darf. Die steigenden Prämien sind also Ausdruck einer Mengenausweitung der Kassenleistungen, nicht von steigenden Preisen.

Die Vorlage zur einheitlichen Leistungsfinanzierung (Efas), die am 24. November in der Volksabstimmung angenommen wurde, fokussiert auf die gleiche Frage wie zahlreiche Reformversuche davor, nämlich welcher Drittfinanzierer (Staat, Kanton oder Krankenkasse) welchen Anteil finanzieren soll. Doch die Grundannahme des Versicherungszwangs und die Drittfinanzierung wird nie in Frage gestellt.

Die perfekte Bühne für Hypochonder

Im Gesundheitssystem herrscht die klassische «Tragik der Allmende». Bei einem gemeinsamen Ressourcenpool (Weide) hat jeder (Hirte) den Anreiz, seinen Nutzen zu maximieren, was langfristig zur Übernutzung und Erschöpfung der Ressourcen führt. Jeder will ein Stück vom Kuchen.

«Selbstbedienungsladen Tarmed» oder «Hesch-mir-gisch-mir-Medizin» sind gängige Ausdrücke, um diese drittparteifinanzierte Medizin zu beschreiben. Der Versicherungsjargon spricht von «Moral Hazard» (moralische Versuchung): Aufgrund der Versicherungsdeckung haben Patienten und Leistungserbringer einen Anreiz, möglichst viele Leistungen zu konsumieren beziehungsweise zu erbringen – denn am Ende bezahlt die Allgemeinheit.

«Aufgrund der Versicherungsdeckung haben Patienten und
Leistungserbringer einen Anreiz,
möglichst viele Leistungen zu konsumieren
beziehungsweise zu erbringen – denn am Ende bezahlt die Allgemeinheit.»

Ärzte und Spitäler können lukrative Tarife gezielt kapitalisieren und hochskalieren: besser viele kurze Konsultationen als wenige lange, lieber noch eine zusätzliche Ultraschalluntersuchung. Die Notfallpraxis spezialisiert sich auf den Notfall-Tarif, in der Walk-in-Praxis warten Fachärzte auf niederschwellige Termine.

Wer da noch ehrlich geschäftet, wird zum Systemtrottel. Ökonomisierung bedeutet hier eine Mengenausweitung auf Kosten Dritter – für Liberale ein bizarres Missverständnis.

Aus nah und fern lockt diese Weide immer neue Hirten an, denn in anderen Ländern herrscht Pauschalvergütung oder Staatsmedizin. Seit Jahren kommen auf jeden fertig ausgebildeten Schweizer Mediziner etwa drei neuzugelassene Ärzte aus dem Ausland. Auch diese «Importärzte» folgen bald eher der moralischen Versuchung als einer hippokratischen Ethik.

Natürlich gibt es die hehren Gebote des WZW (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit) als Bedingung der Kostenübernahme durch die obligatorische Krankenversicherung (OKP) und Gegenregulierungen wie Wirtschaftlichkeitsüberprüfungen, um teure Ärzte zu disziplinieren. Aber auch hierfür gibt es wieder Gegenmassnahmen. Eine klassische Regulierungsspirale.

All dies sind Folgen des Versicherungszwangs und administrierter Preise (Tarife) – nach klassisch marxistischer Arbeitswerttheorie. Das betriebswirtschaftlich berechnete Tarifsystem solle die heutige Medizin «sachgerecht abdecken» und die Leistungen «gemäss Kostendaten abbilden», schreibt der Ärzteverband FMH. Was sachgerecht ist, entscheiden die Experten der Tarifkommission. Aber das Grundprinzip ist klar: Das Geld anderer Leute auszugeben ist einfach, Medizin ohne Kostenrestriktionen zu praktizieren eigentlich auch.

Unbequem dagegen ist es, über die medizinische Notwendigkeit von Leistungen zu diskutieren. Der Ermessensspielraum ist oft grösser, als das klassische Diagnostik-Therapie- Modell glauben lässt. Macht der Patient genügend Druck, bekommt er seinen Wunsch schon erfüllt, im Zweifel halt beim nächsten Arzt. Und wer verliert schon gern Patienten? «Unser Gesundheitswesen bietet dem Hypochonder die perfekte Bühne», brachte es ein Arztkollege kürzlich auf den Punkt. Umgekehrt gerät also fast jeder unter den Generalverdacht der Überarztung.

Die Politik soll’s richten

Hoffnungslos verfahren ist also das Ganze. Aber wieso eigentlich?

Ökonomen erklären, das Gesundheitswesen sei eben kein Markt, da es zum Marktversagen komme. Deshalb müsse das System über das Dreieck Patient, Leistungserbringer und Drittfinanzierer (Staat oder Versicherung) funktionieren. Somit werde allen der Zugang zur gleichen Versorgung gewährt, über Versicherungszwang und kontrollierte, für alle einheitliche Preise.

Das ist auch aus Sicht der Ärzte bequemer. Welcher Arzt möchte schon seine Patienten um Geld bitten? Über die Notwendigkeit von Tests diskutieren? Man überlässt das lieber der Versicherung, auch wenn man sich dadurch zum «Leistungserbringer» für diesen unsichtbaren Dritten degradiert, mit all den bürokratischen Auflagen, die damit verbunden sind. Die Politik soll’s richten. Wer mit Ärzten über dieses Thema spricht oder Verbandszeitschriften liest, dem wird schnell klar, dass Ökonomik keinen guten Ruf bei Ärzten hat. Profitdenken lasse sich eben nicht mit Gesundheitsversorgung vereinbaren, heisst es.

Diese Argumentationslogik wurde an anderer Stelle kritisch analysiert.1 Doch stimmen die Grundannahmen in der Praxis überhaupt?

Grundversorgung ohne Versicherung

Gegen die Idee der privatwirtschaftlichen Medizin wird gerne das Beispiel USA ins Feld geführt. Dort seien die Kosten übermässig hoch und die Patienten schlecht bedient. Wer genauer hinsieht, erkennt allerdings, dass auch dort Drittfinanzierer, namentlich Versicherungen mit übermässiger Verhandlungsmacht und Eigeninteressen, ihre Finger im Spiel haben.

Das Gesundheitssystem in den USA ist sehr vielfältig, und über die Gründe des nicht optimal funktionierenden Versicherungswettbewerbs liesse sich lange diskutieren. Das hervorstechendste Merkmal der USA ist jedoch, dass es keinen Versicherungszwang für Privatpersonen gibt. Diese Nische haben sich amerikanische Ärzte zunutze gemacht, um den Drittparteien zu entkommen. Direct-Primary-Care (DPC) nennt sich der alternative Ansatz der primären Grundversorgung, bei dem Patienten direkt mit ihrem Hausarzt zusammenarbeiten, ohne auf traditionelle Krankenversicherungen zurückzugreifen. Statt pro Besuch oder Dienstleistung zu zahlen, leisten die Patienten eine monatliche oder jährliche Mitgliedsgebühr, die eine Reihe von Grundversorgungsleistungen abdeckt. So haben sie direkten Zugang zu ihren Ärzten, kürzere Wartezeiten und längere Konsultationen.

«Das hervorstechendste Merkmal der USA ist jedoch, dass es keinen
Versicherungszwang für Privatpersonen gibt.»

Der Ansatz verringert den Verwaltungsaufwand für die Ärzte, da sie nicht mit Versicherungsträgern abrechnen müssen, was den DPC-Ärzten mehr Zeit für die Patienten gibt. Sie verhandeln direkt mit Laboren, Apotheken oder Radiologiedienstleistern, um für ihre Patienten günstigere Preise für Tests, Medikamente und andere Leistungen zu erhalten. Diese direkten Verhandlungen ohne die Beteiligung von Versicherungen ermöglichen häufig erhebliche Rabatte. Für diesen relativ neuen Trend haben sich bisher rund 250 000 Patienten und 2000 Arztpraxen entschieden.

Ärzte verhandeln über Tarife technischer Leistungen von Dienstleistern, damit ihre Patienten günstiger davonkommen? Reine Häresie für die Gläubigen der Drittparteifinanzierung …

Armutsrisiko teure Operation?

Aber was ist mit den richtig teuren Eingriffen? Auch hier möchte ich ein interessantes, für Europäer undenkbares Beispiel erläutern. Das Surgery Center of Oklahoma ist eine ambulante chirurgische Einrichtung, die für ihre Preistransparenz und innovative Herangehensweise an die Gesundheitsversorgung bekannt ist. Das Zentrum bietet eine Vielzahl von chirurgischen Eingriffen zu fixen Preisen an, die im Voraus online veröffentlicht werden. Es verzichtet auf Versicherungsabrechnungen und hält die Verwaltungskosten gering, wodurch die Gesamtkosten für die Patienten erheblich niedriger sind. Das Surgery Center ist so zu einer Vorreiterin für Preistransparenz und gegen übermässige Kosten im amerikanischen Gesundheitssystem geworden.

Es gibt weitere Kliniken, die eine vergleichbare Philosophie verfolgen: Preistransparenz, Direktzahlung und die Reduzierung der Abhängigkeit von Versicherungen. Diese «Cash-only»- oder «Direct-Care»-Einrichtungen bieten feste, im Voraus veröffentlichte Preise für chirurgische Eingriffe und medizinische Behandlungen an. Sie sind Teil einer grösseren Bewegung, die versucht, die Ineffizienzen und hohen Kosten des amerikanischen Gesundheitssystems zu umgehen. Sie setzen auf transparente Preisgestaltung, direkte Arzt-Patienten-Beziehungen und eine Minimierung des Verwaltungsaufwands, der mit Versicherungen oft verbunden ist. Im Vergleich mit herkömmlichen Kliniken schneiden sie 50 bis 70 Prozent günstiger ab.

Wenn durch Wettbewerb medizinische Leistungen günstiger werden, nehmen auch die Fälle enorm hoher Kosten ab und damit die Notwendigkeit eines Drittfinanzierers. Das Prinzip lautet Wettbewerb und nicht Umverteilung oder Pooling von Risiken.

«Wenn durch Wettbewerb medizinische Leistungen günstiger werden, nehmen auch die Fälle enorm hoher Kosten ab und damit die
Notwendigkeit eines Drittfinanzierers.»

Für die wirklich teuren unvorhergesehenen Fälle existiert weiterhin die Option von Hochrisikoversicherungen, in Kombination mit steuerlich absetzbaren Gesundheitssparkonten (Health Savings Account). Statt die Prämie in ein Umlageverfahren einzuzahlen wie in der Schweiz, können die Versicherten also einen Teil selbst ansparen und erst noch von den Steuern abziehen.

Tocquevilles mahnende Worte

Die genannten Beispiele sprechen dafür, dass die Bedeutung der Drittparteifinanzierung in der medizinischen Versorgung überschätzt wird. Zahlreiche medizinische Leistungen können privatwirtschaftlich zu freien Preisen angeboten werden, auch ohne Versicherungszwang und zentralistisches Tarifsystem. Der stetig wachsende Koloss des OKP-finanzierten Gesundheitswesens fusst auf dem Dogma des Gesundheitsmarktversagens. Dieses führt über Versicherungszwang und Preiskontrolle zu Mengenausweitung, Gegenregulierung, unendlichen Reformdiskussionen und Tarifverhandlungen.

«Zahlreiche medizinische Leistungen können privatwirtschaftlich zu freien Preisen
angeboten werden, auch ohne Versicherungszwang und zentralistisches Tarifsystem.»

Dieses immer enger werdende Netz an Vorschriften gibt zwar allen Zugang zu medizinischen Leistungen, aber eben auf Kosten von Effizienz und Innovationskraft. Der Blick für die Wertschöpfung geht leicht verloren und Opportunismus macht sich breit. Verbände und Tarifpartner sind schwer zu durchschauen. Schliesslich haben sie Eigeninteressen und ihre Lobbyisten.

Das Ganze erinnert ein wenig an Alexis de Tocqueville, der einst über den sanften Despotismus schrieb: «Der Wille des Menschen wird nicht gebrochen, sondern aufgeweicht, gebogen und gelenkt; die Menschen werden durch sie selten zum Handeln gezwungen, aber ständig daran gehindert. Eine solche Macht zerstört nicht, aber sie verhindert die Existenz; sie tyrannisiert nicht, aber sie verdichtet, entnervt, löscht aus und verblödet ein Volk, bis jede Nation zu nichts Besserem als einer Herde ängstlicher und fleissiger Tiere reduziert ist, deren Hirte die Regierung ist.» 2

Vor seinem inneren Auge war wohl bereits das heutige Schweizer Gesundheitssystem.

  1. Siehe zum Beispiel: Pierre Bessard und Olivier Kessler: Zu teuer! Warum wir für unser Gesundheitswesen zu viel bezahlen. Edition Liberales Institut, 2019. Pierre Bessard und Alphonse Crespo: Heilung für das Gesundheitswesen. Edition Liberales Institut, 2013.

  2. Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. 1835, Band II, Buch 4, Kapitel 6.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!