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Im Schnellzug zum Fortschritt
Clemens Fässler, fotografiert von Hanna Wenger.

Im Schnellzug zum Fortschritt

Der heutige Wohlstand lässt vergessen, dass die Schweiz vor 1848 enormen Aufholbedarf hatte. Es war die Eisenbahn, die aus der Armut und in die Freiheit führte.

Das Jahr 1848 ist ein Wendepunkt in der Schweizer Geschichte: Er trennt gleichsam das damalige Armenhaus Europas von einer der führenden Indus­trienationen, als welche die Schweiz um 1900 auf dem ­europäischen Kontinent galt. Wer aber den fulminanten Aufstieg der Schweizer Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstehen will, darf die Bundesstaatsgründung von 1848 nicht als ein singuläres Ereignis betrachten. Denn die wirtschaftlichen Grundlagen für den Wandel wurden zu einem massgebenden Teil in den Jahrzehnten davor gelegt, während entscheidende wirtschaftspolitische Weichenstellungen erst nach 1848 vorgenommen wurden.

Im 18. Jahrhundert etablierte sich in weiten Teilen von der Nordwest- bis zur Ostschweiz die Textilindustrie. Das sogenannte Verlagssystem brachte entscheidende Voraussetzungen für die spätere Industrialisierung mit sich: Erstens formte sich eine Arbeiterschaft heraus, die mit der Lohnarbeit vertraut war und ein Reservoir an Arbeitskräften bildete. Zweitens etablierten sich Handelsbeziehungen, die die Schweiz stärker mit dem Weltmarkt verbanden. Ende des 18. Jahrhunderts, als die Baumwolle die anderen Textilien verdrängte, war die Schweiz nach dem britischen Lancashire zum zweitwichtigsten Standort der Baumwollindustrie Europas aufgestiegen. Und das, obwohl sämtliche Baumwolle von den Meereshäfen mühsam über Fluss- und Landwege in die entlegenen Täler der Schweiz und von dort wieder ins Ausland transportiert werden musste. Denn der hiesige Binnenmarkt war marginal.

Von der Textil- zur Maschinenindustrie

Die Textilindustrie beförderte den Maschinenbau, wie die 1805 gegründete Firma Escher, Wyss & Cie. in Zürich oder die 1834 gegründete Baumwollweberei von Caspar Honegger in Siebnen (später Rüti ZH) zeigen lässt. Sie begannen jeweils als Spinnerei oder Weberei und richteten nach einigen Jahren eine eigene Reparaturwerkstätte ein. Bald schon folgte der Bau von Textilmaschinen, zunächst für den Eigengebrauch, dann für den Verkauf. Aber auch die chemische Industrie verzeichnete dank der Textilindustrie eine steigende Nachfrage nach Säuren und Sulfaten, wie sich am Beispiel der 1818 von den Gebrüdern Schnorf gegründeten Chemischen Fabrik Uetikon, eines der ältesten Industrieunternehmen der Schweiz, zeigen lässt. Um 1830 fand der Übergang von den Maschinenwerkstätten zu einer eigentlichen Maschinenindustrie mit eigenständigen Unternehmen statt. Diese Entwicklung fiel mit der Epoche der Regeneration zusammen, in der in elf Kantonen liberale Verfassungsrevisionen umgesetzt wurden. Diese Handels- und Niederlassungsfreiheiten innerhalb der Kantone, Abbau bzw. Vereinheitlichung von Zöllen oder der Ausbau der Strassen zielten auf eine Wirtschaftsförderung ab. Trotzdem: Der Handel war aufgrund der kantonalen Grenzen und Souveränitäten stark eingeschränkt. Die Schweiz war am Vorabend des Sonderbundskrieges immer noch ein rückständiges Land. Bestes Beispiel dafür war der Bau der Eisenbahnen. Eisenbahnpläne gab es anderenorts zwar bereits in den 1830er-Jahren. Der St. Galler Staatsmann Gallus Jakob Baumgartner propagierte gar eine internationale Eisenbahnverbindung von Deutschland über den Lukmanier nach Italien. Doch die einzige Strecke, die im alten Staatenbund umgesetzt wurde, war die Spanisch-Brötli-Bahn, die ab 1847 Zürich mit Baden verband.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die wirtschaftliche Entwicklung, die nach einer ausgeprägten Protoindustrialisierung auch verschiedene Schritte der Industrialisierung aufzeigte, von einem engen Korsett aus kantonalen Zöllen und Währungen ausgebremst wurde. Für liberale Politiker war sie ein Hauptgrund für die angestrebte Bundesrevision. Und in der Tat schaffte die Bundesverfassung von 1848 den entscheidenden wirtschaftspolitischen Befreiungsschlag. Denn die Etablierung eines einheitlichen Wirtschaftsraums ohne Binnenzölle und Spezialsteuern bildete einen Hauptteil des Verfassungswerks. Mit detaillierten Bestimmungen wurden die ehemaligen Kantonsbefugnisse dem Bund übertragen, wobei eine ebenso detaillierte Ausfallentschädigung für die Kantone eine Grundbedingung für den Erfolg der Verfassungsabstimmung war.

Neben diesen handelsspezifischen Rahmenbedingungen äussert sich die Bundesverfassung in Artikel 21 auch zur aktiven Rolle des Staates in der Wirtschaft – jedoch nicht ausführlich, sondern zurückhaltend und vage: «Dem Bunde steht das Recht zu, im Interesse der Eidgenossenschaft oder eines grossen Theiles derselben, auf Kosten der Eidgenossenschaft öffentliche Werke zu errichten oder die Errichtung derselben zu unterstützen.» Diese wirtschaftliche Passivität des Bundes ist nach dem einheitlichen Wirtschaftsraum die zweite Zutat im Erfolgsrezept Schweiz. Der Hintergrund war aber nicht nur die wirtschaftsliberale Einstellung der Verfassungsväter, sondern auch die Unmöglichkeit, über weitergehende Bestimmungen einen politischen Konsens zu finden. Dies galt übrigens auch für die Wahl des Münzfusses und die Errichtung einer eidgenössischen Universität, deren Festlegung der späteren Bundesgesetzgebung überlassen wurde.

Damit wird deutlich, was auch mit Blick auf die föderale Staatsorganisation unverkennbar ist: Radikale Forderungen nach einer revolutionären Umgestaltung der Schweiz ohne Rücksicht auf Minderheiten setzten sich nicht durch. Ihre Vertreter, wie etwa Alfred Escher, blieben letztlich ungehört oder sie hatten sich selber gemässigt, wie Ulrich Ochsenbein. Durchgesetzt hatte sich aber der liberale Grundkonsens. Und so prägte die Zurückhaltung des Staates in wirtschaftlichen Bereichen die folgenden Jahrzehnte und bildete eine Grundlage für den ökonomischen Erfolg.

«Die Zurückhaltung des Bundes bei der Wirtschaft und der einheitliche Wirtschaftsraum waren die zwei Zutaten im Erfolgsrezept Schweiz.»

Privater Eisenbahnbau als Jahrhundertentscheid

Den wichtigsten Entscheid in diesem Zusammenhang bildete die Verabschiedung des Eisenbahngesetzes im Juli 1852. Der Bau der Eisenbahnen wurde damit privaten Unternehmern überlassen, während die Kantone für die Konzessionierung der Strecken zuständig wurden. Der Bund hatte nur die Möglichkeit, seine Konzession aus militärischen Gründen zu verweigern. Dieser Jahrhundertentscheid befeuerte die wirtschaftliche Entwicklung in ungeahntem Masse. Innert Jahresfrist wurden sieben Eisenbahngesellschaften gegründet, die sich in den kommenden Jahren einen Wettlauf um Streckenkilometer und lu­krative Verbindungen lieferten, so dass nach nur acht Jahren bereits 800 Kilometer Schiene verlegt waren und eine durchgehende Schienenverbindung von Genf bis nach Chur existierte.

Die Eisenbahn wurde zur Lokomotive des Fortschritts. Nicht nur der Handel erfuhr einen enormen Aufschwung, sondern auch die Maschinen und die Lebensmittelindus­trie, das Kreditwesen und die Versicherungsbranche, die Ingenieurswissenschaften und schliesslich der Tourismus, siehe die 1853 in Neuhausen am Rheinfall gegründete Schweizerische Waggon-Fabrik (später SIG), die Anglo-Swiss Condensed Milk Co. in Cham (1866, heute Nestlé), die Schweizerische Kreditanstalt (1856, spätere Credit Suisse), die Allg. Versicherungs-Gesellschaft Helvetia (1858, heute Helvetia) oder die Eröffnung des Eidgenössischen Polytechnikums (1855, heute ETH). Alexander Seiler I. und Johannes Badrutt wiederum setzen in Zermatt und in St. Moritz Grundsteine für erfolgreiche Hoteldynastien.

Diese erste Phase des Aufbruchs dauerte bis in die frühen 1870er-Jahre. Die Bundesverfassung von 1874 mit neuen direktdemokratischen Elementen markiert das Ende dieses ausgeprägten Wirtschaftsliberalismus. Die demokratische Bewegung kritisierte ab den 1860er-Jahren das ausgeprägt liberale System mit seiner starken, bisweilen fast allmächtigen Elite. Wachsende wirtschaftliche Ungleichheit, die Krisenjahre und die Seuchen, wie die Choleraepidemie 1867 in Zürich, sorgten für zusätzlichen Unmut und befeuerten die Forderung nach mehr demokratischer Teilhabe und einer stärkeren staatlichen Kontrolle der Wirtschaft. Der Erfolg des wirtschaftsliberalen Aufbruchs war aber trotz Verfassungsrevision nachhaltig. Eindrückliches Beispiel bilden die damals gegründeten Unternehmen: Fast die Hälfte der Unternehmen des Swiss Market Index hat ihren Ursprung in der wirtschaftsliberalen Ära von 1848 bis 1874.

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