Im Zweifel für den Zweifel
Volker Reinhardt: Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges.
Mit den «Essais» legte Michel de Montaigne (1533–1592) nicht nur das erste gewichtige philosophische Werk vor, das auf Französisch verfasst worden war, sondern begründete ein ganzes Genre. Ausdrücklich dem Ausprobieren verpflichtet, scheuten sich diese «Versuche» nicht, das Werden der eigenen Gedanken festzuhalten, inklusive Abschweifen und überraschender Wendungen. «Alle Welt richtet den Blick aufs Gegenüber, ich jedoch nach innen; dort halte ich ihn dauerhaft beschäftigt. Jeder schaut vor sich, ich in mich. Nur mit mir habe ich es zu tun», heisst es in diesem monumentalen Werk an einer aufschlussreichen Stelle. «Ich beobachte mich ohne Unterlass, prüfe mich, verkoste mich. Die anderen sind stets und ständig anderswohin unterwegs […] Ich hingegen kreise in mir selbst.» Zum Glück! Denn hätte es Montaigne wie alle anderen gemacht und sich in seinen Bibliotheksturm, nicht in sich selbst verkrochen – die Welt wäre um einiges ärmer.
Volker Reinhardt hat nun eine neue Biografie des frühneuzeitlichen Denkers vorgelegt. Während die «Essais» bislang überwiegend wie Wegweiser durch die Ära ihres Urhebers gelesen worden sind, schlägt der Historiker einen umgekehrten Weg ein und deutet sie durch die Geschichte des 16. Jahrhunderts, um zugleich Montaigne «erstmals in seiner ganzen Geschichtlichkeit zu beleuchten», wie Reinhardt einleitend schreibt. Denn: «Ihre intellektuelle Brillanz und Schärfe, ihren unwiderstehlichen Zugriff und ganzen Biss entfalten seine ‹Essais› nur in ihrer polemischen Auseinandersetzung mit dem Geist oder besser Ungeist seiner Zeit.» Dank den detailreichen, kundigen Ausführungen des Biografen wird das 16. Jahrhundert hier wieder lebendig, mit all seinen religionsbedingten Abgründen, politischen Intrigen und sozialen Skurrilitäten – aber auch mit seinen geistigen Lichtblicken, unter denen Montaignes Werk nochmals auf unvergleichliche Weise strahlt. Fast ein halbes Jahrtausend später gibt es noch immer so viel zu denken, dass man das eigene Leben locker über den «Essais» gebeugt verbringen könnte.
Dies liegt mitunter daran, dass Montaigne «nicht nur einige grosse, unumstösslich feststehende Wahrheiten wie das Gebot der Toleranz, das Zerstörungspotenzial der Religion und die Freiheit der Meinungsäusserung verkünden» will, wie Reinhardt hervorhebt, «sondern, noch sehr viel ehrgeiziger, die Methoden der Wahrheitsfindung selbst aufzeigen» möchte. Das macht die «Versuche» zu einer bleibenden Versuchung für alle jene, die aus wissenschaftlichen Gründen der Skepsis verpflichtet sind, aber noch grundsätzlicher für alle, die wissen, dass der Zweifel die Bedingung ist, um sich durch eine Welt zu bewegen, in welcher das Eine-Meinung-Haben zunehmend damit gleichgesetzt wird, im Besitz der Wahrheit zu sein – mit bekannten Folgen, siehe nur den Verfall der öffentlichen Debatten auch aufgrund fortschreitender Unfähigkeit zur Diskussion.
Dass Reinhardts Biografie den Untertitel «Philosophie in Zeiten des Krieges» trägt, gemahnt daran, welchen Gefahren ein Denken ausgesetzt war, das sich allen Konventionen der eigenen Ära zum Trotz der Neuerung verschrieben hat. Dass es hier als eine Art Überlebensphilosophie kenntlich wird, darf als unaufdringliche Lektion für die Gegenwart verstanden werden – zumal Montaignes Erkenntnisse, wie der versierte Biograf zu Recht betont, «bis heute verstören können und gerade dadurch zum selbständigen und vorurteilslosen Denken zwingen».