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Immer im Kristall

Die Künstlerin Mai-Thu Perret Antwortbrief an eine Bewohnerin von New Ponderosa, einer autonomen Kommune junger Frauen in der Wüste von New Mexico.*

Immer im Kristall

«Es stimmt, was Sie schreiben: ich war bestürzt über all das, was ich bei meinem kurzen Besuch über New Ponderosa erfahren habe. Doch ich war auch ärgerlich. Dieser Anspruch! Diese Kühnheit! ‹Jede Frau wird die wandelnde Synthese des Universums sein›. Ist das noch zeitgemäss? Ist der Feminismus in seiner radikalen Form nicht längst zu einem Korsett geworden, das wir Frauen eigentlich abschaffen wollten?

Ihre Kommune huldigt der Schlichtheit, den klaren Formen, dem einfachen Körper. Sie schlafen unter freiem Himmel, kochen über dem offenen Feuer, tragen selbstgewebte Gewänder. Sie haben sogar die Uhr abgeschafft! Was Sie «Verdinglichung», «Fetischisierung» und «Entfremdung» nennen: glauben Sie wirklich, all dem auf diese Weise trotzen und dem Kapitalismus entkommen zu können? Dem «Drecksloch», wie ich es in einer Art Bekenntnis las, das ich an einem Pfosten angeschlagen fand? Und selbst wenn es Ihnen und den anderen Frauen gelingen sollte – was sollen denn wir hier draussen tun? Wir können uns doch nicht alle in die Wüste zurückziehen.

Ich ahne, was Sie antreibt. Sie wollen eine neue Grammatik, eine neue Symbolik von Kunst, Kultur und Gesellschaft entwickeln. Sie wollen unsere überladenen Begriffe, Vorstellungen und Konzepte in ihre Bestandteile zerlegen, die Bedeutungsarchive entleeren, nach den unschuldigen Keimen suchen, die sich zu unserer industriellen Gesellschaft ausgewachsen haben. Um dann neu zu beginnen, ähnlich wie ein Kind sprechen lernt. Erst nur ein Lallen, dann einzelne Worte. Der erste Zwei-Wort-Satz gleicht einer Offenbarung. Im dritten Jahr dann vollständige Sätze mit Subjekt, Verb und Objekt. Später die Relativsätze, die Rekursion; schulfähig sind Kinder zu diesem Zeitpunkt. Werden Sie auch den Konjunktiv zulassen? Oder würde es dann zu eng in der «kleinen planetarischen Harmonie», in die Sie mir mit Ihrer so zuvorkommenden Art Zutritt erlaubt haben?

Zuviel Theorie für mein Gefühl: Marx, Engels, die russische Avantgarde, Arts and Crafts Movement, Konstruktivismus, Dekonstruktivismus, Singularisierung, Serialisierung, Individualisierung, Kollektivierung. Ihr Vertrauen hierein scheint gross. Dabei verlassen Sie sich doch gleichzeitig auf einfache Bilder und Geschichten, wie die der Wüstennacht oder der Spinnen. Wie geht das beides zusammen?

Es gibt diesen Satz: ‹Die Grenzen unserer Symbole sind die Grenzen unserer Welt›. Oder so ähnlich. Irgendeiner Art von Symbolen, meine ich, entkommen wir nicht. Und daher gibt es keinen Nullpunkt, keine tabula rasa. Es gibt keinen Standpunkt ausserhalb der Ideologien, der uns einen Überblick, ein Abwägen, eine Auswahl, kurzum Freiheit ermöglichen könnte. Auch nicht auf New Ponderosa. Mit jedem Stein, mit dem Sie Ihre Utopie weiter ausbauen, verstärken Sie deren Grenzen. Aber das wissen Sie ja alles selbst. Und bauen dennoch weiter! Mutig! Respekt! Ich muss aufpassen, nicht euphorisch zu werden. Das bin ich ja auch sonst nicht so schnell. Das muss wohl an dem stimulierenden Pilzgericht liegen, das wir am Abend gegessen haben und dessen Geschmack mir noch immer im Mund nachklingt. Schreiben Sie mir das Rezept?

Das Fest in dieser Nacht war überwältigend. Die farbenreichen Fahnen , die üppigen Blumengirlanden, das apokalyptische Ballett, der hämmernde Beat der Band, die Ekstase, in die wir durch Ihre Rede fielen und die uns all Ihre Bilder, Skulpturen, und Keramiken in einem gleissenden Licht sehen liess.

Sie schreiben mir, die Revolution – ein grosses Wort! – müsse in erster Linie in mir beginnen. Alles weitere sei nichts anderes als die Glasur eines Kuchens. Wir werden darüber reden müssen, was süsser ist, uns besser bekommt, der Kuchen oder die Glasur. Ich werde kommen, wenn Sie mich nochmals einladen, obwohl ich so überstürzt und ohne Abschied abgereist bin. Vielleicht in einem Jahr? Wie weit wird dann wohl Ihre neue Symbolik entwickelt sein? Wie wird es uns dann hier draussen ergehen?»

* Im Zentrum des künstlerischen Universums von Mai-Thu Perret befindet sich ihre fiktive Textsammlung «The Crystal Frontier. A True Life Story», die in Form meist bruchstückhafter Tagebuchauszüge, Briefe, Tagespläne, Notizen, Flugblätter und Liedtexte das Leben der jungen Frauen von New Ponderosa darstellt (Nachzulesen in der Monographie «Mai-Thu Perret: Land of Crystal», Verlag Christoph Keller Editions / JRP-Ringier, 2008).

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