Im Tarnanzug in die EU
Carl Baudenbacher, zvg.

Im Tarnanzug in die EU

Der Bundesrat verbirgt seine wahren europapolitischen Absichten vor dem ­eigenen Volk. Diese Taktik führt er auch nach dem Scheitern des Rahmenabkommens fort.

Das Verb tarnen umschreibt den Vorgang, dass etwas vor dem Erkanntwerden geschützt wird, indem man es verhüllt. Synonyme sind gemäss Duden kaschieren, maskieren, übertünchen, unkenntlich machen. Etwas antiquiert ist das Wort camouflieren. Jedem, der in der Schweiz Militärdienst geleistet hat, ist das Tarnen in Fleisch und Blut übergegangen. Auch wenn die Armee heutzutage klein geworden ist, so scheint der Impetus zum Tarnen ungebrochen zu sein. Er bestimmt seit zehn Jahren auch die Europapolitik des Bundesrates. Anders als im Militär geht es dabei aber nicht um das Verhüllen von etwas vor dem Gegner, sondern vor den eigenen Leuten.

In den 20 Jahren zuvor, ab 1992, hatte man in Bern einen ungetarnten EU-Beitrittskurs verfolgt. Das ging so weit, dass der Bundesrat sechs Monate vor der EWR-Abstimmung mit 4:3 Stimmen ein Gesuch um Aufnahme in die Union stellte. Dass er damit dem EWR als Integrationsmodell für die Schweiz das Genick brach, nahm er in der Begeisterung der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges in Kauf.

Nach dem EWR-Nein von Volk und Ständen vom 6. Dezember 1992 behielt der Bundesrat seinen offenen EU-Beitrittskurs bei. Als Zwischenlösung sollte ein privilegierter Zugang zum EU-Binnenmarkt für die Schweizer Industrie mittels sektorieller bilateraler Abkommen gesichert werden. Das gelang nicht zuletzt deshalb, weil Helvetias Unterhändler ihren EU-Partnern versicherten, dass sich am EU-Beitrittsziel nichts geändert habe. Während das EWR-Abkommen auf einer 2-Pfeiler-Struktur beruht, wobei jeder Pfeiler seine eigene Überwachungsbehörde und seinen eigenen Gerichtshof hat, sind die bilateralen Abkommen mit Ausnahme des Luftverkehrsvertrages institutionenfrei. Konflikte werden in gemischten Ausschüssen, das heisst politisch, gelöst, oder sie bleiben ungelöst.

2001 wurde eine Volksinitiative mit dem Titel «Ja zu Europa», welche die Aufnahme sofortiger Beitrittsverhandlungen forderte, wuchtig abgelehnt. Damit wurde die ungetarnte EU-Beitrittspolitik schwierig. Mitte der 2000er-Jahre kam daher im Schweizer Parlament die Idee auf, anstelle eines EU-Beitritts ein Rahmenabkommen mit der EU abzuschliessen, um ein gemeinsames institutionelles Dach über die bilateralen Abkommen zu spannen. Die EU nahm den Ball auf, und ab 2008 forderte der Europäische Rat alle zwei Jahre die Anerkennung einer supranationalen Überwachung und eines supranationalen Gerichtshofs. Nach einiger Zeit der Berner Ratlosigkeit schlug die EU der Schweiz ein «Andocken» an die EFTA-Überwachungsbehörde (ESA) und an den EFTA-Gerichtshof vor. Die bilateralen Verträge wären diesen beiden Institutionen unterstellt worden, und die Schweiz hätte ein Kollegiumsmitglied in der ESA und einen Richter am EFTA-Gerichtshof stellen können. Beide Organe wären der Schweiz gegenüber neutral gewesen.

«Point of no return»

Im Frühling 2013 lehnte der Bundesrat diesen grosszügigen Vorschlag, bei dem die Schweiz ihren sektoriellen Ansatz hätte beibehalten können, ab. Stattdessen optierte die Regierung für die faktische Überwachung und die gerichtliche Kontrolle durch die Organe der Gegenpartei, die Europäische Kommission und den Europäischen Gerichtshof (EuGH). EU-Diplomaten konnten das kaum fassen. Unter der Regie von Aussenminister Didier Burkhalter und seinem Staatssekretär Yves Rossier startete das EDA eine regelrechte Bullshitkampagne gegen das Andocken an die EFTA und für die Kommission/EuGH-Lösung. Bullshit ist nach der Definition des amerikanischen Moralphilosophen Harry G. Frankfurt eine Rede, die überzeugen will, ohne Rücksicht auf die Wahrheit zu nehmen («speech aimed at persuading without regard to truth»). Die schlimmsten von zahllosen Sottisen waren die Behauptung, der EuGH würde die Schweiz nicht «verurteilen», sondern nur «Gutachten» zuhanden des jeweils zuständigen gemischten Ausschusses abgeben, und der Satz, Urteile des EFTA-Gerichtshofs seien nur für die EFTA-Staaten, nicht aber für die EU-Staaten verbindlich. Mit solchen Antworten würde kein Studierender eine Prüfung im Europarecht bestehen.

Tatsächlich gibt es für die Wahl der nicht neutralen Kommission und des nicht neutralen EuGH nur eine Erklärung: Da man einen EU-Beitritt nicht mehr offen anstreben konnte, sollte ein «point of no return» auf dem Weg in die EU gesetzt werden. Es…