Im spannenden Spagat
Vor kurzem noch hatte die St. Galler Caritas volles Haus. Letztes Jahr aber hätte sie fast ihre Türen schliessen müssen – weil ihr Angebot zum Luxus geworden ist, den sich kaum eine Gemeinde mehr leisten kann. Ein Gespräch über die Wettbewerbsfähigkeit der Nächstenliebe.
Herr Bertschy, Herr Studer, die Caritas hilft Menschen in Not. 2014 ist die Caritas St. Gallen-Appenzell selber in Not geraten. Was ist geschehen?
Bruno Bertschy: Vor einigen Jahren hatte die Caritas St. Gallen-Appenzell eine Vorwärtsstrategie beschlossen und in Personal und Infrastruktur investiert, um verschiedene Angebote in der beruflichen und sozialen Integration auf- und auszubauen. Im Kern besteht diese «qualifizierende Arbeitsintegration» darin, die Leute auf ihrem möglichen Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt umfassend zu begleiten. Nach einem recht guten Start konnten diese Arbeits- und Betreuungsplätze dann aber zusehends weniger ausgelastet werden.
Über den Besuch solcher Programme befinden die lokalen Sozialämter. Haben die Gemeinden also weniger Kandidaten als kalkuliert zu Ihnen geschickt?
Thomas Studer: Richtiggehend eingebrochen sind die Zuweisungen von den Gemeinden, und zwar innert kürzester Zeit: Im Januar 2014 hatten wir volles Haus mit gut 50 belegten Jahresplätzen. Im Herbst waren es noch 18. Sie können sich vorstellen, was das für einen Betrieb bedeutet.
Einen massiven Ertragseinbruch, denn bekanntlich verdienen die Anbieter mit den Betreuungsprogrammplätzen ihr Geld. Wie viel bezahlte die Gemeinde für einen Platz in der Caritas?
Bertschy: Je nach Programm bis zu 1800 Franken pro Monat. Das ist aber nur die eine Seite: Natürlich erreicht man die Budgetierung nicht, wenn weniger Leute kommen als geplant. Auf der anderen Seite kann man mit weniger Leuten aber auch weniger Aufträge annehmen – unsere Leute verrichten einfache gewerbliche Arbeiten – und verzeichnet also auch auf der produktiven Seite tiefere Einnahmen. Dieser doppelte Rückgangsprozess lief über mehrere Jahre; man hat von den Reserven gezehrt, mit Geld gearbeitet, das für spätere Perioden vorgesehen war, und das hat letztlich in einer grossen Schuld geendet.
Es war von einem Defizit von 1,2 Millionen zu lesen. Insofern ist erstaunlich, dass es die St. Galler Caritas überhaupt noch gibt.
Bertschy: Tatsächlich standen wir an einem Punkt, an dem es fast keinen Ausweg mehr gab. Nur dank einem Schuldenschnitt, den der katholische Konfessionsteil der Caritas St. Gallen-Appenzell gewährte, konnten wir weitermachen. Da war dann aber allen klar, dass der Weg geändert werden musste: dass jetzt wirklich etwas passieren musste, damit man nicht wieder in die gleichen Probleme reinschlittert.
Schauen wir, bevor wir über den neuen Weg reden, auf das Umfeld zurück, durch das er führte. Rekapitulieren wir zuerst, was war: Sie sagten, dass Sie 50 Plätze à 1800 Franken im Angebot hatten. Was wurde für diesen Betrag geboten?
Studer: Es geht hier, wie gesagt, ausschliesslich um den Teil der qualifizierenden Arbeitsintegration. Die richtete sich an Menschen, darunter viele Flüchtlinge, die uns vom Sozialdienst zugewiesen wurden – das Amt bezahlte die Programmpauschale von 1800 Franken, und dafür erhielten die Leute bei uns Arbeit, Deutschunterricht und professionelles Coaching. Das heisst: An drei Tagen arbeiteten die Leute in einem gewerblichen Betrieb, einen Tag lang lernten sie Deutsch und an einem Tag erhielten sie Begleitung und Unterstützung in Berufs- und Bewerbungsfragen.
Damit wir das richtig verstehen: Diese Programmpauschale bezahlt die Gemeinde zusätzlich zur wirtschaftlichen Sozialhilfe, die die bei Ihnen arbeitende und lernende Person erhält?
Studer: Die Sozialhilfe hat damit direkt nichts zu tun, die läuft unabhängig davon. Über lange Jahre hinweg war es üblich, dass die Gemeinden in der ganzen Schweiz diesen Zusatz für die Programme einkauften. Natürlich war das Geschäft immer volatil, gewisse Schwankungen gab es auch früher mal. Heute aber ist die Volatilität derart hoch, dass es keine Planungssicherheit mehr gibt – die Gemeinden sind einfach immer weniger bereit, die einst quasi fraglos finanzierten Programmpauschalen zu bezahlen.
Bertschy: In der Regel läuft es heute so: Man macht der Gemeinde ein Angebot. Wenn es nachgefragt wird, ist das gut, und wenn es nicht nachgefragt wird, ist das weniger gut. Entweder kann man als Anbieter dank flexibler Strukturen darauf reagieren, oder man kann das nicht, und entsprechend hat man entweder gar kein oder aber ein ziemlich grosses Problem.
Es ist bekannt, dass die Gemeinden unter Spardruck stehen. Gleichzeitig floriert aber die sogenannte «Sozialindustrie» – Anbieter von «Programmen» scheint es zuhauf zu geben. Sind die knausrigen Gemeinden für Ihre Misere verantwortlich oder hat Ihnen die Konkurrenz die Kundschaft abgejagt?
Bertschy: Die Konstellation vor Ort, die Mitbewerber und die Qualität der Angebote sind die entscheidenden Faktoren. Welche Organisation agiert in welcher Stellung schon wie lange auf dem Markt? Solche Fragen sind zentral und bestimmen die Nachfrage. Anders gesagt: die bestehenden Anbieter kämpfen um einen kleiner werdenden Kuchen, weil die öffentliche Hand auch in diesem Bereich einen Sparbeitrag leisten muss.
Wie viele Programmanbieter gibt es denn beispielsweise auf dem Platz St. Gallen?
Studer: Ungefähr 10. Oft mussten wir feststellen, dass wir als Caritas St. Gallen-Appenzell einfach zu spät kamen, weil verschiedene Organisationen schon spezielle Abkommen mit den Gemeinden hatten. Im ersten Halbjahr 2014 sind wir von Gemeinde zu Gemeinde getingelt und haben versucht, mit fixen Zusagen die Finanzierung zu sichern. Vergebens. Anstelle von Zusagen bekamen wir immer wieder eine Aussage zu hören: Die Programme, die ihr habt, die sind schön und gut, nice to have – aber wir können sie uns nicht mehr leisten. Das Angebot ist gewissermassen zu einem Luxus geworden.
Bertschy: Und das wird es auch bleiben, man darf sich nichts vormachen. Vor 10 Jahren waren die Rahmenbedingungen andere, in der Zwischenzeit hat sich die Lage verändert: Die Zahlen von Betroffenen sind stark gestiegen, Geld aber ist weniger da als zuvor und Mitbewerber gibt es zusätzliche. Insofern ist klar, dass der Spardruck weitergehen wird. Weiterhin werden die zuweisenden Stellen sicher auch sagen, dass die Integrationsprogramme eine richtige und wichtige Sache seien. Aber wer soll sie bezahlen?
Gibt es denn auch empirische Belege für die «gute Sache»? Welche Erfolgsbilanz weisen diese zuweilen doch recht kostspieligen Programme auf oder anders gefragt: Wie viele Personen konnte die Caritas St. Gallen im Schnitt wieder in den Arbeitsmarkt integrieren?
Studer: Der Durchschnittswert der letzten paar Jahre lag bei rund einem Drittel. Das ist eine ziemlich gute Zahl – wobei nicht alle einen festen Job fanden. Wir sprechen auch von «Anschlusslösungen». Das sind Praktikums- oder Ausbildungsplätze, nicht richtige Stellen. Viele der Menschen, die zu uns kommen, haben verschiedenste Schwierigkeiten: Sie sind verschuldet, haben Alkoholprobleme oder – etwa als Flüchtlinge – Mühe, unsere Arbeitswelt nur schon zu verstehen. Hier sind die Bemühungen eher darauf ausgerichtet, an einfachen Dingen wie Pünktlichkeit oder Zuverlässigkeit zu arbeiten. Das heisst: die Leute nur schon dazu zu bringen, am Morgen regelmässig bei uns zu erscheinen.
Wollen die denn das überhaupt?
Bertschy: Diese Frage rührt an ein Kernproblem unserer Armutsthematik. Je stärker man von Armut betroffen ist, desto tiefer sinken Wahlfreiheit und Selbstbestimmungsgrad. Ab einem gewissen Punkt sagt man nicht mehr selber, was man will und nicht will, sondern bekommt gesagt, was man machen soll. In Einzelfällen kommt es vor, dass einer von sich aus kommt und sagt: Ich würde gerne hier arbeiten und in das Programm einsteigen. In der Regel geschieht das aber nicht freiwillig. Vielmehr weist der jeweilige Sozialarbeiter seinen Klienten an, sich bei uns zu melden – um seinen Beitrag zur Integration zu leisten.
Wie gehen Sie dabei mit Konflikten um, wenn jemand nicht mitmachen will?
Bertschy: Es gibt Spielregeln, und die werden auch kommuniziert. Wenn man beispielsweise dreimal unentschuldigt fehlt, ist auch unsere Geduld vorbei. Gleichzeitig sind unsere Sanktionsmöglichkeiten eingeschränkt. Nur in Extremsituationen, etwa bei Tätlichkeiten, kann gekündigt werden. Werden die Spielregeln nicht eingehalten, arbeiten wir zusammen an Verbesserungen. Auch das ist ein Element, um die Arbeitsmarktfähigkeit zu steigern. Reissen alle Stricke, entscheidet die zuweisende Stelle über das weitere Vorgehen.
Studer: Es ist das Sozialhilfegesetz, das die Dinge so festgelegt. Man kann von diesem Zwang halten, was man will, aber er ist die Realität, in der wir uns befinden. Spielregeln gelten immer für zwei Seiten.
Bertschy: Wobei die Schweiz 26 verschiedene kantonale Sozialhilfegesetze und entsprechend auch recht unterschiedliche Haltungen hat. Während man an einem Ort erst einen Monat im Wald arbeiten muss, um zu beweisen, dass man Sozialhilfe «verdient», ist am anderen Ort das Zwangselement eher weniger ausgeprägt.
Amtlicher Zwang und karitative Nächstenliebe – eine nicht sehr wohlklingende Kombination.
Bertschy: Wir können nicht verhehlen, dass wir einen Grat begehen. Wir werden deswegen auch gehörig kritisiert. Es gibt Organisationen, die uns vorwerfen, Sklavenarbeit zu fördern. Ja – aber man darf die Rahmenbedingungen nicht vergessen, in denen wir uns bewegen. Man muss versuchen, innerhalb von dem, was man hat, das Beste zu machen.
Studer: Wir sind der Überzeugung, dass unser Angebot den Leuten sehr viel bringt. Man erlebt das immer wieder: Es sind schöne Erfolgserlebnisse, wenn man z.B. sieht, wie jemand aufblüht, bei uns eine Tagesstruktur findet oder sich mit einem Arbeitsvertrag in der Hand verabschiedet.
Bertschy: Die Herausforderung besteht darin, den Menschen die passende Unterstützung zukommen zu lassen – denn nicht alle brauchen die gleiche Art von Arbeit und Betreuung. Das heisst: eigentlich gibt es weder falsche noch richtige Zuweisungen, und auch weder richtige noch falsche Anbieter. So verschieden, wie die Menschen sind, so individuell müsste eigentlich auch die Begleitung sein. Nur kann oder will das niemand mehr bezahlen.
Eben: de facto geht die Reise gerade bei der Caritas St. Gallen in die entgegengesetzte Richtung. Nach den finanziellen Turbulenzen haben Sie eine enge Kooperation mit der Dock-Gruppe beschlossen und nun grossmehrheitlich Plätze im Angebot, die nur noch Arbeit und kein Coaching mehr beinhalten. Haben Sie damit einen eigentlichen Paradigmenwechsel vollzogen und sich vom Sozialprogramm zur Sozialfirma gewandelt?
Studer: Das Dock-Modell ist ein schlankes und günstiges Angebot und wird deshalb von den Gemeinden stärker nachgefragt, das ist unbestritten. Natürlich sind mit der Übernahme dieses Konzepts unsere Möglichkeiten nicht mehr dieselben, auf die Belastungen und Probleme der Leute einzugehen.
Bertschy: Dass wir einen Wandel vollziehen, ist richtig und nötig. Nur kleine Anpassungen am Angebot hätten das Hauptproblem «Auslastung – Kostendeckung» nicht gelöst. Es ist jedoch nicht so, dass wir mit dem Dock-Modell keine sogenannte «Betreuung» mehr haben. Sie ist aber gezielter auf die Nachfrage ausgerichtet und wird dort geleistet, wo sie benötigt wird. Dies betrifft den Hauptteil unseres Angebots. Für eine gewisse Zielgruppe besteht jedoch nach wie vor ein Bedarf nach individuellem Coaching. Deshalb haben wir das bisherige Angebot nicht einfach liquidiert, sondern bieten eine reduzierte Anzahl solcher Einsatzplätze weiterhin an; besetzt sind zurzeit 17.
Überspitzt gesagt, haben Sie das kleinere Übel gewählt: Anstatt das Geschäft zu schliessen, haben Sie es lieber am Markt ausgerichtet.
Studer: Nein, vom kleineren Übel würde ich überhaupt nicht reden! Wir haben 2014 verschiedene Szenarien geprüft, und letztlich waren es positive Gründe, die uns zum Dock-Modell geführt haben. Wir sind uns von der inhaltlichen Ausrichtung her sehr nah; beide haben wir gewerbliche Dienstleistungen – einfache handwerkliche Aufgaben etwa im Bau oder in der Reinigung – angeboten. Wir waren gewissermassen im gleichen Segment, aber mit anderen Kunden tätig, und da schien es uns sinnvoll, die Bestände zusammenzulegen und zu schauen, wie weit wir gemeinsam kommen. Weiterhin können wir mit dieser Form von Arbeitsintegration Perspektiven bieten, denn gerade im gewerblichen Bereich besteht eine gewisse Durchlässigkeit. Die Leute sind draussen, arbeiten in Gärten oder auf Baustellen – zwar in einer Art Schonraum, der Schwächen toleriert, aber doch nahe am ersten Arbeitsmarkt ist.
Dennoch ist nicht eben selbstverständlich, dass die Hilfsorganisation der katholischen Kirche auf ein unternehmerisches Modell setzt. Wie wirkt sich dieser Entscheid auf Identität und Image der Caritas St. Gallen aus?
Studer: Wenn wir nun nur noch als Sozialfirma bestünden, müsste man sich sicher fragen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Gerade deshalb haben wir ja aber alles darangesetzt, auch den betreuten Programmteil zu behalten – wenn auch in reduziertem Umfang.
Bertschy: Das Einfachste wäre gewesen, wir hätten diesen risikobehafteten Teil gekappt. Gerade wegen unseren Werten haben wir das nicht getan. Wir wollen weiterhin einen Beitrag zur Integration leisten und versuchen das jetzt auf diese Weise. Zu Ihrer Frage zum Image – nun, es beweist ziemlich viel Unkenntnis, wer meint, dass soziale Organisationen nicht unternehmerisch unterwegs seien. Sehen Sie sich die Caritas an: Wenn hier neue Tochtergesellschaften gegründet werden, sind das Aktiengesellschaften. Ohne Wenn und Aber. Unsere Betriebe arbeiten mit Vollkostenrechnungen und sind, ökonomisch durchorganisiert, darauf ausgerichtet, Gewinn abzuwerfen, um wiederum in soziale Anliegen investieren zu können. Wenn Sie unsere neue Fünfjahresstrategie lesen, finden Sie darin wiederholt und deutlich Begriffe wie «Marketing» und «Wettbewerbsfähigkeit». Kurz: wie die meisten «Sozialen» operiert die Caritas längst und viel auf Märkten, auf denen das wirtschaftlich günstigste Angebot den Zuschlag erhält.
Das ist aus Sicht der öffentlichen Hand durchaus zu begrüssen – solange das günstigste auch ein qualitativ überzeugendes Angebot ist. Im St. Galler Labor versuchen Sie doch, ebendiese Dinge zu mischen: Ist das eine spannende Herausforderung oder ein zerreissender Spagat?
Bertschy: Ich würde sagen: ein spannender Spagat.
Studer: Ganz grundsätzlich gilt: Wenn man die Leistungen überall abbaut, löst man damit vielleicht ein finanzielles Problem, nicht aber die Frage, was mit den betroffenen Leuten passiert. Die sind ja nach wie vor da – in steigender Zahl – und können nicht weggespart werden.
Bertschy: Wenn wir die Langzeitarbeitslosigkeit beobachten, sehen wir, dass diese unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung stetig zunimmt. Das ist ein wachsendes Problem, welches auch bei uns in der Schweiz mehr und mehr an die Oberfläche tritt. Wir kennen das aus anderen europäischen Ländern, in denen soziale Unruhen zunehmen. Wenn sich eine Gesellschaft dazu entschliesst, die Schwächeren weniger zu stützen, werden wir irgendwann einen Preis an dieser Stelle zu bezahlen haben.