In bester eidgenössischer Tradition
Der freie Personenverkher als Herausforderung
Zu den liberalen Errungenschaften, die dem schweizerischen Bundesstaat zu politischer Stabilität und wirtschaftlichem Erfolg verholfen haben, gehört wesentlich die Niederlassungsfreiheit. Sie ist nicht nur ein Individualrecht, das persönliche Freiheit und Entfaltung ermöglicht, sondern gleichzeitig ein grundlegender Bestandteil der Wirtschaftsfreiheit, die den freien Handel und Austausch im ganzen Gebiet der Eidgenossenschaft gewährlei-stet. Die uns heute so selbstverständlich erscheinenden Prinzipien wurden mit der Bundesverfassung von 1848 gegen heftigen Widerstand und lediglich mit knapper Mehrheit erkämpft. Und schon damals war es eines der vordringlichsten Ziele schweizerischer Politik, die Handelsschranken gegenüber dem Ausland abzubauen und der schweizerischen Wirtschaft die Tore zur Welt zu öffnen. Der Freizügigkeit über die Grenzen hinaus hat die Schweiz ihren Wohlstand zum grössten Teil zu verdanken.
Es mag hilfreich sein, an diese Binsenwahrheiten zu erinnern, wenn man den sehr früh lancierten Abstimmungskampf um die Ausdehnung des Personenverkehrsabkommens mit der EU auf die neuen EU-Länder betrachtet. Die Ängste sind fast mit Händen zu greifen. Auf der einen Seite stehen Befürchtungen, dass mit der zusätzlichen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt Löhne gedrückt und eigene Arbeitsplätze gefährdet würden und generell eine weitere Einwanderungswelle drohe. Auf der anderen Seite steht die grosse Sorge, dass mit dem Scheitern dieser emotional aufgeladenen Vorlage die Chancen der Personenfreizügigkeit für die Schweizer Wirtschaft empfindlich beeinträchtigt und generell das hart erarbeitete bilaterale Vertragswerk mit der EU, mit möglicherweise weitreichenden Auswirkungen, beschädigt würde. Mit entsprechend grossem Aufwand wird die Auseinandersetzung geführt, und um die Sozialpartner ins Boot zu holen, wurden die flankierenden Massnahmen gegen Lohn- und Sozialdumping verschärft, allerdings um den Preis zusätzlicher staatlicher Regulierungen und Kontrollen auf dem Arbeitsmarkt. Auch gelten für die neuen EU-Länder noch längere Übergangsfristen und noch strengere Schutzklauseln als für die bisherigen.
Es besteht die begründete Hoffnung, dass der Schweizer Souverän am 25. September einmal mehr nüchtern und pragmatisch rechnend die materiellen Vorteile höher gewichten wird als diffuse Ängste. Aber man wird sich mit gefährlichen Trugschlüssen intensiv auseinandersetzen müssen. Der eine ist in einem Verfahren angelegt, der das einmal gutgeheissene Personenverkehrsabkommen immer wieder Referenden aussetzt und damit die Illusion weckt, wir könnten gewissermassen à la carte aus den abgeschlossenen Vereinbarungen auswählen. Die Schweiz hat das Potential bilateraler Verhandlungen mit den beiden bisher geschnürten Paketen in hohem Masse ausgeschöpft. Dass einseitige Abstriche an eingegangenen Verpflichtungen ohne Folgen blieben, ist nicht anzunehmen. Genau genommen steht ja nicht einfach die Erweiterung eines Abkommens zur Debatte, sondern das Abkommen mit der – inzwischen erweiterten – EU insgesamt. Mit einem Nein wäre die Personenfreizügigkeit aufgekündigt, was der Schweizer Wirtschaft erheblich schaden würde. Die Abschottung des Arbeitsmarktes – das wäre die zweite Illusion – würde Arbeitsplätze nicht sichern, sondern gefährden. Und drittens könnte ein Einbruch auf dem bilateralen Weg, der aufgrund der Verknüpfung der verschiedenen Abkommen noch gravierendere Auswirkungen haben dürfte, gerade für EU-Skeptiker letztlich zum Bumerang werden, wenn die Schweiz für ihr wirtschaftliches Überleben zuletzt zu einem Beitritt gezwungen würde.
Im Grunde aber geht es um die eingangs geschilderte historische Erkenntnis, dass freier Austausch das beste Rezept für wirtschaftliches Gedeihen und damit auch für politische Eigenständigkeit ist. Freier Handel und freier Personenverkehr sind die wesentlichen Bestandteile jenes Integrationskonzepts, das die Schweiz für die europäische Zusammenarbeit stets bevorzugt und seinerzeit mit der Efta und dem Freihandelsabkommen mit der EWG verfolgt hat. Es ist nicht die – derzeit ohnehin umstrittene – politische Dimension der Europäischen Union, die hier zur Debatte steht. Vielmehr geht es um die Chance, an der Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung im grösser gewordenen europäischen Wirtschaftsraum teilzuhaben, ohne die politische Unabhängigkeit aufs Spiel zu setzen. Dass dabei vor allem interne Schutzbarrikaden überwunden werden müssen, bezeichnet die Herausforderung des kommenden Urnengangs. Aber das war schon 1848 so. Und wie damals wird es sich lohnen.
Ulrich Pfister, geboren 1941, ist Publi-zist und lebt in Zürich.