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Immer wieder Thomas Mann

Erinnerungen an die Leseerlebnisse des Heranwachsenden und an Reisen ins bücherbegeisterte Ausland. Ein persönlicher Rückblick auf Begegnungen mit Thomas Mann in Portugal, Spanien, Lateinamerika und der Schweiz während der letzten 50 Jahre.

Immer wieder Thomas Mann – wenn es um die Präsenz der deutschsprachigen Literatur im nichtdeutschsprachigen Ausland geht, fällt bald, wenn nicht zuerst, der Name Thomas Manns. Es bestätigt sich immer wieder, dass er der deutsche Autor ist, der als erster Weltgeltung erlangte, womit nicht Rang gemeint ist, sondern Resonanz. Die deutschschreibenden Autoren des 19. Jahrhunderts, ob Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller oder Theodor Fontane, von Jean Paul gar nicht zu reden, wurden nicht zu gängigen Namen der Weltliteratur. Was die Prosa betrifft, blieb Goethe der Verfasser des «Werthers», als Autor der «Wahlverwandtschaften» wurde er von der Allgemeinheit nicht wahrgenommen.

Dass aber in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts auch Thomas Mann zunächst nur eingeschränkt und sporadisch aufgenommen wurde, dafür bietet Portugal ein Beispiel. Thomas Mann erlangte hier nicht in erster Linie als Schriftsteller Anerkennung, sondern als Intellektueller, als Vertreter eines demokratischen Humanismus. Als erste portugiesische Übersetzung erschien 1941 «Tristan», doch zu einer wirklichen Diskussion über Thomas Manns Werk kam es erst viel später, in der Nachkriegszeit, bei der Übersetzung des «Zauberbergs» 1952. Als Vorlage diente übrigens eine brasilianische Ausgabe, die der portugiesischen Sprachnorm angepasst wurde. Dass das Buch seinen Stellenwert behalten hat, mag man daraus ersehen, dass es anlässlich der Weltausstellung 1998 in Lissabon unter den «Hundert Büchern unseres Jahrhunderts» aufgeführt wurde. Ab 1955 folgten die Übersetzungen von «Felix Krull», der Joseph-Tetralogie und von «Der Erwählte».

Die Rezeption von Thomas Mann spiegelt ein Kapitel portugiesischer Geistesgeschichte. Es war die Zeit des totalitären Regimes Salazars, in der man stets mit der Zensur zu rechnen hatte. Wenn zum Beispiel die liberal-demokratische Zeitschrift «Sera nova» (Neue Saat) Manns «Rede vor Arbeitern in Wien» unter dem Titel publizierte «Appell an das deutsche Volk», handelte es sich bei dieser Änderung des Titels nicht um eine stilistische Korrektur, sondern um eine politische. Das Wort «Arbeiter» hatte bereits einen kommunistischen Klang und hätte Zensoren hellhörig gemacht. Thomas Mann diente als Anlass, um von Dingen zu reden, die man selber nicht direkt anzugehen wagte. Einblick in diese Situation vermittelt die Studie von Maria Teresa Delgado Mingocho, «Thomas Mann in den portugiesischen Zeitschriften der 30er und 40er Jahre». Doch Thomas Mann wurde auch mit Kritik bedacht. Die Neorealisten forderten von den Schriftstellern politisches Engagement. Autoren wie Proust, Gide oder Joyce und eben Thomas Mann galten als Vertreter einer individualistischen, psychologischen Kunst, deren politischer Unverbindlichkeit sie Brasilianer wie Jorge Amado und Lins do Rego, oder Maxim Gorki entgegenhielten. Wir stehen also vor einer widersprüchlichen Situation: der gleiche Autor konnte als Schönschreiber abgelehnt werden und zugleich als Vertreter eines demokratischen Humanismus Anerkennung finden.

Ungewohnt dürfte sein, dass von Thomas Mann nicht Übersetzungen der Originaltexte gelesen wurden, sondern Übersetzungen von Übersetzungen. Die meisten Zitate in den portugiesischen Zeitungen und Zeitschriften wurden aus dem Französischen übertragen. Zu welchen Umwegen es dabei kam, lässt sich mit dem Bericht über den Vortrag «Vom kommenden Sieg der Demokratie» illustrieren, den Thomas Mann 1938 in 15 amerikanischen Städten hielt. Dieser Bericht wurde von der portugiesischen Zeitschrift «Sera nova» gedruckt, die ihn von einer brasilianischen Zeitschrift übernahm, der ihrerseits als Vorlage die amerikanische Zeitschrift «Life» diente. Diese indirekte Kenntnisnahme lässt sich damit erklären, dass sich Portugal intellektuell und kulturell seit Beginn des 19. Jahrhunderts an Paris orientierte und somit kaum eine unmittelbare Beziehung zum deutschen Kulturraum pflegte. In dieser Hinsicht war Brasilien offener. Die erste Übersetzung eines Werkes von Thomas Mann in Buchform erschien in Brasilien 1934, in Portugal erst sieben Jahre später.

Im Unterschied zu Portugal hatte Spanien intensive Beziehungen zum deutschen Kulturraum, nicht zuletzt deshalb, weil im 19. Jahrhundert die deutsche Philosophie den Lehrplan der Universitäten bestimmte. Sehr früh, ab 1920, wurden Thomas Manns Werke in Spanien publiziert. Anfang der fünfziger Jahre erschien die erste spanische Gesamtausgabe in drei Bänden. Ähnlich war die Situation in den ehemaligen spanischen Kolonien. Alexander von Humboldt, der den Ehrentitel erlangte, der zweite Entdecker Lateinamerikas zu sein, hatte das lateinamerikanische Interesse für die deutschsprachige Kultur geweckt. Es war das europäide Lateinamerika, das sehr bald auf die Werke Thomas Manns mit Übersetzungen reagierte, wie Argentinien und Chile. Auch heutzutage findet im ibero-amerikanischen Raum kaum eine Tagung statt, bei der Thomas Mann nicht präsent wäre. Erstaunen mag aber, dass Mexiko nicht auf der Übersetzungsliste figuriert, die Inter Nationes (Bonn) 1965 zusammengestellt hat. War Mexiko doch ein wichtiger Schauplatz für die deutsche Emigration, wenn man etwa an Anna Seghers denkt. Neben den Reportagen von Kisch und den Romanen von Traven erlangte kaum ein deutscher Emigrantenschriftsteller mit seinen Werken einen festen Platz. Wenn überhaupt ein deutscher Autor zur Diskussion stand, dann war es Thomas Mann. Und dies dank mexikanischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die sich ausdrücklich zu diesem Autor und seinem Werk bekannten. Hier wäre vor allem Rosario Castellanos zu erwähnen, eine der wichtigsten Autorinnen Lateinamerikas, die mit «Die neun Wächter» bekannt geworden ist. Auch Sergio Pitol bekennt, dass Mann der wichtigste deutsche Autor für ihn sei.

Immer wieder Thomas Mann – auch, was das eigene Lesen und Schreiben betrifft. Die erste Begegnung mit ihm war die Schullektüre «Tonio Kröger». Es war keineswegs selbstverständlich, dass man in der Deutschstunde einen zeitgenössischen Autor las. Die Geschichte von Tonio Kröger kam unserer pubertären Empfindungswelt entgegen. Jeder von uns war ein Tonio Kröger und zugleich ein blonder blauäugiger Hans Hansen. Jeder spürte in sich einen Dichter, und jeder diskutierte darüber, was für einen Beruf er dereinst wählen würde, und jeder fühlte sich vom einen zum andern hingezogen. Wir erlebten die ganze poetische Ambivalenz von Jünglingsfreundschaften – «die verführerische Banalität, den verirrten Bürger, die heilende Wirkung der Literatur, frei vom Fluch der Erkenntnis und der schöpferischen Qual» oder was wir uns sonst im Text angestrichen hatten.

Nie aber wäre in diesem Zusammenhang auch nur andeutungsweise auf Homosexualität hingewiesen worden. Das änderte sich mit dem «Tod in Venedig». Man musste jedoch diese Novelle nicht vordergründig als Liebe eines älteren Mannes zu einem Jüngling lesen. Man konnte sie als Geschichte von der Sehnsucht nach dem Schönen verstehen, die zugleich eine Todessehnsucht ist, einer Schönheit, der Visconti mit seiner Verfilmung zu einem ästhetischen Bild verhalf. Deutlicher wurde die Thematik der Homosexualität mit dem Erscheinen der Tagebücher. Seitdem wird mit Thomas Mann die Emanzipation der Homosexualität als exemplarische Figur jener Liebe verbunden, die nicht wagt, ihren Namen zu nennen.

In diesem Zusammenhang muss an André Gide erinnert werden, der das Tagebuch als literarische Gattung begriff, nicht als Wahrheitsdepot für kommende Zeiten, sondern als aktuelles Zeugnis. Das «Journal intime» als ein Sich-Ausliefern. Wahrheit ist nichts Ewiges, sondern ist immer mit ihrem Zeitpunkt verbunden. Man darf in dem Zusammenhang Thomas Mann zu seinen Stichworten «Aufrichtigkeit» und «Wahrheitspreisgabe», aus seiner Rezension von Gides «Si le grain ne meurt» zitieren: «Die Offenherzigkeit, so geistig und moralisch sie betont war, konnte nicht verfehlen, skandalös zu wirken in einem Lande, das nur zögernd von der Gewohnheit lässt, in der Literatur einen Salon zu sehen. Und doch hat man es erlebt, dass die Bekenntnisse des anstössigen Schriftstellers, mässig gekürzt, in einer Volksausgabe gewaltigen Umfanges auf den Markt gebracht wurden: Sieg des geistigen Prinzips über das gesellschaftliche, Beispiel einer das Konventionelle unter sich lassenden literarischen Autorität.»

In die gleiche Zeit fiel auch meine Lektüre von Golo Manns «Friedrich von Gentz». Eine Biographie, die mich irritierte, weil ich für eine Person, deren Weltbild mir gar nicht passte, durch die Lektüre Verständnis aufbrachte. Die Fähigkeit, Geschichte zu schreiben, zeigte sich auch an den folgenden Werken des Autors, begabt für das Erzählen von Geschichten und das Gestalten von Figuren. Berühmt wurde er mit seiner Biographie Wallensteins.

Gentz und der Wiener Kongress, Gide und die europäische Krise – diese Lektüre fiel in meine Jahre als Gymnasiast und Student in den ersten Semestern. Es waren Jahre der besessenen und gierigen Lektüre. Erst die Nachkriegsjahre brachten eine intellektuelle Öffnung mit sich. Es war die Zeit, in der man von der Stunde Null sprach, eine Zweckterminologie, von der manche profitierten, da es in ihren Bibliographien nun keine Titel mehr gab, die unter den Nazis veröffentlicht worden waren. An der deutschen Literatur aber war nach 1933 weitergeschrieben worden, im Exil zum Beispiel. Nach 1945 war es möglich, von diesen Werken Kenntnis zu nehmen.

1947 erschien Thomas Manns «Doktor Faustus». Es war für mich eines der ersten grossen Lektüreerlebnisse. In der Erinnerung blieb: die Thematik von Genie und Wahnsinn und die Frage, ob es für die eigene kommende Genialität unbedingt die Syphilis braucht; eine Erzählform, wie ich sie bisher nicht gekannt hatte, die epische Brechung durch einen Erzähler, der selber zur Romanfigur wurde. Es war zu diesem Zeitpunkt nicht die einzige Begegnung mit dem, was deutsche Sprache sein konnte. Greifbar war auch ein Buch, das der Querido Verlag 1935 in Amsterdam veröffentlichte, «Die Jugend des Königs Henri Quatre» von Heinrich Mann, eine faszinierende Entdeckung, dem die «Vollendung des Königs Henri Quatre» folgen sollte. Von Heinrich Mann kam damals ebenfalls «Ein Zeitalter wird besichtigt» heraus; auf miesem Papier gedruckt, war es die erste Autobiographie der Familie Mann, die ich las und die mich einnahm, weil hier das Familiäre stets im zeitgeschichtlichen Kontext dargestellt wurde.

Im gleichen Jahr wie «Doktor Faustus» erschien «Der Tod des Vergil» von Hermann Broch, eine Romandichtung, wie der Autor sagte, jedenfalls in ungewohnter Erzählweise, völlig anders als im «Doktor Faustus», die Verbindung von Wissen und Darstellung, nicht leicht einnehmend, aber verführend bis zum Ende, ein historischer Roman von aktueller Bedeutung mit seinem Thema des späten Bürgertums und dem Absterben der alten religiösen Formen, der Kritik des Ästhetischen, das vor den Lebenstatsachen versagte.

Thomas Mann, Heinrich Mann, Hermann Broch und dann, zwei Jahre nach «Doktor Faustus» und «Der Tod des Vergil», die Prosa eines Lyrikers, «Der Ptolemäer» und «Der Phänotyp» von Gottfried Benn («dort die Welt in ihrem denkerischen Zerfall, und hier das Ich mit seinem geschichtlichen Versagen»). Und im gleichen Jahr von Ernst Jünger «Heliopolis» (man sollte über solche Dinge nur urteilen, wenn man sie ausgestanden hat). Für die Zusammenstellung dieser Autoren hatte ich mich zu entschuldigen, aber die Anerkennung ihrer Bücher schloss das moralische Urteil nicht aus. Man schärfte sich den Blick für Autobiographien, für das «Zeitalter» eines Heinrich Mann wie für die «Strahlungen» eines Ernst Jünger oder für das bald folgende «Doppelleben» von Gottfried Benn. Ich suchte meinen eigenen Weg in die Literatur, orientierte mich über die Möglichkeiten deutscher Ausdrucksweise, nicht um Vorbilder bemüht, im Gegenteil, wissbegierig, wie und was geschrieben wurde und somit noch als terra incognita fürs Eigene übrig blieb.

Trotz den Vorbehalten gegenüber seiner Person, trat die Beschäftigung mit Thomas Mann immer wieder in den Vordergrund: staunend, wie im «Zauberberg» Historisches episch erfasst wurde; vergnügt, wie mit Felix Krull der unbürgerliche Künstler zum Hochstapler wird; stets geniessend, was Thomas Mann selber «die Freude an den Vergnügungen des Ausdrucks» nannte. Und so konnte ich «Der Erwählte» geradezu als Anleitung lesen, wie man in Sprachen schlüpfen kann.

Ein Stichwort führte mich immer wieder auf Thomas Mann zurück: die Ironie. Thomas Mann beschliesst «Die Betrachtungen eines Unpolitischen» mit dem Kapitel «Ironie und Radikalismus»: «Der geistige Mensch hat die Wahl, entweder Ironiker oder Radikalist zu sein; ein Drittes ist anständigerweise nicht möglich.» Damit wird ein entscheidender Aspekt der Ironie festgehalten – sie ist ein Mittel, um nicht zu sagen die Waffe, gegen jegliche Absolutheit, ob politischer, moralischer oder religiöser Instanz. Insofern wirkt sie tatsächlich als Korrektur oder als Infragestellung von Radikalismen. Kein autoritäres Regime erträgt Ironie. Insofern ist sie ein Akt der Befreiung. Doch was die Tugend der Ironie ausmacht, kann ihr zum Laster werden. Dann, wenn kein Standpunkt mehr möglich und ersichtlich wird. Ironie ist also in dem Masse legitim, als sie zugleich ihren Standpunkt kundtut. Sie muss sich ihrerseits hüten, nicht selber zu einer Absolutheit zu gelangen. Das ist der Moment, da die Selbstironie zu Wort kommen muss.

Ja, immer wieder Thomas Mann.

Hugo Loetscher, geboren 1929, ist Schriftsteller und lebt in Zürich. Zuletzt erschien von ihm « Bacchus. Kunst für Weinfreunde Wein für Kunstfreunde»(2004).

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