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Im Wiesengrund geborgen

Christina Viragh liest Spuren menschlichen Daseins

«Im April», der neue Roman der Schweizerin Christina Viragh, ist ein magisches Buch. Scheinbar spielerisch schlägt es einen sinnlich erfahrbaren, poetisch tragfähigen Bogen vom frühen 15. zum frühen 21. Jahrhundert und offenbart, dass die menschliche Natur in ihrer Abgründigkeit weitaus beständiger ist als die Natur, die den Menschen umgibt. Schauplatz von vier parallel erzählten Geschichten ist die «Mattenwiese». Im Mittelalter noch unberührt, sollte sie einem stadtmüden Adligen als Zuflucht «gegen die Geschwätzigkeit» dienen – würde sie sich nicht als Ort rätselhafter Verbrechen erweisen, so erschreckend, dass einige den Leibhaftigen, ja das Weltende nahen sehen.

In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts steht hier das Bauernhaus der Familie Schacher, deren Tragödie sich unter der Fuchtel des gewalttätigen Vaters vollzieht. Deren Ende erleben in den sechziger Jahren das Mädchen Mari und ihr Vater Ferenc mit, die in einem benachbarten Mietshaus wohnen. Sie sind nach der Revolution von 1956 aus Ungarn geflohen, und Mari fürchtet sich weniger vor der aus nächster Nähe beobachteten Gewalt als vor Vertretern der Geheimpolizei und der «Fünften Kolonne». Trost spendet ihr in dieser Situation nicht der oft körperlich, fast immer geistig abwesende Vater, sondern das Lesen – und der eherne Vorsatz, später Schriftstellerin zu werden.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ziehen die Redaktorin Selena und ihr Mann Heinz in dieses Mietshaus an der mittlerweile rundum bebauten Wiese. Die neue Wohnung macht Selena buchstäblich krank, weswegen sie die dunkle Vorgeschichte des Ortes rekonstruieren will. Währenddessen plagen Selenas Mann, einen jungen Rechtsanwalt, andere Sorgen. Er fühlt sich von einem Doppelgänger verfolgt, der ihn sogar mit Drohbriefen zu belästigen scheint. Selbst ein Namenswechsel – von Aurel zu Heinz – und der Umzug bereiten dem Spuk kein Ende. Später wird Heinz/Aurel von einem gegnerischen Anwalt und Hobbyhistoriker erfahren, die Mattenwiese sei in vorchristlicher Zeit eine heidnische Kultstätte gewesen, in deren Boden man kleine Doppelgängerfiguren einzugraben pflegte.

Jede einzelne Figur dieses reichen Romans ist auf unverwechselbare Weise gestaltet. Doppelungen oder Spiegelungen werden durch Symbole und Motive erzeugt, die, mit leichter Hand eingesetzt, die vier Zeitebenen miteinander verknüpfen. So zum Beispiel das sprunghafte Aprilwetter, das in allen Variationen von winterlich verschneit bis hochsommerlich auftritt, oder das Feuer, das gelegt wird, um Spuren verschwinden zu lassen oder im Gegenteil mutmasslich verstecktes Gold sichtbar zu machen. Erhellende Wirkung hat das Feuer indes nur für eine Protagonistin: «Es brennt […] Es kann nicht mehr lange dauern, bis jemand die Feuerwehr ruft. Bis dann bleibe ich da, denkt Mari, so ein schönes Feuer. Warum? Weil, wie sie gute vierzig Jahre später schreiben wird, die Schönheit des Feuers mit radikaler Verwandlung eins ist…»

Das Gefühl einer Bedrohung von aussen – durch den Teufel, durch Krieg oder die Schergen eines verbrecherischen Systems – ist eine Konstante über die Epochen hinweg. Einzig im 21. Jahrhundert bleibt die Bedrohung diffus. Sie findet kaum mehr Gestalt und Benennung, sondern manifestiert sich durch körperliches und seelisches Unbehagen. Fortwährend zeigt sie sich an innerfamiliären Konflikten und Geheimnissen, die im verborgenen ihre zersetzende Wirkung entfalten – zerstrittene Ehepaare, Eltern, die ihre Kinder gleichgültig oder brutal behandeln, Verwandte, Freunde und Nachbarn, die einander misstrauen, bespitzeln und hintergehen. In den schlimmsten Fällen erwachsen daraus Betrug und Mord.

Stehen diese menschlichen Dramen zunächst noch im Kontrast zur Idylle des Ortes – der wuchernd blühenden Wiese, die nach Westen hin in ein schimmerndes Meer zu münden scheint –, nimmt die Natur im Lauf der Zeit ebenso Schaden wie die Seelen der Menschen, am augenfälligsten durch die Bäume, die der zunehmenden Bautätigkeit zum Opfer fallen. Und je denaturierter die Umwelt wird, desto offener tritt die von jeher angelegte Wurzellosigkeit und Entfremdung der Anwohner zutage, eine universal anmutende Unbehaustheit.

Paradoxerweise wird dieser dunkle Kosmos mit einer schwebend leichten, einmalig leuchtenden Sprache heraufbeschworen, die Raum schafft für Zärtlichkeit, Witz und eine leise Zuversicht – und genau darin liegt die Magie dieses Romans. Der Blick, der so tief in die Zeit, in den Raum und in die Herzen der Figuren reicht, verdankt sich – bei aller scharfen Detailgenauigkeit – nicht jenem strategisch plazierten Fernrohr am Fenster einer benachbarten Villa, er hat nichts Lauerndes und Voyeuristisches. Es ist ein Blick, der aus einer so seltenen wie starken Empathie heraus entsteht und sämtliche Sichtbarrieren und Schutzmechanismen durchbricht, die Menschen aufrichten können. Vielleicht ist es Maris Blick. Sie veröffentlicht zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter dem Titel «Alles zeigt sich, wenn man will» einen Roman, der wiederum Selena ins Auge fällt und ihr eine unheimlich-vertraute Geschichte zu erzählen scheint.

Christina Viragh, «Im April». Zürich: Ammann Verlag, 2006.

Patricia Klobusiczky, geboren 1968, übersetzt literarische Werke und arbeitet als freie Lektorin in Berlin.

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