In Brügge mit Aortariss
«Am ersten seiner fünf letzten Tage sass Jensen an seinem Pult, und draussen stand eine Kutsche im Regen», so fängt der erste Kriminalroman des vor allem für seine pfiffigen Kolumnen bekannten Linus Reichlin an. Wie bitte? Nein, Jensen ist Polizist in Brügge und stirbt noch nicht! Vielmehr steht er vor der Frühpensionierung, da er sich […]
«Am ersten seiner fünf letzten Tage sass Jensen an seinem Pult, und draussen stand eine Kutsche im Regen», so fängt der erste Kriminalroman des vor allem für seine pfiffigen Kolumnen bekannten Linus Reichlin an. Wie bitte? Nein, Jensen ist Polizist in Brügge und stirbt noch nicht! Vielmehr steht er vor der Frühpensionierung, da er sich ganz seinem Hobby, der Atomphysik, widmen möchte. Dafür fällt alsbald der Kutscher vom Bock und ist tot. Dieser erste Todesfall hinwiederum, so viel sei verraten, bleibt für den Roman völlig ohne Konsequenz. Nachdem wir also gehörig verwirrt worden sind, meldet sich Brian Ritter, ein amerikanischer Alkoholiker auf Weltreise mit seinen zwei zehnjährigen Söhnen, bei der Polizei und gibt an, er werde bedroht.
In der Befragung durch Jensen äussern die Knaben den sehnlichen Wunsch, ihr Vater, unter dem sie unsäglich leiden, möge durchs Gebet den Tod finden. In der Nacht darauf wird Ritter auf der Strasse tot aufgefunden. Sein Tod, Aortariss ohne nachweisbare äussere Einwirkung, ist ein Rätsel und bleibt sogar für Belgiens besten Pathologen merkwürdig. Und weil gleichzeitig mit Ritters Tod die beiden Jungen aus dem Hotel verschwunden sind, nehmen wir mit Jensen die Spur auf. Aber nicht nur wir, es meldet sich bei Jensen auf die Zeitungsmeldung hin auch eine ausnehmend schöne Frau, Annick O’Hara, die ihn durch einen entscheidenden Hinweis auf die richtige Spur lenkt und sich, weil blind, kurzerhand von ihm nach dem Süden der Vereinigten Staaten und nach Mexiko begleiten lässt.
Warum sie sich auf die Suche nach der jungen mexikanischen Gesundbeterin und Heilerin begibt, die höchstwahrscheinlich die beiden Jungen entführt hat, erfahren wir freilich nicht; wir wundern uns nur mit Jensen über die Zähigkeit der Begleiterin, der jedes Mittel recht ist, um zu ihren Informationen zu kommen, und die sich durch nichts von ihrem Ziel abbringen lässt. Erst eine Klapperschlange…
Doch auch Jensen selbst gibt uns zu denken. Ist es möglich, einen Menschen durch Beten zu heilen – oder zu töten? In ihm kämpft eine dementsprechende Kindheitserfahrung mit dem Atomphysiker, und auch wir werden im Laufe des Romans Zeugen von Vorgängen, die uns an den Naturgesetzen zweifeln oder zumindest in uns den Wunsch aufkommen lassen, es möge doch solche – ins Positive und vielleicht auch ins Negative zielenden – Erscheinungen der anderen Art nun ebenfalls geben.
Die beiden Welten treffen sich in der Predigt, die der beschwipste Jensen dem aufmerksamen Wirt Conzales über die Relativität der Naturgesetze im subatomaren Bereich hält («das Wirkliche ist weniger real als das Mögliche»), und gegen Ende in dem schönen Gespräch zwischen Jensen und der Heilerin über Unordnung und Ordnung, Entropie und die starke Kernkraft. Und dass die Protagonisten des Romans einander doch nicht wie die Heliumatome begegnen, nehmen wir ganz zum Schluss gerne zur Kenntnis. Darum scheint es Reichlin in diesem Buch, in dem auch ernsthafte Töne Platz gefunden haben, vor allem gegangen zu sein.
Bei zwei, drei Längen fragt man sich vielleicht, ob sie nötig waren, etwa beim Exkurs über die Pathologie, der dem geneigten Leser schon etwas den Appetit nehmen kann, oder bei der abstossenden Redeweise des Sheriffs eines Provinzkaffs in den Südstaaten, dessen Rechtfertigung des Rauchens im Dienstzimmer unsere Laune freilich gleich wiederherstellt: «‹Ist eigentlich verboten›, sagte Caldwell und zündete sich eine Zigarette an. ‹Ich muss einschreiten, wenn jemand in meinem Distrikt in einem öffentlichen Raum raucht. Aber ich schreite immer erst ein, wenn sie zu Ende geraucht haben. Wenn ich das bei mir selbst anders handhaben würde, wäre das Diskriminierung. Und die ist auch verboten.›»
Die Produktion des Buches (in dem sich immerhin S. 125f. einer aufgrund der Aufschrift «Wellcome» von der Qualität eines Motels seine Meinung macht!), könnte etwas sorgfältiger sein. Der Freund einer sprachrichtigen und einheitlichen deutschen Orthographie lächelt jedenfalls über die Kombination von behände (S. 21) und aufwendig (u.a. S. 43), die zwar amtlich richtig, aber sprachlich falsch ist, und runzelt darüber, dass die Krankheit Fasciitis necroticans ab S. 167 mit Beharrlichkeit Fascitiis necroticans heisst, seine Stirn. Aber solches geht nicht zu Lasten des Autors und beeinträchtigt das Lesevergnügen nur minimal.
vorgestellt von Rudolf Wachter, Basel/Lausanne
Linus Reichlin: «Die Sehnsucht der Atome». Kriminalroman. Berlin: Eichborn, 2008.