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Im Zentrum lauert das Nichts

Statt eigene Positionen aufzubauen und zu vertreten, hat sich die politische Mitte in vielen westlichen Ländern dem Opportunismus verschrieben. Und liefert so den Extremen Steilpässe.

Im Zentrum lauert das Nichts
Werbeballone der Mitte-Partei Schweiz beim Sommerparteitag im Juni 2023 in Sursee. Bild: Keystone/Urs Flüeler.

Ständig sprechen wir über bipolare Störungen in unserer Gesellschaft, die Spalten der Magazine bersten von Klagen über linken und rechten Radikalismus, über ungehemmten Kollektivismus und Wokeismus auf der einen, Nationalismus und politische Religion auf der anderen Seite. Sollten wir da nicht einmal über die Mitte sprechen? Liegt das eigentliche Problem vielleicht dort? Fördern mittige Schaukelpolitik und wertfreier Opportunismus indirekt die Radikalen, statt ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen?

Von der Milieu- zur Allerweltspartei

Während ich das schreibe, schauen mich meine beiden Grossväter aus silbergerahmten Schwarzweissfotos ernsthaft und doch milde an. Sie waren der psychologische Anlass, weshalb ich mich mit dem Thema der Mitte befasse.

Meine Grossväter waren als Bäcker- und Bauernsöhne aus katholischen Stammlanden in die Diaspora der Grossstädte eingewandert. Sie haben ihre Werte, Lebensfreude und natürliche Eleganz in die etwas spröde zwinglianische und calvinistische Umgebung mitgebracht, sich dieser aber in wirtschaftlichen und anderen alltäglichen Dingen rasch angepasst. Sie wurden ehrbare Kaufleute und Akademiker und handelten mit Medikamenten, Chemikalien, Bürowaren, Papier. In der Diaspora blieben sie ihrer Religion, aber auch der damit verbundenen politischen Ausrichtung treu. Sie wählten katholisch-konservativ.

Viele Jahre später kam es zum «Big Bang» in der katholischen Parteienlandschaft. Die christlichsozialen und konservativen Flügel der KVP schlossen sich zur KCV zusammen, die sich einige Jahre später in CVP umtaufte und zunehmend christlich-sozialem Gedankengut frönte. In dieser Partei sah sich dann mein Vater nicht mehr vertreten, weil sie zu links geworden war und weitab vom unternehmerischen Alltag politisierte. Er wandte sich dem Freisinn zu.

Die CVP häutete sich mehrmals, warf das Konzept einer katholischen Milieupartei über Bord, fusionierte mit der BDP zu «Die Mitte» und sucht nun die Fusion mit der GLP, um die Wählerbasis zu verbreitern und die Grundlage für einen zweiten Bundesratssitz zu legen. Die inhaltliche Ausrichtung ist dabei verwaschen geworden. Für was die Mitte steht, ist kaum mehr erkennbar. Nicht zuletzt, weil darin Politiker und Politikerinnen Platz haben, die ein Spektrum von eindeutig rechts bis eindeutig links abdecken. Ähnliches kann man bis zu einem gewissen Grad auch von den anderen Parteien der politischen Mitte sagen, der GLP und der FDP.

Viele kleine Geschichten

Diese einzigartige Verwedelung von klaren Positionen ist kein auf die Schweiz beschränktes Phänomen, sondern symptomatisch für alle zentristischen Parteien der westlichen Welt. In den letzten Jahren wurden diese zunehmend durch die Radikalisierung an den Polen bedroht. In vielen Fällen ist aus der Bedrohung ein Waterloo geworden. Macrons Renaissance wurde in den jüngsten Parlamentswahlen förmlich zerrissen, in Deutschland entpuppte sich Merkels lange erfolgreiche Machtpolitik als eine inhaltsleere Scharade, in England wurden die One Nation Tories zwischen links und rechts aufgerieben, und in den USA gelingt es den moderaten Demokraten kaum mehr, eine durchschlagskräftige Politik gegen Trump zu organisieren, weil sie zu viele Kotaus gegenüber ihrem irren linken Flügel machen.

All dies ist als Phänomen nachvollziehbar. Tatsächlich ist es in der modernen Welt mit all ihrer Zerrissenheit nicht einfach, in der Mitte eine klare Position zu definieren, die auch überlebensfähig ist. Das linke wie das rechte Lager erzählen uns einfache Geschichten, die in ihrer Treuherzigkeit, aber auch in ihrer Neigung zum Totalitären ähnlich tönen.

Und was macht die Mitte? Sie erzählt uns keine grosse Geschichte, sondern viele kleine, die sie sich hüben oder drüben ausborgt. Mal ist man in Deutschland gegen Tempolimiten auf der Autobahn und kurz darauf verbietet man Atomkraftwerke. Macron schafft die Vermögenssteuer ab und erhöht im Gegenzug die Benzinabgabe. Die amerikanischen Demokraten setzen innenpolitisch auf linke bis linksradikale Positionen, nur um diese auf der internationalen Bühne mit Realpolitik auszubalancieren. Der Derwisch Boris Johnson wirbelte so wild, dass er im Taumel jegliche Orientierung verlor.

So ist es keine Übertreibung, wenn man das Kernprinzip heutiger Mittepolitik als puren Opportunismus bezeichnet. Man spielt Casino und setzt mal auf Rot und mal auf Schwarz, all dies mit der Hoffnung, dass ein solider Gewinn in Form der anstehenden Wiederwahl winkt. Dies ist wohl der eigentliche Treiber für den Opportunismus der zentristischen Politiker: Sie wollen wiedergewählt werden. Schon vor fünfzig Jahren hat der amerikanische Politikwissenschafter David R. Mayhew die Kongressabgeordneten als «single-minded seekers of reelection» bezeichnet.

Wie anders war das hehre Bild, das Edmund Burke vom idealen Parlamentarier hundert Jahre davor entwarf: Einmal gewählt, solle sich dieser an seiner eigenen Meinung orientieren und nicht an den kurzfristigen Stimmungen seiner Wähler, belehrte er in seiner berühmten Bristoler Rede die Einwohner seines Wahlkreises. Heute hat sich Mayhews Realismus gegen den konservativen Idealismus von Burke wohl definitiv durchgesetzt – dies nur schon deshalb, weil abgewählte Parlamentarier im modernen, hochspezialisierten Arbeitsmarkt etwa so gut zu platzieren sind wie ausrangierte Linienpiloten.

Menschlich ist das alles verständlich, wir alle verlieren ungern einmal erreichte Positionen. Indessen kommt man nicht darum herum, den zentristischen Opportunismus auch durch die normative Brille zu beurteilen. Aus der Moralphilosophie wissen wir, dass der Übergang vom Werterelativismus zum Nihilismus fliessend ist. Was anderes als Werterelativismus ist der in der Mitte praktizierte Opportunismus? Man kann als Politiker all das als «Brücken bauen» oder «konstruktives Zusammenhalten» beschönigen, und dennoch ist es inhaltsleer, weil es nicht auf einem eigenen Wertefundament aufbaut, sondern wahllos Positionen aus einem Bauchladen übernimmt, den andere politische Hausierer gefüllt haben. Der deutsche Philosoph Markus Gabriel bezeichnet solche Politiker als «Nihilisten im politischen Zentrum der sogenannten ‹bürgerlichen Mitte›».

Der «dritte Pol» taugt nichts

In der Praxis hat dieser Nihilismus verheerende Folgen. Da die Mitte zunehmend zu einer Zone der Beliebigkeit wird, ist es für linke und rechte Ideologen ein Leichtes, in dieses Niemandsland hineinzuströmen. Dabei hätte es die Mitte in der Hand, eigene und klare Positionen aufzubauen. Themen, die von den Polparteien nicht oder nur als Feindbilder bearbeitet werden, drängen sich geradezu für zentristische Politiker auf: Schutz des Einzelnen vor der überbordenden Bürokratie und unnötigen Staatseingriffen, gute Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, verantwortungsvolle Finanzpolitik, massvolle, finanzierbare Sozialausgaben und eine Migrationspolitik, die die Beschwerden der Bevölkerung adressiert.

All dies wäre machbar. Friedrich Merz, ein Mittepolitiker, dem man hohe intellektuelle Fähigkeiten und Wertorientierung attestieren kann, versucht das gerade in Deutschland. An anderen Orten sind die Ambitionen etwas unbedarfter. Gerhard ­Pfister hat etwa vom «dritten Pol» gesprochen und macht sich daran, diesen populistisch aufzuladen. Das ist schon rein sprachlich ein Fehlgriff. Es gibt nur zwei Pole, und der «dritte Pol» taugt auch als Metapher nichts. Vermutlich wurde hier der Pol mit dem «Pole» verwechselt, der Stange, an der die Tänzerin balanciert und ihren Hintern mal nach rechts und dann wieder nach links dreht.

Beim Schreiben ist es in meinem Zimmer langsam dunkel geworden. Die Grossväter sehen im fahlen Licht, so scheint es mir plötzlich, recht indigniert auf dieses obszöne Treiben.

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